Walter Wosp

ASIA B-C


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ihm, wie super die Betreuung hier ist, dass ich schon die Zehen des linken Fußes bewegen kann, am Vormittag ein Blatt Papier halten konnte, mit der FREIZEIT, ich deute auf das Nachtkästchen, noch Schwierigkeiten habe, weil sie mir zu schwer ist. Er schaut mich an, ich begreife, dass er nicht weiß, ob ich Spaß mache oder ob das ernst gemeint ist.

      Wir wechseln das Thema. Ich erzähle ihm vom Rechtsanwalt und dass ich mir jetzt auf Versicherungskosten den neuesten Laptop kaufen werde.

      »Na ja, wer weiß, wofür das Ganze noch gut ist.«

      Ich bin leider viel zu schwach, um ihm an die Gurgel zu springen und ihn zu erwürgen. Ich liege in der Intensivstation, kann mich nicht bewegen, spüre meine Beine nicht, bekomme Schmerzmittel, damit ich nicht schreie, habe einen Schlauch im Bauch, kann nicht selbstständig scheißen, und er fragt sich, ob das alles nicht doch für etwas gut ist.

      Ich schaue ihn lange an, dann sage ich, dass ich sehr müde bin und bitte ihn zu gehen.

      Ich bitte Manuela, mir die FREIZEIT zu geben und den Kopfteil des Bettes hochzufahren, bis ich fast aufrecht sitze. Sie legt mir die Zeitung aufs Bett und schlägt die erste Seite auf. Werbung. Ich blättere um, das heißt, ich versuche umzublättern. Ich greife mit der linken Hand zur rechten Seite des Magazins und versuche die Seite zu wenden. Der Versuch gelingt aufs erste Mal mit einem kleinen Fehler, ich habe nicht eine Seite erwischt, sondern zirka 20. Ich lasse wieder los, das Magazin klappt zusammen, ich sehe wieder das Titelbild. Zweiter Versuch, diesmal mit der rechten Hand. Ich versuche das Titelblatt zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen, merke aber sofort, dass die Feinmotorik völlig außer Kraft gesetzt ist. Ich kann nur das ganze Magazin nehmen, keine einzelne Seite. Ich drehe die FREIZEIT probeweise um, das geht, ich kann das Heft auch wieder zurückdrehen. Also, ein neuer Versuch mit der linken Hand. Ich versuche das Titelblatt zu nehmen, erwische aber wieder einige Seiten mehr. Ich befeuchte mit der Zunge die Spitze des Zeigefingers und des Daumens und versuche es wieder. Mit dem feuchten Zeigefinger kann ich das Titelblatt etwas zur Seite schieben, es hebt sich hoch, ich kann mit dem Daumen unter die Seite greifen und umblättern, geschafft. Ich sehe wieder die Werbeseite, aber jetzt weiß ich, wie es geht. Ich lasse los, will die nächste Seite umblättern, durch die Spannung des Heftes klappt die Titelseite wieder zurück, das Heft ist wieder geschlossen. Ich will das Heft vor Zorn gegen die Wand schleudern, wische es mit der rechten Hand und dem rechten Unterarm zur Seite, es rutscht aber nur bis zum Bettrand, ich bin sogar zu schwach für einen richtigen Tobsuchtsanfall, es reicht nur zu einem Schweißausbruch.

      Manuela gibt mir etwas zu trinken, sagt, dass ich den ganzen Nachmittag Zeit habe, nur Geduld. Ich glaube, dass beim Wort »Geduld« der Schweißausbruch stärker wird. Manuela legt mir das Heft wieder auf den Bauch, ich befeuchte die Finger und blättere das Titelblatt um, es geht aufs erste Mal. Na bitte. Jetzt aber schnell, ich lasse die linke Faust auf dem aufgeschlagenen Titelblatt liegen und streiche mit der rechten über den Falz in der Mitte. Langsam lasse ich die linke Hand zur Seite gleiten, das Blatt hält, ich sehe wieder die Doppelseite mit der Werbung. Was wären die großen Erfolge ohne die kleinen. Ich blättere die nächste Seite um, komme auf die Inhaltsangabe, rechte Faust über den Falz, umblättern, es erscheint die Doppelseite des Reiseberichts, rechte Faust über den Falz, links vorsichtig loslassen, es hält, ich habe das System gefunden, nicht so schlecht, ich kann mit 56 Jahren Zeitschriftenseiten ohne gröberen Unfall umblättern, der Geist ist stärker als die Materie.

      Das Lesen mit dem liegenden Magazin ist etwas anstrengend, ich muss auch den Kopf nach vorne beugen um gut zu lesen können, die Haltung ist anstrengend, die Halskrause ist im Weg, ich befürchte, dass ich eine Nackenzerrung bekomme. Ich nehme das Heft, mit beiden Händen, hebe es hoch, so, dass ich den Kopf wieder aufs Bett legen kann. Das Heft fällt mir aus der rechten Hand, ich will es fangen, es rutscht aus der linken Hand, fällt auf die Bettdecke, klappt zusammen, zurück zum Start. Ich brauche schließlich für ein Magazin, das ich normalerweise in rund 20 Minuten gelesen habe, fünf Tage, nur Geduld.

