Byung-uk Lee

Stimme aus der Tiefe


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mit dem Rücken zu ihr. Dann tat sie etwas, das er nicht für möglich gehalten hatte. Mit ihrer Hand strich sie sanft über seine Schulter. Er drehte sich zu ihr um und sie sahen sich einige Minuten schweigend in die Augen. Dann küssten sie sich. Der erste Kuss seit einer Ewigkeit. So lange hatte er darauf gehofft, dass seine Frau doch noch Gefühle für ihn zeigen würde. Dieser innige Moment spendete ihm so viel Trost, dass er die Ängste sogar für einen kurzen Augenblick vergessen konnte. Die Angst, die er vor dem hatte, was ihm der Unbekannte die nächsten Tage erzählen würde. Die Angst, Bassam trotz aller Bemühungen nicht zu finden. Die Angst, dass seine Frau ein zweites Mal in ein tiefes, emotionales Loch fallen würde.

      „Allah hat uns eine zweite Chance gegeben“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Neue Hoffnung …“

      „Nia…“, meinte Yassir. Denn er wusste, was in ihr vorging.

      „Lass mich bitte ausreden. Ich weiß, dass ich dich die letzten Jahre ungerecht behandelt habe. Ich weiß, dass ich zu einer unerträglichen Person geworden bin, aber den Verlust um meinen einzigen Sohn habe bis heute nicht verkraftet. Nun sind diese Leute aufgetaucht und ich fühle wieder Leben in mir. Bitte entreiß mir nicht die einzige Hoffnung, die mich noch am Leben hält. Bitte unterlass jegliche Äußerungen, auch wenn sie dir noch so realistisch erscheinen, die mir den Wunsch Bassam wieder in meine Arme zu schließen, nehmen. Denn du tust mir damit weh.“

      „Ich wollte dich nur vor dir selbst schützen. Es war kaum zu ertragen dich so zu sehen, als du das letzte Mal daran zerbrochen bist. Ich will dich nicht mehr so verletzlich sehen, deswegen habe ich versucht, die Dinge klarer zu sehen. Keinesfalls wollte ich dich damit kränken.“

      Sie umarmten sich und schliefen gemeinsam ein.

      ***

      „Wie, du kommst die nächsten Tage nicht zur Arbeit?“ Die aufgebrachte Stimme Farbods dröhnte schmerzhaft in Yassirs Ohr, der den Hörer deswegen etwas weiter vom Kopf weghielt. Farbod, der das Postamt leitete, war ein kugelrunder, schnell aufbrausender Mann, der immer einen roten Kopf hatte. Alle Mitarbeiter wussten, dass er an seinem Schreibtisch saß und des Öfteren die Schublade, in der sich die Rakiflasche befand, herauszog. Alkohol war sein einziges Laster, das aber dafür schwere Strafen nach sich ziehen konnte. Von Peitschenhieben bis zur Hinrichtung. Das Spektrum der gesetzlichen Grausamkeit war weit gefächert. Kein Mitarbeiter wagte es allerdings Farbod bei den Behörden zu melden.

      „Ich muss mich um eine wichtige Angelegenheit kümmern.“ Eigentlich hätte Yassir eine Krankheit vorgaukeln können, aber er wollte ehrlich sein.

      „Deinen Privatkram kannst du in deiner Freizeit erledigen!“, brüllte Farbod. Yassir merkte, dass sein Chef schon leicht angetrunken war. „Wir sind sowieso schon unterbesetzt. Was ist das nur für eine Arbeitsmoral …“

      „Ich werde die fehlenden Stunden nachholen, versprochen.“ Yassir versuchte versöhnlich zu klingen, obwohl er seinen Vorgesetzten nicht leiden konnte. „Diese Sache ist für mich sehr wichtig. Sie muss jetzt erledigt werden.“

      Weitere Schimpftiraden drangen noch aus der Hörmuschel, aber Yassir legte einfach auf.

      Um Punkt 10 Uhr wollten ihn die beiden Polizisten abholen. Nia saß mit ihm am Küchentisch, wo sie gemeinsam ihr Frühstück verzehrten.

      „Wieso kann ich nicht mitkommen?“, fragte sie.

      „Weil es zu diesem Zeitpunkt einfach nicht gut für dich ist“, sagte Yassir, nachdem er einen kräftigen Schluck Kaffee getrunken hatte. „Bitte sei nicht traurig. Ich habe dir doch die Gründe erklärt.“ Zärtlich ergriff er ihre Hand. Eine Geste, die er sich noch am Vortag nicht zugetraut hätte.

