Nick Lubens

Punk Rock


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sehen konnte, was es alles nicht gab, kleben bunte Poster mit allen erdenklichen Leckereien drauf. Über dem Eingang steht blau auf gelb „Edeka“.

      Nach dem ersten Schock tastet sich mein Hirn langsam an die neue Situation heran. So etwas hatte ich doch schon einmal gesehen. Nach kurzem Grübeln überrollt mich die Erkenntnis wie eine Dampflok. Natürlich, in Hof. Als wir unser Begrüßungsgeld abgeholt hatten, sind wir alle zusammen zuerst in eine dieser Kaufhallen gegangen. Die Wessis haben die Dinger Supermarkt genannt, und das nicht ohne falsche Bescheidenheit. Denn im Gegensatz zu unseren HO-Verkaufsstellen mit den schlecht getarnten halbleeren Regalen gab es dort wirklich alles in Hülle und Fülle.

      Nur die Riesenschlange von DDR-Bürgern, die geduldig darauf warteten, ihr Begrüßungsgeld in Westware umzusetzen, fehlt heute. Dafür stehen vor dem Eingang ordentlich aufgereiht große Einkaufswagen. Als Aktivist der ersten Stunde, der die Verwirrung vor den Hofer Supermärkten hautnah miterlebt hatte, als jemand, der mit dem Einkauf fertig war, seinen Wagen nur gegen Übergabe einer D-Mark hergeben wollte, weiß ich natürlich Bescheid, wie das hier läuft. Ich krame eine DDR-Mark hervor und suche den Schlitz für das Pfandgeld. Enttäuscht muss ich feststellen, dass es hier keine so raffinierte Sicherungstechnik gibt. Die Wagen sind wie eh und je zur freien Verfügung bereitgestellt. Wozu habe ich die tumultartigen Szenen im Westen dann überhaupt mitgemacht. Jetzt, im Nachhinein, muss ich darüber lächeln, wie der dicke Mann mit hochrotem Kopf erklärte, er habe ebenfalls eine Mark für den Wagen hergeben müssen und sehe gar nicht ein, jetzt kostenlos auf das gute Stück verzichten zu müssen. Ich möchte gar nicht wissen, wie oft die Verkäuferinnen in Hof vor die Läden rennen mussten, um ihren ungebildeten Brüdern und Schwestern aus der DDR die Sache mit dem Pfand für die Wagen zu erklären.

      Als ich den Einkaufswagen unter dem blau-gelben Schild durchgeschoben habe, prasseln unzählige unbekannte Eindrücke auf mich ein. Zunächst ist da dieses eigenartige Drehkreuz, das mir den Weg verstellt. Mit dem Einkaufswagen stellt es ein unüberwindbares Hindernis dar. Wie soll man das Riesending da durch bekommen? Neben mir bietet ein Knirps eine Lösung an, bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie so gedacht ist. Er schiebt den Wagen unter einer Metallstange durch, an der große orangefarbene Plastestreifen hängen. Damit er seinen Wagen nicht verliert, bückt er sich kurzerhand und gelangt so in den Bereich hinter der Barriere.

      „Junger Mann, wollen sie hier den ganzen Tag stehen und uns alle aufhalten?“, keift eine alte Frau mich von hinten an. Irritiert drehe ich mich um, doch sie sieht nicht so aus, als könnte sie mir außer ihrer unterschwelligen Aggression irgendwelche Ratschläge geben, die zur Lösung der kniffligen Lage beitragen könnten. Eine Frau in gelber Jacke, auf die das blaue Logo der EDEKA aufgedruckt ist, kommt mir zu Hilfe. „Hier den Wagen durchschieben.“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln und zeigt auf die Querstange mit den orangefarbenen Plastestreifen. „Und Sie gehen hier durch das Drehkreuz.“

      Dankbar nicke ich ihr zu und schiebe den Wagen durch das Gitter. Es bereitet mir einige Schwierigkeiten, ihn nicht loszulassen, während ich mich durch das Drehkreuz zwänge, aber mit etwas Umgreifen gelingt mir auch das. Zufrieden packe ich den Wagen mit beiden Händen und schaue die alte Frau hinter mir herausfordernd an. Soll sie mir das doch erstmal nachmachen!

      Die Alte schüttelt ungeduldig ihren dauergewellten Kopf, stupst den Wagen durch die Barriere und trippelt durch das Drehkreuz, ohne sich weiter um den Metallkorb auf Rädern zu kümmern. Auf meiner Seite schnappt sie ihn sich und schenkt mir ein triumphierendes Lächeln.

      „Eine schicke Kaufhalle haben Sie da eingerichtet.“, trällert sie der Verkäuferin zu.

      „Das ist keine Kaufhalle.“, belehrt sie die Frau in Gelb. „Man nennt das jetzt Supermarkt.“

      Die Alte blickt sie konsterniert an. „Im Westen bei meiner Schwester vielleicht. Hab sie ja oft genug besucht.“, mosert sie. Aha, daher kennt sie sich also mit dem Drehkreuz aus. Unverschämtheit, wie die sich hier durchs Leben mogelt. „Aber bei uns bleibt das weiter eine Kaufhalle.“, beharrt sie auf ihrer Meinung.

      Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern und widmet sich wieder kommentarlos ihren Aufgaben.

