Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Niflheim


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Türme in Form eines Kegels, einer Pyramide und eines Prismas. Das Reet schimmerte golden und die hölzernen Wände waren übersäht von ineinandergreifenden Schnitzereien. Drei Frauen unterschiedlichen Alters saßen vor dem Gebäude. Eine von ihnen trug ein grünes Kleid mit einem weißen Überrock, gleich ihrem Haar, die andere ein rotes Kleid, gleich ihrem auffällig gelockten Schopf. Auch die jüngste von ihnen, jung und blond, schmückte sich mit einem Kleid, das der Farbe ihres Haares glich. Als sich Thor ihnen näherte, erhoben sie sich von der Veranda und grüßten den Asen freundlich.

      „Thor, Freya, Thea und Juli“, sprach die Rothaarige sie zur Begrüßung an.

      Juli winkte zurückhaltend und Thea senkte verlegen den Kopf.

      „Wir sind gekommen, um Urds Hilfe zu ersuchen“, erklärte Thor.

      „So habe ich es vorhergesehen“, erklärte die Jüngste.

      „Die Vergangenheit wollt ihr ergründen“, sprach die Alte.

      Freya nickte. „So ist es. Und du, Urd, sollst sie ihnen zeigen.“

      Die Rothaarige deutete auf Thea und Juli. „Aber sie leben in der Gegenwart. Es ist Wiedergeborenen nicht gestattet sich an ihre Vergangenheit zu erinnern“, sagte sie ruhig, aber bestimmt.

      Einen Augenblick lang war nur das Plätschern des Brunnens zu hören.

      „Und doch wird Urd sie ihnen zeigen“, erklärte die Blonde sodann und Urd nickte.

      „Mit der Gegenwart seid ihr nicht zufrieden“, sagte die Rothaarige vorwurfsvoll.

      „Und die Zukunft wollt ihr ändern“, fiel die Blonde mit ein. „Ragnarök ist euch vorherbestimmt. Das Schicksal lässt sich nicht ändern.“

      „Es wurde bereits geändert“, knurrte Thor.

      „Das Schicksal ist unabänderbar“, sagten alle drei wie aus einem Munde.

      Wal-Freya legte eine Hand auf Thors Brust und schob ihn sanft zurück, ehe er sich in eine hitzige Diskussion verlor. Mit knappen Worten beendete sie die Situation: „Zeigt ihnen einfach, was sie wissen müssen. Odin bittet euch darum.“

      Die älteste der drei Schicksalsgöttinnen löste sich aus der Gruppe und bedeutete Thea und Juli mit einem Wink, ihr nachzukommen. Erst als Wal-Freya aufmunternd das Kinn hob, folgte Thea der Norne ins Haus und Juli schloss sich ihnen an.

      4. Kapitel

      Das Innere des Gebäudes lag im Zwielicht. Ein bläulicher Nebel umwaberte Wände und Möbel, kroch bis zur Decke hinauf und verbarg Höhen und Tiefen. Das einfallende Licht warf helle Streifen in den Dunst, aber es leuchtete den Raum nur spärlich aus. Urd führte Thea zu einem Bett.

      „Setz dich“, befahl sie mit rauer Stimme. Thea gehorchte, doch ihr Herz pochte unaufhörlich und alarmierte sie zur Flucht.

      „Was ist das für ein Nebel?“, fragte sie unsicher.

      „Die Vergangenheit vorangegangener Leben liegt im Trüben“, entgegnete Urd sanftmütig.

      „Ich verstehe nicht …“

      „Wisst ihr, wer ich bin?“ Sie sprach Thea an, vergaß aber nicht Juli, die hinter ihrem Rücken stand und aufgeregt auf den Füßen wippte.

      Ehrlich antwortete Thea: „Nein.“

      „Ich bin Urd, die Gewordene. Ich weiß, was gewesen.“

      „Und die anderen zwei?“

      Den Kopf leicht neigend antwortete Urd: „Sind Verdandi, das Werdende, und Skuld, das Werdensollende.“

      „Ihr seid Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, stellte Juli fest.

      Urd nickte bedächtig. „So ist es.“

      Juli wusste nichts darauf zu sagen, doch die Norne schien keine Antwort zu erwarten. Stattdessen raunte sie: „Odin bat darum, euch alles zu zeigen, was für eure Reise wichtig ist und ich erfülle seinen Wunsch. Seid ihr bereit?“

      Theas und Julis Blicke trafen sich. Ihre Freundin sah ebenso unsicher drein, wie Thea sich fühlte. Zögernd nickte sie.