      Werner kommt wieder vorbei, diesmal hat er seine Freundin mit. Seiner Mutter geht es besser, danke der Nachfrage, seine Freundin erzählt mir, dass ihre Mutter vor vier Jahren einen Autounfall hatte, sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen bei den Rippen, nach ein paar Wochen war aber alles wieder in Ordnung. Ich sage, dass mich das freut, auch wenn ich ihre Mutter nicht kenne, bin aber jetzt wirklich müde, vielleicht können sie jetzt gehen, sie sind aber jederzeit wieder willkommen.

      Julia kommt, sie hat eine Freundin, Elisabeth, mitgenommen, wie geht es, danke gut, und so weiter. Dann erzählt Elisabeth von ihrem Schi Unfall, den sie vor ein paar Jahren hatte. Sie hat sich das Sprunggelenk des rechten Beines gebrochen, schildert mir im Detail, wie sie im Schnee gelegen ist, im Akja zur Talstation gebracht wurde, von dort mit der Rettung ins Spital, dort musste sie fast eine halbe Stunde warten, bis sich endlich, endlich jemand um sie kümmerte, bla, bla, bla. Heute ist alles wieder gut verheilt, aber bei jedem Wetterwechsel spürt sie die Verletzung. Es tut nicht wirklich weh, so, dass man schreien müsste, aber sie spürt es doch manchmal und bla, bla, bla. Ich will nicht die übliche praktische Müdigkeit vortäuschen, weil ich fürchte, dass dann auch Julia mit ihr gehen wird, lasse sie also weiter blablablahen.

      Dann kommt mir aber die geniale Idee. Blitzschnell nutze ich eine Pause, in der sie Luft holen muss.

      »Willst du mit mir tauschen?«

      Sie schaut mich ratlos an, weiß nicht genau, wie ich das meine, weiß, glaube ich, noch weniger, was sie darauf antworten soll. Schließlich ringt sie sich ein »Nein, will ich eigentlich nicht« ab, und damit ist die Sache, aber nicht das Gespräch erledigt, wir wechseln das Thema.

      Heute weiß ich, das ausnahmslos jede und jeder, mit dem ich in Kontakt gekommen bin, über Verletzungen oder Krankheiten, die er oder sie, oder zumindest nahe Verwandte hatten, erzählt haben. Ich habe alles gehört, von Hammerzehen über Tinnitus bis zum Krebs der, kein Scherz, Schwiegermutter. Je nach Naheverhältnis und meinem geistigen und emotionalen Zustand dauert es dann zwischen drei und 15 Minuten, bis ich das Killerargument einsetze.

      »Willst du mit mir tauschen?« ein Satz, der sofort zum Ende der Schilderung jeder Krankengeschichte führt.

      Gisela macht mit den Übungen weiter, dazwischen knetet sie meine Beine, Füße und Finger durch. Sie erzählt mir, dass sie gestern im Wienerwald joggen war, sie geht jeden Tag laufen, das braucht sie als Ausgleich zu ihrem Job. Sie bemerkt, dass ich gute Fortschritte mache, ich sage, dass ich eh Gas geben muss, ich werde doch heuer in New York laufen, vielleicht kann ich ja bald mit ihr gemeinsam trainieren. Gisela antwortet diesmal nichts.

      Julia ist wieder da. Ich sage ihr, dass der Sumogürtel nur noch geschätzte sechs Zentimeter dick ist, er ist zwar immer noch so hoch wie am Anfang und auch noch so heiß und schmerzhaft, aber immerhin, er wird dünner. Sie ist sich sicher, dass er irgendwann ganz weg sein wird. Sie hat mir mein Handy mitgebracht, beklebt mit je drei Schaumstoffstückchen an den Seiten.

      »Dann kannst du es besser halten.«

      Meine Frau denkt an alles. Ich versuche zu wählen, scheitere aber, weil ich mit dem Finger der rechten Hand zu wenig Druck ausüben und die Wahltasten nicht drücken kann. Immerhin kann ich das Telefon aber zum Kopf halten, wenn jemand anruft. Es muss eben eine Pflegerin den Anrufknopf drücken.

      Nach diesem Experiment massiert sie wieder meine Beine, Füße und Zehen, wir machen den Zehentest und glauben beide, dass sich der rechte Fuß und die Zehen schon etwas besser bewegen. Die Schmerzen in den Unterarmen und an den Handkanten werden stärker, ich versuche den Knopf, der die Pflegerin holt, wie gewohnt, mit meinem Unterarm zu drücken. Die Schmerzen sind aber so groß, dass ich beim ersten Kontakt sofort zurückzucke. Ich bitte Julia, eine Schwester zu rufen.

      »Probier es doch einmal mit den Fingern.«

      »Hmmm ...«, sage ich zweifelnd.

      »Probier es ganz einfach. Du schaffst es«, fordert sie mich heraus und massiert weiter meine Beine.

      Ich versuche mit dem linken Zeigefinger den Knopf des Tasters zu drücken, halte die Fingerspitze an den Knopf, es schmerzt etwas, ist aber auszuhalten. Ich drücke, der Finger rutscht ab, zweiter Versuch, dritter