Walter Wosp

ASIA B-C


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bin ich längst zu Hause.‹

      Gisela legt mich wieder nieder, fragt, ob ich müde bin oder schwindlig, ich verneine.

      »Dann können wir ja etwas Neues ausprobieren.«

      Sie reißt ein Blatt Papier von einem Block, einem DIN A4 Block, hält mir das Blatt hin und bittet mich, es zwischen den Daumen und den Zeigefinger der linken Hand zu nehmen und festzuhalten. Ich schaue sie ungläubig an, spiele aber mit. Ich nehme das Blatt und halte es, sie freut sich, ich verstehe nicht ganz, warum, freue mich aber, dass sie sich freut.

      »Und jetzt noch einmal mit der rechten Hand.«

      Ich nehme das Papier mit der rechten Hand, lasse mit der linken Hand los, das Blatt Papier rutscht zwischen Daumen und Zeigefinger durch und fällt auf die Bettdecke. Ich schaue sie ungläubig an.

      »Bin ich plötzlich so ungeschickt?«

      »Sicher nicht, aber ich fürchte, Sie sind ganz einfach zu schwach um es zu halten.«

      Ich bin zu schwach um ein Blatt Papier zu halten, das kann nicht sein. Ich versuche, das Blatt wieder zu nehmen, schiebe den Daumen zwischen Decke und Papier, es ist jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt. Jetzt aber! Ich hebe die Hand, na bitte, geht doch, das Blatt hebt sich parallel zur Bettdecke. Gisela sagt, dass ich die Hand drehen soll, so, dass das Blatt senkrecht steht. Ich drücke Daumen und Zeigefinger so fest wie möglich zusammen und drehe das Handgelenk, das Blatt fällt wieder aufs Bett. Ich bin fassungslos, ich bin wirklich zu schwach um ein Blatt Papier zu halten. Ich bitte Gisela, dass sie mir das Blatt noch einmal gibt, ich kann es zum dritten Mal nicht halten.

      »Geduld, Geduld«, sagt Gisela. »Mit der linken Hand geht es ja schon. Mit der rechten eben noch nicht.«

      »Noch nicht«, sage ich und probiere es erfolglos zum vierten Mal.

      Später am Vormittag geht die Tür zu meinem Zimmer auf, ein alter Freund kommt rein. Werner sagt, dass er soeben meine Frau getroffen hat und erfahren hat, dass ich in der Intensivstation liege. Er hat seine Mutter besucht, die im selben Spital liegt, weil sie sich den Fuß gebrochen hat. Er erzählt mir gefühlte 15 Minuten, wie schlecht es seiner Mutter geht, ich bin müde, glaube aber, dass ich trotzdem Interesse vortäusche. Werner ist mit dem Lamento über seine Mutter fertig, wünscht mir gute Besserung und verabschiedet sich.

      Ich habe wieder entsetzliche Schmerzen an den Außenseiten meiner Unterarme und den Handkanten. Ich versuche sie zu unterdrücken, gebe aber schließlich auf und rufe nach Manuela. Sie gibt mir ein Schmerzmittel, ich schlafe ein.

      Kleine grün gekleidete Männchen fahren mit kleinen gelben Caterpillarn durch das Nervengeflecht in meinem Rückenmark und schieben kleine schwarze Brocken, ich glaube, es sind abgestorbene Nervenfasern, zur Seite. Ich schaue fasziniert zu. Kleine rot gekleidete Männchen schaufeln diese schwarzen Brocken irgendwo in einen Abgrund. Es erscheinen weiß gekleidete Männchen, die meine Nerven zusammenfügen. Ich kann nicht genau sehen wie sie es machen, ob sie die Nerven nähen, löten oder Knoten machen, letztendlich ist auch egal, wichtig ist, dass sich wer um sie kümmert und sie repariert. Es ist lustig zuzusehen.

      Ich werde wach und erzähle Manuela von meinem Traum. Sie lacht und sagt, dass das ein gutes Zeichen sei, meine Selbstheilungskräfte sind aktiviert, ich habe sie visualisiert und soll versuchen, das so oft wie möglich zu wiederholen, nur Geduld, es wird schon werden.

      Abends bekomme ich wieder Medikamente gegen die Schmerzen. Im Halbschlaf versuche ich wieder, meinen Reparaturtrupp zu aktivieren. Und tatsächlich: Ich sehe wie meine kleinen Arbeiter in meinem Nervengeflecht herumwuseln. Es sind schon weniger schwarze Klumpen zu sehen, die Jungs machen ihre Arbeit gut. Ich versuche die Caterpillarfahrer zu lenken, suche mir einen heraus, sage ihm, er soll zu dem Klumpen links von ihm fahren. Der Brocken blockiert einen Nerv, die Fasern des Nervenstrangs sind abgerissen, schauen an den Enden aus wie ein zerrissenes Seil. Prompt macht der Baggerfahrer eine Kurve, senkt seine Baggerschaufel, lädt den schwarzen Brocken auf, fährt zur Seite, ans Ende der Nervenbahnen und kippt den Brocken aus der Schaufel.

