Hussein mit lauter Stimme, in der das höchste Maß an Selbstbewusstsein lag.
Yassir setzte sich im Schneidersitz auf den steinigen Boden und hielt sich angespannt die Stirn, hinter der es mächtig brodelte. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit, dass er mit dem Sohn der Entführer reden würde.
„Haben Sie sich wieder beruhigt?“, fragte der Gefangene.
„Er war damals noch ein Kind. Er war ja damals selbst noch ein Kind. Er kann nichts dafür“, wiederholte Yassir leise immer wieder diese Worte. Es erforderte große Anstrengung, bis er wieder die Fassung erlangte.
„Hören Sie, ich weiß, dass die Situation nicht einfach für Sie sein wird, aber egal was ich Ihnen erzähle, Sie müssen genau zuhören, und mich nicht ständig unterbrechen. Haben Sie mich verstanden?“
Ohne Widerworte blickte Yassir ins Loch. Der Boden unter ihm fühlte sich warm an. Was würde Nia dazu sagen? Er durfte ihr nicht davon erzählen, sonst würde sie am nächsten Tag mit Sicherheit mitkommen wollen, ohne dass er sie diesmal davon abhalten könnte. Diese schreckliche Erkenntnis würde sie wieder runterreißen. Ihre unbändige Wut und Enttäuschung würde sie wie einen Feuerball auf den Gefangenen schmettern.
Benommen trank Yassir noch einen großen Schluck aus der Wasserflasche und wischte sich den Mund ab.
„Ja, keine Unterbrechungen mehr, versprochen.“
***
Mein Vater, Siamak, und meine Mutter, Elham, liebten mich, wie man einen Sohn nur lieben kann. Mir fehlte es an nichts. Ich war ihr unerwartetes Geschenk, das vom Himmel gefallen ist, sagten sie immer. Auch Bassam hatten sie ihre Liebe geschenkt, aber mit meiner Geburt schwächte ihre Fürsorge für ihn zunehmend ab.
Wir lebten in einer kleinen Lehmhütte, die sich außerhalb des Dorfes befand. Viel Geld hatten wir nie besessen. Wir waren sogar bettelarm. Jeder Rial, den mein Vater verdiente, wurde für meine spätere Ausbildung gespart. Mein Vater, der auf dem Feld eines ansässigen Weizenbauern beschäftigt war, ging jeden Tag zur Arbeit, während meine Mutter das Haus hütete. Jeden Abend kam er Heim, mit schmutzigen Händen, die voller Schwielen waren. Er war ein tüchtiger Mann, der die schwersten Arbeiten nicht scheute und gut für uns sorgte.
Bassam und ich spielten häufig miteinander, aber schon als kleines Kind bemerkte ich, dass ihm etwas fehlte. Die fehlende Zuneigung seitens meiner Eltern wandelte sich immer mehr in Taten. Es begann damit, dass Bassam nicht mehr mit uns am Tisch essen durfte. Meistens hockte er auf dem dreckigen Boden oder ging hinaus, um sich auf einen Felsstein zu setzen. Die einzige Pritsche, die wir hatten teilten wir uns, wie eine Familie das nun mal macht. Bassam musste auf dem harten Boden schlafen. Das Essen, das er bekam, war auch schlechter. Meistens gab man ihm altes Brot oder sogar verdorbenes Fleisch, von dem er tagelang an Durchfall litt. Ich bemitleidete ihn, denn er war schließlich mein Baradar. Doch meine Eltern gaben mir zu verstehen, dass mein Mitleid unberechtigt war, bis ich es hinterher sogar für richtig hielt, ihn genauso zu behandeln.
„Er ist schlechter als du, mein Sohn“, sagte mein Vater.
„Wieso?“, fragte ich. „Er ist doch mein Bruder.“
Die Antwort war mehr als falsch, aber da ich noch ein Kind war, hielt ich sie für die Wahrheit. Denn ich glaubte alles, was mein Baba mir sagte.
„Weil er kein richtiger Hussein ist. Er gehört nicht zur Familie.“
Das reichte für mich als Erklärung vollkommen aus, obwohl ich damals nicht wirklich verstand, was er genau damit meinte. Sie duldeten es zwar, dass ich mit Bassam spielte, aber ich sollte nicht zu viel Zeit mit ihm verbringen. Während ich täglich die Dorfschule besuchte, musste Bassam meiner Mutter im Haushalt helfen. Einmal kam ich vom Unterricht heim und er saß auf dem Felsstein vor unserer Behausung. Schon von Weitem konnte ich ihn dort sitzen sehen. In gekrümmter Haltung lehnte er am warmen Stein. Erst als ich näher kam, sah ich, dass er weinte. Tränen liefen ihm unentwegt über die Wangen, die er sich beschämt, als er mich kommen sah, mit den Ärmeln seines grau gestreiften Gewands wegwischte.