      Während die alte Frau zügig abdampft, brauche ich eine Weile, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Das letzte Mal als ich hier war, standen überall weiße Regale, in denen die angebotenen Waren mehr oder weniger lieblos aufgestapelt waren. Nach dem Mauerfall hatte sich die Lage insofern deutlich gebessert, als dass es plötzlich fast alles gab, was man suchte. Aber dieser Farbflash, der mich heute hier empfängt, überfordert mich. Obst und Gemüse sind zu wahren Bergen gestapelt. Ich frage mich, wer das plötzlich alles essen soll. Vor dem Mauerfall sind doch auch alle satt geworden, und da gab es nicht einmal ein Fünftel von dem, was heute hier herumliegt. Wenn das mal nicht schlecht wird! Neugierig schreite ich an den grünen Körben entlang, in denen die verschiedenen Obst- und Gemüsesorten darauf warten, von interessierten Kunden in ihren Wagen umgestapelt zu werden. Von der Hälfte davon kenne ich noch nicht mal den Namen, geschweige denn, dass ich wüsste, was man damit anfangen sollte. Ich packe Bananen, Äpfel und Orangen ein, dazu eine Gurke und Tomaten. Sicher ist sicher. Ich hätte ja auch gern mal eine Kiwi probiert. Die sehen irgendwie putzig aus, aber ich mache mir doch Sorgen, dass sie mit ihrer pelzigen Schale zu sehr im Bauch kitzeln.

      Ich schaue auf meinen Zettel. Milch, Joghurt, Butter, Brot, Käse – das sollte zu schaffen sein. Als ich um die erste Ecke biege, bleibe ich erneut vor Staunen stehen. Ich traue meinen Augen kaum. Das Regal mit dem Dosengemüse ist über und über mit bunten Büchsen gefüllt. So viele verschiedene Gemüsesorten kann es unmöglich geben. Ehrfürchtig schreite ich die Reihen ab. Wer hätte gedacht, dass es so viele Arten von grünen Bohnen gibt? Nachdenklich kratze ich mich am Kopf. Haben wir wirklich jahrzehntelang hinterm Mond gelebt? Wie peinlich ist das denn?

      Eine Wand der Kaufhalle ist mit einem großen Schrank zugestellt, aus dem mir kalte Luft entgegenströmt. Bisher kannte ich nur Kühltruhen, in denen man herumkramen konnte, aber offenbar will Edeka meinen Rücken schonen und platziert die Kühlwaren praktisch in Brusthöhe. Ich greife nach Milch. Die Butter ist auch schnell gefunden, liegt aber trotzdem ganz unten, so dass ich mich doch bücken muss. Weiter zum Joghurt.

      Unschlüssig bleibe ich vor der großen Auswahl an Fruchtjoghurten stehen. Mann, ist das kompliziert. Es gibt allein vier verschiedene Sorten Erdbeerjoghurt. Es hilft mir nicht wirklich weiter, dass die Becher alle unterschiedlich geformt sind und verschiedene Aufdrucke haben. Woher soll ich wissen, welcher der vier Joghurte der richtige für mich ist? Kann man Joghurt auf unterschiedliche Art und Weise herstellen? Zögerlich nehme ich einen Plastebecher mit der Aufschrift Bauer aus dem Regal und drehe ihn hin und her. Witziger Name - als ob Joghurt auch vom Maurer kommen könnte. Aha, hier steht etwas von Zutaten. Ich greife nach einem weiteren Becher mit riesigen Erdbeeren drauf. Ein Vergleich der Zutaten macht mich auch nicht schlauer. Auf den ersten Blick scheint in beiden Bechern das Gleiche drin zu sein. Aber das wäre ja Blödsinn. Warum sollte man ein und den selben Joghurt in zwei verschiedene Becher füllen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich beschließe, vier Erdbeerjoghurts mitzunehmen, von jeder Becherform einen. Wenn mir die Verpackungen nicht weiterhelfen, muss ich dem Mysterium wohl in einem Selbstexperiment auf den Grund geben. Morgen früh gibt es bei mir Erdbeerjoghurt. Da mache ich den ultimativen Esstest.

      Beim Käse bietet sich mir eine ähnlich große Auswahl. So langsam vermisse ich die klare Struktur der Warenauslage unserer alten Kaufhalle. Ich hatte mit fünf Minuten für das Einkaufen gerechnet, jetzt bin ich schon seit fast einer halben Stunde in diesem Sammelsurium an allem Möglichen. Ich frage mich, ob die im Westen überhaupt Freizeit haben, wenn sie ständig so lange in ihren Supermärkten zubringen. Nachdem ich einige Zeit vergeblich mit der Suche nach dem Käse zugebracht habe, den Mutter immer gekauft hat, entscheide ich mich für einen Emmentaler. Der sieht kompakt aus. Außerdem steht auf der Packung, dass in ihr 20 Prozent mehr Käse drin ist. Das klingt doch prima. So langsam habe ich das raus mit dem Kapitalismus.

      Nach weiteren zehn Minuten Irrlauf durch die Gänge der Kaufhalle, die immer wieder in neuen Windungen und Sackgassen enden, erreiche ich endlich die Kasse. Unterwegs frage ich mich, was mit all den DDR-Produkten passiert ist, die es bis vor kurzem noch in der Kaufhalle gab. Ich kann sie nirgends entdecken. Wahrscheinlich stecken die jetzt auch