dass wir respektloser leben oder ständig aus einem Impuls heraus große Flüche aussprechen. Auch wenn wir von Geburt an wissen, dass wir am Ende nur für uns selbst verantwortlich sind.
Was mit Linus passiert ist, finde ich schrecklich. Auch wenn ich die wahren Begebenheiten nicht kenne. In Xestha geht lediglich das Gerücht um, dass du ihn verzaubert haben sollst, weil er nicht dein Freund sein wollte. Das kann ich aber nicht glauben! Ich habe nämlich bemerkt, wie er dich angesehen hat. Schon auf deiner Party konnte man erkennen, dass er in dir etwas ganz Besonderes sieht.
Es ist alles einfach nur schrecklich!
Ich weiß auch nicht, warum ich dir schreibe. Ich denke, ich musste das einfach mal loswerden. Jetzt, wo du offiziell nach Xestha, zu uns, gehörst, wissen übrigens auch alle anderen Xesthaner, wie du wirklich aussiehst. Viele Junghexen tragen jetzt kurzes Haar und einen tiefen Scheitel. Deine Statue übrigens auch. Die ist wirklich sehr schön!
Na ja, ich habe es auch einmal ausprobiert. Vielleicht hast du es gesehen. An dem Abend in der Arena, als du (davon gehe ich einfach aus) Fjigor gerufen hast. Ich finde jedoch, dass es mir nicht steht! Es war eigentlich die Idee von meiner Tante, dass ich in der Öffentlichkeit mein Auftreten verändere. Ich denke, sie will unbedingt, dass ich so perfekt werde wie du!
Ich wünsche dir alles Gute, Jezabel.
Ava
J.J.s Atem beruhigt sich plötzlich. Diese Nachricht ergibt keinen Sinn und erklärt trotzdem so vieles.
Das Mädchen lehnt sich zurück und öffnet die zweite E-Mail von Ava.
Jezabel!
Ich weiß, dass du mir nicht vertraust. Aber ich muss dich warnen! Melde dich beim Hexenrat! Mach irgendwie auf dich aufmerksam! Sonst werden sie dich vernichten! Denk an deine Bestimmung!
Ava
J.J. liest diese Nachricht mehrmals und stutzt.
Was sollen diese Worte bedeuten? Eigentlich will sie Avas Nachrichten ignorieren, da ihr die letzten Zeilen doch große Probleme bereitet haben. Trotzdem öffnet sie auch die dritte E-Mail. Vielleicht aus Neugier, aber vielleicht auch aus Angst. Ihr Bauchgefühl sagt ihr auf jeden Fall, dass sie auf irgendeine Weise wichtig sein wird.
Jezabel!
Es wird Ernst! Der Elonyk von Festos wird ungeduldig! Im dunklen Phad gehen seltsame Dinge vor sich. Auch wenn du deine Bestimmung hasst, denke ich, dass alles mit dir zusammenhängt! Jezabel, du musst nach Xestha kommen!
Ava
Mit klopfendem Herzen liest J.J. die Worte und schluckt.
Es war ihr klar, dass sie sich nicht ewig vor dem Hexenrat verstecken kann, aber Avas Worte verraten, dass ihr Verhalten wohl sehr viel mehr Probleme schafft, als es löst.
Zögerlich öffnet das Mädchen die letzte Nachricht, die Ava ihr erst gestern Abend geschickt hat.
Jezabel!
Bitte! Das wird die letzte Nachricht sein, die ich dir schicke. Es ist inzwischen auch für mich gefährlich. Danach liegt es allein an dir!
Der Hexenrat hält ständig geheime Treffen im Haus meiner Tante ab. Ich fühle, dass etwas Großes im Gange ist. Leider erfahre ich nichts mehr. Sie schotten sich regelrecht ab, weil sie mich für vertrauensunwürdig halten.
Das ist lustig, nicht wahr?
Du glaubst, dass ich euch damals verraten hätte, und meine Tante glaubt, dass ich sie verraten habe. Plötzlich glaubt mir niemand mehr. Aber das ist schon okay.
Trotzdem flehe ich dich an! Komm bitte nach Xestha! Sonst ersetzen sie dich, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkt. Und ich bin mir ganz sicher, dass Darania alles tun wird, dass es auch so bleibt!
Denke an deine Möglichkeiten!
Ava
Das hat gesessen!