      Urd rückte ihr Antlitz nah an Thea heran. Wie unergründliche Seen ruhten die Augen der Frau in dem zerfurchten Gesicht. Alt und hell zugleich lächelten sie Thea an.

      „Ich kenne dich“, sprach sie geheimnisvoll. „Mutig in all deinen Leben. Aber jetzt zweifelst du.“

      Wenn ihr Thor oder Odin schon unangenehme Gefühle beschert hatten, so überbot die Norne alles Dagewesene. Zitternd holte Thea Luft, doch bevor sie etwas erwidern konnte, hob Urd die Hand und legte sie Thea auf die Stirn. Augenblicklich verschwomm Theas Blick. Die Welt um sie herum rotierte und die Farben mischten sich in einem Wirbel, der Theas Sicht allmählich schwarz färbte.

      Als das Licht wiederkehrte, stand Thea noch immer im Halbdunkel. Flammen tanzten hoch, während sie das Schwert aus der Esse zog. Einzig die Feuerstelle mit ihren glühenden Kohlen und das Sprühen der Funken, wenn sie das Eisen mit dem Hammer traf, spendete ein wenig Licht. Vertieft in seine Arbeit hämmerte Fengur die Waffe aus dem Werkstück. Seit mehreren Nächten arbeitete der Wikingerjunge bereits an seinem Schwert und allmählich formte sich eine klar erkennbare Struktur heraus. Schweiß rann Fengur von der Stirn und malte schwarze Muster auf sein rußbeschmutztes Gesicht. Konzentriert folgte er seiner Arbeit, hämmerte immer wieder auf das Eisen ein, drehte und wendete es und schob es zwischendurch in die Esse, bis die aufsteigenden Funken plötzlich das Gesicht eines Mannes erhellten. Erschrocken taumelte Fengur zurück, worauf der Mann an der Feuerstelle amüsiert lächelte. Lange dunkle Haare flossen über seine Schultern. Sein Bart wuchs in zwei Strähnen entlang der Oberlippe und in zwei Strähnen unterhalb des Kinns. Lässig lehnte er an der Esse, die Arme vor seinem roten Klappenrock verschränkt. Er war groß, fast zwei Meter, so schätzte Fengur. Unwillkürlich zog der Schmiedgeselle das glühende Eisen aus dem Feuer und hielt es dem Fremden entgegen.

      „Das wird ein gutes Schwert werden“, sprach dieser unbeeindruckt.

      „Wer bist du? Was willst du hier?“, knurrte Fengur.

      Der Fremde löste eine Hand aus der Verschränkung und schob die auf ihn gerichtete Klinge mit dem Zeigefinger von sich weg. Fengur stockte der Atem. Die Klinge glühte noch immer, doch der Fremde schrie nicht auf – sie fügte ihm keine Verletzung zu.

      „Du lässt es besser im Feuer“, erklärte der Mann.

      Fengurs Herz schlug schneller. Die Knie wurden ihm weich. Unendliche Angst packte ihn. Das musste ein böser Geist sein, ein Schwarzalb vielleicht, der ein Spiel mit ihm trieb, bevor er ihn tötete.

      Der Fremde sah ihn herausfordernd an. „Was zitterst du, Junge? Hier ist es fast wärmer als in Muspelheim!“

      „Kommst du von da?“, fragte Fengur ungewollt schnell.

      Der Fremde lachte und Fengur schämte sich für seine Einfältigkeit. Nein, aus Muspelheim, dem Land der Riesen, mochte dieser Mann nicht stammen. Wie ein Thurse sah er wirklich nicht aus, vielmehr erinnerte er an … Fengur überlegte kurz und runzelte bei dem Gedanken die Stirn. Dieser Mann erinnerte ihn an eine Frau! Dunkle Augen stachen hell und wachsam aus dem schmalen Gesicht, feine geschwungene Augenbrauen zierten sie. Der dicke Klappenrock und der breite Fellbesatz ließen ihn kräftiger wirken, ebenso wie die Pumphosen – die umwickelten Waden jedoch waren dünn und spiegelten seine eigentliche Statur wieder.

      „Ich komme aus Asgard“, erwiderte der Fremde.

      „Unmöglich!“, schnaufte Fengur.

      Der Mann antwortete mit einem herausfordernden Zucken seiner Augenbrauen. „Das Eisen wird schmelzen, wenn du es nicht herausnimmst.“

      Fengur holte erschrocken