es seinem Freund sehr nahe ging.
„Und wie läuft es in der Poststelle?“, fragte Luqman.
„Viel Arbeit, viel zu viel Arbeit. Ich habe das Gefühl, das ich die ganzen Briefe Teherans allein austragen muss.“
„Stell dich nicht so an. Wenigstens riechst du nach Feierabend nicht nach rohem Fleisch.“
Die Menschenmenge verdichtete sich. Yassir spürte am Rücken die warmen Körper, die sich an ihm vorbeidrängten.
„Fünfhundert Gramm, wie immer?“, fragte Luqman, während er das tote Lamm vom Haken nahm.
Neben ihm gackerten ein paar Hühner, die in Holzkäfigen eingesperrt waren. Hektisch schlugen sie mit den Flügeln und berührten mit ihren blutroten Kämmen die Stäbe. Yassir nickte dem Metzger zu und wandte sich um. Sein Sohn war nicht in Sichtweite. Er wurde unruhig. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl und er bereute es, dass er seinen kleinen Jungen so leichtsinnig weggeschickt hatte.
„Bereite schon mal alles vor. Ich hol´s später ab“, sagte Yassir. Dabei drückte er Luqman dreißig Rial in die Hand.
Yassir drängte sich durch die Menschenmasse, die wie eine Wand vor ihm stand. Bärtige Männer und schwarze Burkas tauchten vor seinem Auge auf. Alle Menschen sahen ähnlich aus. Yassir kam es vor, als wenn ihm immer wieder die gleichen Personen entgegen laufen würden. Am Rand nahm er die vielen Stände auf dem Basar wahr, die Imitate westlicher Markenprodukte verkauften. Gefälschte Uhren, Jeanshosen und Elektronikgeräte türmten sich auf viel zu kleinen Tischen. Laute Stimmen schallten von allen Seiten und verwirrten ihn, so dass er Gefahr lief, die Orientierung zu verlieren. Mehrere Marktbesucher rempelten ihn an, aber Yassir nahm sie nur schemenhaft wahr.
Endlich entdeckte er die Ziege und den Obststand.
„Faris! Faris!“, rief er.
„Was ist?“, raunte der Händler, der gerade frische Orangen in einen Weidenkorb legte.
„Hast du meinen Sohn gesehen?“
„Nein, wieso sollte ich!?“ Faris zuckte desinteressiert mit den Achseln.
„Er muss hier gewesen sein. Er wollte sich deine Ziege anschauen.“
„Hier war er jedenfalls nicht und jetzt lass mich weiterarbeiten.“
Die gleichgültige Kälte, die der Obsthändler ausstrahlte, erschreckte Yassir. Hektisch lief er das ganze Gelände ab. Seine Beine schmerzten bereits und der Schweiß lief ihm den ganzen Oberkörper runter. Der gelbe Sandstaub, der vom Boden aufgewirbelt wurde, blieb an seinen nassen Füßen haften. Die groben Körner scheuerten unangenehm zwischen den Zehen und Lederriemen seiner Sandalen.
„Bassam, Bassam,…!“, rief er immer wieder und wieder, aber er bekam keine Antwort.
***
„Wo haben Sie ihren Sohn das letzte Mal gesehen?“, fragte der Polizist.
„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Am Fleischstand von Luqman Cyrus“, antwortete Yassir, der seinen Arm um seine zitternde Frau, Nia, gelegt hatte.
„Bitte, finden Sie meinen Sohn“, flehte sie und brach erneut in Tränen aus.
Der Polizist zog ein Taschentuch aus der Hemdtasche seiner grauen Uniform, das er Nia reichte. Sie trocknete sich damit ihre tränenbenetzten Wangen.
„Ich bin mir sicher, dass es ihrem Sohn gut geht. Er ist bestimmt nur zu einem Freund gelaufen. Solche Vorfälle haben wir ständig.“
„Wir haben schon alle Eltern benachrichtigt“, meinte Yassir und verlor allmählich die Geduld. „Starten Sie doch eine Suchaktion.“
Der Polizist schmunzelte, woraufhin Yassir fast in Rage geriet.
„Das geht nicht so einfach“, meinte der junge Mann. „Ihr Sohn muss erst einige Stunden verschwunden sein, bis wir die Erlaubnis für so etwas bekommen.“
Yassirs Kopf dröhnte und er verspürte das Verlangen, den Gesetzeshüter an die Wand zu drücken, fing sich aber wieder.