„Was ist passiert?“, fragte ich erstaunt, da ich ihn vorher noch nie weinen gesehen habe, obwohl er täglich den Schikanen meiner Eltern ausgesetzt war.
„Nichts“, log Bassam und dabei ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen.
„Das glaub ich dir nicht.“
Er fing wieder an zu schluchzen.
„Elham hat mich geschlagen“, meinte er.
„Das glaub ich dir auch nicht, du lügst doch.“ Wütend starrte ich ihn an.
„Doch es stimmt“, erzählte er weiter. „Ich habe versehentlich beim Wasserholen den Tonkrug zerbrochen. Da ist sie laut geworden und hat mir eine Ohrfeige gegeben.“
Obwohl sein Anblick mir leid tat, hielt ich die Bestrafung für richtig. Denn ich dachte immer, dass meine Madar schon ihre Gründe hatte, Bassam so zu erziehen.
„Sei nächstes Mal etwas vorsichtiger“, sagte ich, während ich ihm auf die Schulter klopfte.
Zu meinem achten Geburtstag schenkte mir mein Baba ein selbst gemachtes Schahbrett. Ich freute mich dermaßen darüber, dass ich es sogar mit zur Schule nahm, um es meinen Freunden zu zeigen.
„Wenn ich von der Arbeit komme, werde ich dir die Regeln beibringen“, versprach er.
„Danke, Baba.“ Ich umarmte meinen Vater, der sich ein herzhaftes Lachen verkneifen konnte.
Bassam kam gerade zur Tür hinein und sah das Brett auf dem Tisch. In beiden Händen hatte er Tonkrüge, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren. Seine Arme zitterten, sodass ein wenig Wasser über die Ränder schwappte und den Boden befeuchtete.
„Kannst du nicht aufpassen“, schimpfte Siamak und schlug ihm mit der Handfläche auf den Hinterkopf.
Bassam erschrak und ließ beide Krüge fallen, die scheppernd auf dem Boden zerbrachen. Meine Mutter stand am Herd und blickte ihn entsetzt an. Wütend zog sich mein Baba den Gürtel aus und legte Bassam übers Knie. Das Peitschen bei jedem Schlag verursachte mir eine Gänsehaut.
„Bitte Baba, ich werde es nicht noch mal tun!“, schrie Bassam verzweifelt. Sein Gesicht hatte sich vor Schmerz unnatürlich verzerrt.
„Ich bin nicht dein verdammter Baba“, sagte mein Vater und schlug noch fester zu.
„Bitte Siamak, es kommt nicht wieder vor“, flehte Bassam.
Ich konnte nur daneben stehen und dabei zusehen, wie mein Vater ihn bestrafte. Bis ich es nicht mehr aushielt und mir beide Hände auf die Augen presste. Als ich nichts mehr hörte, nahm ich sie weg. Bassam war in eine Ecke des Zimmers gelaufen, wo er neben dem Ofen aus Gusseisen kauerte und weinte. Mein Vater aß seelenruhig weiter sein Brot, während meine Mutter begann, die Scherben wegzuräumen. Böse blickte sie zu Bassam, der sein Gesicht ängstlich hinter den verschränkten Armen versteckte, die dürr und an einigen Stellen mit Schmutz überzogen waren.
Der Brunnen vor unserem Haus konnte uns nur begrenzt mit Wasser versorgen. Waschen mussten wir uns trotzdem. Bei den hohen Temperaturen schwitzte man den ganzen Tag und der Gestank war nachts kaum auszuhalten. Dennoch wuschen wir uns nur einmal wöchentlich. Bassam durfte sich nur waschen, wenn er die Erlaubnis meiner Eltern erhielt, die er nur bekam, wenn er so sehr stank, dass man es im Haus kaum aushielt. Meistens waren sie darüber sehr verärgert und schimpften mit ihm.
„Wir stinken doch genauso, wenn wir uns nicht waschen“, verteidigte ich ihn.
„Das ist was anderes“, sagte mein Vater. „Bassam ist ein Sonderfall.“
Ein Sonderfall so nannte er ihn tatsächlich.