Nick Lubens

Punk Rock


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auf zu existieren. Ich bin Teil einer animalisch zuckenden Masse. Aufgeputscht von den harten Klängen der Musik fuchtle ich wild herum und lasse mich vom Sog des Menschenstrudels treiben. Es stinkt nach Schweiß und Alkohol. Ich schmecke meinen salzigen Schweiß auf den Lippen. Ständig landen irgendwelche Haare, Hände oder Schultern in meinem Gesicht. Ellenbogen stoßen mir in die Rippen. Schwere Stiefel treten mir auf die Füße. Vor meinen Augen wogen unterschiedliche Schattierungen von Schwarz. Ich schwebe dahin wie ein kleines Teilchen in einer großen schwarzen Wolke.

      Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts. Aber ich kann es fühlen. Es ist ein unglaubliches Glücksgefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt. Warum habe ich sowas nicht schon früher ausprobiert? Im Augenblick wäre es mir völlig egal, ob ich zwischen besoffenen Teenagern oder einer Horde Gorillas herumtobe. Hauptsache springen. Und angerempelt werden. Und andere Leute treten. Das tut so gut! Wir sind alle Black Dust.

      April 1990

      The Clash – Lost in the Supermarket

      „Tilo, wir sind dann mal weg.“, ruft Mutter aus dem Flur.

      Verschlafen stecke ich den Kopf zur Zimmertür hinaus. Sven und Mutter stehen mit dem dunkelgrünen Lederkoffer und einem neu gekauften Rucksack abmarschbereit vor der Tür. Mein Bruder zieht eine griesgrämige Schnute. „Warum muss ich mit zur doofen Westverwandtschaft und Tilo darf hier bleiben? Das ist so unfair.“, jammert er.

      „Tilo muss arbeiten und Onkel Heinz und Tante Helga sind nicht doof.“, weist Mutter ihn mit ungewöhnlich scharfen Worten zurecht. „Sie haben uns die ganzen Jahre über Westpakete geschickt, damit wir wenigstens etwas Luxus in unserem Leben haben. Du solltest ihnen dankbar sein.“

      „Jetzt brauchen wir aber keine Westpakete mehr.“, erinnert Sven sie daran, dass die Mauer ja offen ist. „Was will ich denn in Lauterbach? Das wird bestimmt total öde.“

      „Reiß dich zusammen!“, fährt Mutter Sven an und verdreht die Augen. „Jahrelang mussten Heinz und Helga den weiten Weg zu uns auf sich nehmen, da ist es das Mindeste, dass wir sie auch einmal besuchen, wo wir endlich frei reisen können. Außerdem ist Christian da. Der macht bestimmt tolle Sachen mit dir.“

      Svens Blick wird noch um einiges panischer. Ich kann meinen Bruder gut verstehen. Christian ist ein alter Angeber, der ihn jede Sekunde spüren lassen wird, was für arme Würstchen wir in seinen Augen doch sind.

      „Mach das beste draus!“, versuche ich, meinen kleinen Bruder aufzumuntern. „Und sieh es mal so: Du hast Ferien, ich muss malochen.“

      „Schwacher Trost.“, murmelt er und stemmt sich den Rucksack auf den Rücken.

      „Pass auf dich auf, Tilo!“ Mutter tätschelt mir zärtlich die Wange. „In der Zuckerdose sind noch 50 Mark als Reserve, falls du nicht zurecht kommst.“

      „Mutti, ich verdiene selber Geld.“, erinnere ich sie. „Mach dir keinen Kopf!“

      Sie schüttelt mit einem mütterlich milden Lächeln den Kopf. „Wie schnell ihr groß geworden seid.“, sagt sie. Dann fällt ihr Blick auf die Uhr, die mahnend über unserer Küchentür prangt. „Herrje, jetzt aber los, Sven! Wir müssen die Straßenbahn kriegen, sonst verpassen wir noch unseren Zug.“

      Mehrere „Tschüss!“ hallen durch das Treppenhaus, dann schlägt endlich unten die Haustür zu. Ich schließe die Tür zu unserer Wohnung und schaue mich irritiert in unserem schmalen Flur um. Eigentlich sollte ich mich jetzt ja frei fühlen. Es ist das erste Mal, dass ich die ganze Wohnung für mehrere Tage ganz für mich allein haben werde. Aber irgendwie überkommt mich ein Gefühl tiefer Traurigkeit. So muss sich ein Kätzchen fühlen, dass an einem kalten Winterabend in einer klapprigen Pappschachtel allein am Straßenrand ausgesetzt wird, schießt es mir durch den Kopf. Oder ein Rottweiler, der an einen Laternenpfahl gebunden wird, meldet sich die Korrekturabteilung in meinem Gehirn. Ja, das Bild mit dem Hund gefällt mir deutlich besser. Wenn schon ausgesetzt und von allen verlassen, bin ich ganz sicher eher ein Rottweiler als ein Kätzchen.