„Können Sie denn gar nichts machen?“
„Ich muss mich an die Vorschriften halten. Außerdem hat die Polizei von Teheran noch viele andere Fälle zu lösen. Ich kann Sie nur bitten sich in Geduld zu üben.“
„Wie können Sie so etwas sagen?!“, brüllte Yassir. „Mein Sohn läuft da draußen alleine rum. Vielleicht hat ihn schon irgendein Verrückter entführt!“
Der junge Mann massierte sich nachdenklich seinen fleischigen Nacken.
„Bitte suchen Sie meinen Sohn. Bitte, ich flehe Sie an. Allah wird es Ihnen danken.“ Nia hatte den Arm des Polizisten ergriffen, der sich löste und langsam von ihr distanzierte.
„Es tut mir leid“, sagte er, während er sich die schwarze Schirmmütze wieder aufsetzte. „Kommen Sie nach ein paar Stunden aufs Präsidium und geben Sie eine Vermisstenanzeige auf. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.“
Nia wollte wieder zu ihm stürzen, aber Yassir hielt sie fest. Er drückte sie an seine Brust, in der er schweren Druck fühlte. Der Polizist drehte sich ein letztes Mal um, bevor er in die Abendsonne Teherans trat. Plötzlich stieß Nia ihren Mann kräftig von sich. Ihre braunen Augen sprühten vor Hass.
„Das ist alles deine Schuld, du hast ihn allein gelassen“, zischte sie.
Yassir fing sich eine Ohrfeige, die er wie eine Bestrafung hinnahm. Verlegen blickte er auf den Boden.
„Du hast ihn allein gelassen, meinen Bassam, mein Baby!“, schrie sie, während sie mit ihren Fäusten auf ihn einschlug. Yassir konnte ihr einfach nicht widersprechen, da er wusste, dass sie recht hatte. Er drückte sie noch mal fest an sich, dass sie nicht mehr zum Schlag ausholen konnte. Ihre Muskeln erschlafften. Sekunden später vernahm er nur noch ein Schluchzen. Der Stoff an seiner Brust tränkte sich langsam mit ihren salzigen Tränen.
„Es wird alles gut, alles gut“, tröstete er sie, während er über ihr schwarzes, langes Haar strich.
1
19 Jahre später
Teheran, 17.Juli.2006
„Ist der Himmel nicht wunderschön“, seufzte Yassir, während er nach dem Glas mit der Zitronenlimonade griff. Das Kondenswasser perlte bereits an der Außenseite ab. Er saß auf dem Dach seiner Behausung. Neben ihm lag Nia auf einem Liegestuhl und blickte, wie hypnotisiert in den Himmel. Keine Wolke war zu sehen und die schwüle Hitze war drückend. Das Blau breitete sich wie eine unendliche Leinwand über ihnen aus. Yassir blickte zu ihr rüber, aber sie ignorierte ihn. Seit dem Verschwinden Bassams schien der Zorn auf ihn kaum nachgelassen zu haben. Aus der einst lebensfrohen Frau war ein verbitterter Mensch geworden. Yassir erkannte sie kaum noch wieder. Nachts hatte er sogar das Gefühl, als läge eine völlig Fremde neben ihm. Auch äußerlich hatte sie sich im Laufe der Jahre enorm verändert. Ihr geschmeidiges, schwarzes Haar war wellig geworden und von grauen Strähnen durchzogen. Auf ihrem Gesicht hatte die Zeit einige Falten hinterlassen. Ein Lachen hatte er schon seit Jahren nicht mehr von ihr sehen können, und wenn sie es tat, wirkte es gezwungen und es bildeten sich Krähenfüße um ihre Augen.
„Ich habe Kopfschmerzen.“ Sie stand auf und stieg durch die Dachluke runter in die Wohnung.
Yassir hatte sich an die Kälte, die sie ihm zu spüren gab zwar gewöhnt, aber es tat ihm im Herzen immer noch weh, dass sie ihn so herablassend behandelte. Die Schuld und die Trauer um Bassam hatten ihn selbst fast in den Wahnsinn getrieben. Ein Fehler, der heute noch seine Seele in Stücke riss. Seufzend trank er aus seinem Glas und spürte die erfrischende Wirkung der Kohlensäure, die seine Kehle runterlief. Er blickte über zahlreiche Häuser, die die Wärme des Tages aufnahmen und den Menschen in den kalten Nächten zugute kam. Von hier konnte er sogar die Schahid Mottahari Moschee sehen, deren bunte Kuppel einen langen Schatten auf die