»Darum ist der Hexenrat in den letzten Tagen so ruhig geblieben. Darania will mich also durch eine falsche schwarze Prinzessin ersetzen! Aber wie soll das gehen?«
Diese Neuigkeit öffnet J.J. schlagartig die Augen. Sie vertraut Ava zwar immer noch nicht. Aber diese Information klärt ihr Bewusstsein innerhalb von ein paar Sekunden auf!
Eilig fährt sie den Monitor herunter, ohne Ava zu antworten.
»Was soll ich diesem Mädchen auch schreiben?
Soll ich ihr etwa danken? Nein! Diese Nachrichten erklären gar nichts!«
Nachdenklich setzt sie sich auf ihr Bett.
»Ava hat recht. Ich habe Möglichkeiten. Viele Möglichkeiten sogar. Nur welche nützen mir und welche machen mir nur noch mehr Probleme?«, flucht sie ratlos.
Sie denkt noch einmal über alles nach, was sie mit Ava erlebt hat, und entschließt sich am Ende, diese Nachrichten doch sehr ernst zu nehmen.
Während sie versonnen vor sich hindöst, passiert etwas Eigenartiges:
J.J. liegt entspannt auf ihrem Bett, aber sie bemerkt, dass plötzlich irgendetwas anders ist. Langsam richtet sie sich auf und sieht sich verwirrt um.
Lincoln hat recht, dieser schwarz-weiße Gruselfilmeffekt ist wirklich nervtötend. Aber genau das ist es, was sie irritiert. Der Trauereffekt ist weg und ihr Zimmer erstrahlt wieder in hellen, violetten Tönen!
Während sie verschlafen die Farben betrachtet, geschieht etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Sie hört ihn! Ganz deutlich hört sie den Ruf des Falken.
J.J. springt hastig aus dem Bett und rennt zum Fenster. Als sie es endlich mit zittrigen Händen geöffnet hat, sieht sie erwartungsvoll hinaus. Aber sie sieht nur den Garten, über dem die Dunkelheit liegt, und ein paar Sterne, die sich durch die Wolken kämpfen konnten.
Während ihr dicke Tränen über die Wangen rollen, verschließt sie enttäuscht das Fenster. Aus einem inneren Impuls heraus öffnet sie es erneut und steigt auf den Sims. Dann ruft sie, so laut sie kann, seinen Namen.
»Linus! Ich bin hier! Bitte komm zu mir zurück!«
Aber es bleibt still.
Gedemütigt von ihrer eigenen Hoffnung sinkt das Mädchen in die Knie und schluchzt. Da streicht ihr etwas sanft über den Kopf. J.J. kennt diese Art der Berührung. Aber sie traut ihr nicht. Aus Angst vor einer Enttäuschung presst sie ihre Augen fest zusammen. Erst als der Duft nach grenzenloser Freiheit sie umgarnt, hebt sie langsam ihren Kopf.
»Linus! Du bist es wirklich! Wo bist du gewesen?«, fragt sie hastig und springt hoch.
Der Falke antwortet ihr nicht, sondern sieht sie nur traurig an.
Ganz sanft umfasst das Mädchen die Federn in seinem Gesicht. Der Falke legt behutsam seine Krallen auf ihre Schultern und zieht sie vorsichtig aus dem Fenster. Während sie lautlos durch die Nacht schweben, erinnert sie sich endlich wieder an dieses vollkommene Gefühl des Friedens. Zärtlich umfasst sie seine Krallen und sieht nach oben.
Dann realisiert sie jedoch, dass sie in Richtung des Nydia-Walkways fliegen. Dorthin, wo das Tor nach Xestha ist. Und plötzlich bekommt sie Angst, dass Linus sie zum Hexenrat verschleppen will. Immerhin wollte der Junge sie mit einem tödlichen Fluch belegen, als sie ihn das letzte Mal sah.
J.J. fühlt sich mit einem Schlag überhaupt nicht mehr wohl und schreit ihn wütend an:
»Linus! Wo bringst du mich hin? Ich will nicht nach Xestha! Bring mich sofort zurück!«
Panisch strampelt sie mit den Beinen und flucht.
Da antwortet ihr eine sehr vertraute Stimme:
»Bitte hab keine Angst, Jezabel! Ich muss dir etwas sehr Wichtiges zeigen! Du musst mir vertrauen! Bitte!«
J.J. hält inne und sieht verwirrt nach oben.
Es ist Linus‘