      Verwundert über meine eigenartige Gemütsverfassung schlurfe ich in die Küche. Zu meiner Enttäuschung muss ich feststellen, dass Mutter heute Morgen gar keinen Kaffee gekocht hat. Wahrscheinlich wollte sie länger schlafen und die beiden frühstücken in der Mitropa. Ich spüre Neid auf Sven in mir aufsteigen. Wann haben wir das letzte Mal in der Mitropa gegessen? Das muss Jahre her sein. Rostock? Sommerurlaub? Vage rauschen einzelne Bilder vor meinem inneren Auge vorbei. Sven, wie er seinen Kakao verschüttet. Mutter, die immer wieder ängstlich um sich schaut und uns permanent mit einer Serviette abtupft, damit keine Flecken auf unseren Hemden entstehen und Vater, der lauthals lacht, als mir ein Stück Brötchen in den Kakao fällt.

      Beim Gedanken an meinen Vater reißt eine weitere Wunde in meinem Inneren auf. Der Brief aus Gießen, kurz nachdem er letzten Sommer rübergemacht ist, war die letzte Nachricht, die wir von ihm erhalten haben. Schön abgesetzt hat sich der alte Auskenner. Eigentlich sollte ich sauer auf ihn sein, weil er uns zwei Halbwüchsige mit einer heulenden Mutter allein gelassen hat, aber insgeheim bewundere ich auch seine Courage, einfach aus seinen alten Bahnen auszubrechen und nochmal ganz von vorn anzufangen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

      Ich klatsche mir mit den Händen kräftig ins Gesicht. Scheiß Sentimentalitäten!

      Die Küchenuhr zeigt an, dass es bereits viertel elf ist. Ins Bett gehen lohnt nicht mehr, also beschließe ich, meine Woche Freiheit mit einem zünftigen Frühstück zu beginnen. Beim Blick in den Kühlschrank muss ich diesen Plan aber noch einmal revidieren. Ein Stück Butter, eine angefangene Flasche Milch und ein fast leeres Glas Marmelade versuchen vergeblich, die große weiße Leere im Innern des Kühlschranks zu verdecken. Nach kurzer Suche entdecke ich auch noch einen Ranft altes Brot. Wollten die mich hier verhungern lassen? Ich fasse es nicht. Wütend streiche ich extra dick Butter auf das Brot. Mutter wäre entsetzt, aber das hat sie verdient. Dafür wird sie büßen. Ich öffne die Zuckerdose und hole den 50-Mark-Schein heraus, den sie dort deponiert hat. Friedrich Engels‘ Konterfei blickt mir vorwurfsvoll von dem roten Scheinchen entgegen. Unbehaglich lege ich den Schein mit dem Portrait des großen Mäzens des Vordenkers der Arbeiterklasse nach unten auf den Tisch. Das olle Chemiewerk auf der Rückseite raucht wenigstens einfach ausdruckslos vor sich hin. In seiner Komplexität strahlt es eine Stärke und Ruhe aus, die mir wieder etwas Halt gibt. Wie die Schornsteine da in die Höhe ragen, hat es beinahe etwas Majestätisches. Man könnte glatt vergessen, wie doll es zwischen Espenhain und Wolfen immer stinkt. Und Olafs Tante aus Böhlen, die ihre Wäsche nie raushängen kann, weil sie dann ganz braun wird, ist auch nirgends zu sehen.

      Ach verdammt! Ich knülle den Schein zusammen und stecke ihn in die Hosentasche. Eine Bestandsaufnahme der Vorräte nebst Einkaufszettel ist schnell gemacht und so mache ich mich auf den Weg zum Versorgungszentrum.

      So ein VZ ist eine großartige Erfindung. Unten die Kaufhalle, in der man fast alles bekommen kann, was man sich wünscht, vorausgesetzt man ist eher der bescheidene Typ, oben mehrere Geschäfte, eine Poliklinik und ein Restaurant. Alles, was man braucht auf der Fläche eines Fußballfelds. Schön übersichtlich, man kennt sich. Weil jedes Viertel im Neubaugebiet sein eigenes VZ hat, bekommt man nur ganz selten jemanden zu sehen, dessen Gesicht man nicht zuordnen kann.

      Umso erstaunter bin ich, als ich vor der Kaufhalle einen kleinen Menschenauflauf bemerke. Unter den Leuten, die Maulaffen feilhalten, sind erstaunlich viele unbekannte Gesichter. Alle glotzen auf die Eingangstür der Kaufhalle, die für meine Blicke hinter den Köpfen der Schaulustigen verborgen bleibt.

      Was es heute wohl geben wird? Im November standen die Leute so da, als es das erste Mal Berge von Bananen gab. Aber daran haben wir uns doch inzwischen gewöhnt, oder? Nach und nach zerstreut sich die Menge. Die meisten der Wartenden strömen durch die Kaufhallentür nach innen, einige drehen aber einfach ab. Sie sind wirklich nur stehen geblieben, um mit den anderen im Kollektiv zu staunen.

      Als sich die Menschenmenge so weit aufgelöst hat, dass ich einen Blick auf die Kaufhalle werfen kann, gerate ich vor Schreck beinahe ins Stolpern. Wo vor zwei Wochen noch eine ausdruckslose weiße Tür aus dem grauen Betonkasten des Versorgungszentrums herausgrüßte, strahlt mir jetzt