      Ich springe gedanklich zu einem anderen Männchen, sage ihm, es soll die Nervenfasern miteinander verbinden. Das Männchen, es hat einen kleinen weißen Koffer mit einem roten Kreuz, geht zum zerrissenen Nerv, klappt den Koffer auf, nimmt ein Instrument heraus, leider kann ich nicht erkennen, was es ist. Es beginnt die offenen Fasern des Nervenstrangs zu verbinden, ich sehe nicht, wie es das macht, sehe nur den Rücken des Männchens. Plötzlich wird das Männchen durchsichtig, verschwindet, ich sehe den Nerv, er ist wieder verbunden, es schaut aus, wie wenn die einzelnen Fasern verknotet wären. Das macht richtig Spaß, ich suche einen anderen Baggerfahrer und schicke ihn zu einem anderen zerstörten Nerv. Es geht voran, alles wird gut.

      Gisela kommt und will etwas Neues mit mir ausprobieren. Ich sage, bevor wir etwas Neues versuchen, will ich den Test mit dem Blatt Papier noch einmal machen. Sie gibt mir ein Blatt, ich nehme es zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, presse so fest ich kann zusammen und hebe die Hand hoch. Das Blatt fällt nicht runter, es fällt nicht runter, es fällt nicht runter! Ich zähle laut die Sekunden, bei sieben habe ich keine Kraft mehr, das Blatt rutscht nach unten weg. Immerhin, eine tolle Verbesserung seit gestern, Gisela und ich sind stolz.

      Gisela und Manuela setzen mich auf und schnallen mir Gurte um. Ich werde wie mit einem Kran hochgehoben und neben dem Bett in einen Sessel befördert. Der Sessel hat unten ein Gelenk, auf dem er bewegt werden kann.

      Ich soll mich im und mit dem Sessel bewegen, indem ich meinen Oberkörper vor und zurück beziehungsweise nach links und rechts schaukle. Ich soll aber sofort aufhören, wenn mir schwindlig oder übel wird. Es geht problemlos, es macht Spaß. Wir sind zufrieden.

      Nachmittags kommt mich ein alter Freund besuchen. Wir plaudern über meinen Zustand, dann erzählt er mir, dass er vor zwei Jahren beim Wandern ausgerutscht ist und sich dabei den Arm gebrochen hat. Ich sage ihm, dass das wirklich ein Jammer ist, und wünsche ihm baldige Besserung. Er sagt, dass der Armbruch schon vor zwei Jahren passiert ist, vielleicht habe ich das überhört. Ich sage, dass ich sehr müde bin. Er verabschiedet sich.

      Am nächsten Tag bekomme ich vormittags Besuch, ein Arbeitskollege, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite. Wir machen den üblichen Smalltalk, dann erzählt er mir über seine Gastritis. Ich höre ihm ein paar Minuten zu, dann sage ich, dass ich sehr müde bin. Er verabschiedet sich. Keine zehn Minuten später betritt Werner das Zimmer, fragt mich, wie es mir geht und erzählt mir Neuigkeiten über den Krankheitsverlauf seiner Mutter. Ich sage ihm, dass ich sehr müde bin, er verabschiedet sich.

      Julia kommt, sie beginnt sofort, mir die Beine und die Füße zu massieren. Ich sehe, dass Sie mich am rechten Fuß berührt, spüre aber nichts. Ich erzähle ihr vom Sensibilitätstest, den ich mit Dr. Hafler machte und vom Ergebnis.

      »Das wird schon noch kommen,«, sagt sie und wir machen den Zehentest. Die linken bewegen sich, die rechten nicht.

      »Du wirst sehen, beim nächsten Mal geht es auch mit den rechten.«

      Ich erzähle ihr, dass ich das Blatt Papier halten konnte, sie freut sich und sagt, dass sie mir die FREIZEIT-Beilage des KURIER mitgebracht hat. Ich nehme das Magazin, es fällt mir sofort aus der Hand. Sie sagt, dass die Beilage doch etwas schwerer als ein einzelnes Blatt ist und ob sie mir vorlesen soll.

      »Nein. Leg´s mir nur auf das Nachtkästchen. Ich lese es später.«

      Nachmittags, ich bekomme Besuch, ein Freund, den ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen habe. Wir hatten immer viel Spaß, er ist vor einigen Jahren nach Niederösterreich übersiedelt, irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren. Vor Kurzem ist er wieder nach Wien zurückgekommen, hat sich bei meiner Frau gemeldet und von ihr erfahren, dass ich einen Unfall hatte. Er fragt, wie es mir geht, ich sage, gar nicht, ich liege da im Bett und kann mich kaum rühren. Er lacht und bestätigt mir, dass ich zumindest meinen Humor nicht verloren habe. Dann erzählt er mir, dass er voriges Jahr eine Blinddarmoperation hatte, Gott sei Dank kein Blinddarmdurchbruch, aber immerhin.

      Ich erkenne langsam ein Muster, weil ich aber neugierig bin, sage ich nicht,