      Enttäuscht stand Nia auf und holte das frisch gebackene Fladenbrot aus dem Ofen, das sie mit etwas Hammelfleisch in eine Plastikbox packte.

      „Dann bring ihm das von mir“, sagte sie und verschwand wieder im Schlafzimmer.

      ***

      Die Fahrt kam Yassir beim zweiten Mal nicht mehr so lang vor. Bereits am frühen Vormittag war das Wetter brühend heiß und die Polizisten stellten ihm sogar mehrere Flaschen mit Wasser neben den Stuhl.

      „Wir fahren dann wieder in die Stadt zurück“, meinte der Kleinere.

      „Warten Sie, wie komme ich denn wieder zurück?“ Schnell war Yassir von seinem Platz aufgesprungen.

      „Natürlich kommen wir heute noch wieder“, meinte erneut der Kleine und rollte mit den Augen. „Oder denken Sie etwa, dass wir vorhatten, Sie hier verdursten zu lassen.“

      Beruhigt sank Yassir auf den Stuhl. Er fragte sich, wie viele Stunden er hier verbringen musste. Der Wagen zog wieder eine dicke Staubwolke hinter sich her, als er davonfuhr.

      „Sind die beiden weg?“

      Yassir zuckte erschrocken zusammen. Wie aus dem Nichts schien die Stimme zu kommen. Ein ungewohntes Gespräch für ihn.

      „Ja, sie sind gerade weggefahren“, rief er ins Loch hinein.

      „Ich hasse die beiden“, meinte Hussein. „Wie geht es Ihnen heute?“

      „Nicht gut, ich vermisse meinen Sohn“, sagte Yassir mit zitternder Stimme. Die Sonne brannte ihm direkt auf den schweißbenetzten Nacken. Von unten konnte man ein Keuchen vernehmen.

      „Behandelt man dich gut?“, fragte Yassir.

      „Was denken Sie wohl? Aber ich wollte es nicht anders“, meinte Hussein hustend.

      „Meine Frau hat mir etwas Proviant für dich mitgegeben.“ Zuerst zögerte Yassir, aber dann ließ er die Box ins Loch fallen. Sie sollte auf eine Stelle landen, die von den Sonnenstrahlen erhellt wurde. Um jeden Preis wollte er das Gesicht des Gefangenen sehen.

      „Danke“, sagte Hussein verlegen, aber er ging nicht hin, um sich das Essen zu holen.

      „Hast du denn keinen Appetit?“, fragte Yassir.

      „Ich werde es mir später holen“, meinte der Gefangene, der seine List durchschaut zu haben schien.

      „Wie ich höre, kommst du von einem kleinen Ort in der Nähe von Jiroft.“

      „Das stimmt, ist mein Heimatdorf. Seit zwei Jahren lebe ich aber hier in Teheran.“

      Schweißperlen liefen Yassir in die Augen, die fürchterlich zu brennen anfingen. Mit einem Tuch tupfte er sich die Stirn ab. Er versuchte jeden Drang zu unterdrücken, nach Bassam zu fragen. Denn er wollte die Vereinbarung nicht brechen. Vielleicht würde Hussein ihm dann keine einzige Information mehr geben.

      „Was hat dich in die Hauptstadt verschlagen?“, fragte er schwer schluckend. Er leckte sich über die salzigen Lippen. Durch die Hitze war sein Mund völlig ausgedörrt. Yassir griff sich die erste Wasserflasche, aus der er einen kräftigen Schluck nahm.

      „Ich habe Medizin an der Teheraner Universität studiert.“

      „Weswegen wird ein so gebildeter Mensch ins Gefängnis gesperrt?“

      „Die menschliche Niedertracht hat keinen Bildungsgrad“, antwortete Hussein trocken. „Ich werde Ihnen jetzt erzählen, wie ich in dieses Loch gekommen bin.“

      2

       Bassam war schon immer bei uns gewesen. Ich bin sozusagen mit ihm aufgewachsen. Erst später erfuhr ich, dass er nicht mein leiblicher Baradar war. Meine Eltern dachten immer, dass sie keine Kinder bekommen konnten, daher haben sie sich Bassam geholt, aber dann kam ich, Djamal Hussein, zur Welt und für Bassam hatte sich schlagartig alles verändert.

      ***

      „Das waren deine Eltern, die meinen kleinen Jungen entführt haben!?“ Entsetzt war Yassir von seinem Stuhl aufgestanden.

      „Ja“, gestand Hussein leicht beschämt.

      „Ich glaub das alles nicht. Was