Gebet stieg er die Leiter runter. Die Wohnung lag im Dunkeln. Die Vorhänge waren zugezogen. Ein Abbild des Seelenzustands seiner Frau. Schon seit Langem hatte sie das Haus nicht mehr verlassen, geschweige denn unter Menschen gekommen. Einige Male wollte Yassir sie zum Essen ausführen.
„Es wird dir gut tun“, hatte er gesagt, aber ihre Antwort war immer die Gleiche gewesen.
„Ich will nicht, ich fühl mich heute nicht gut.“
Yassir setzte sich müde an den Tisch. Nia, die in der Küche stand, wo sie einen Fisch anbriet, blickte kurz zu ihm rüber.
„Essen ist gleich fertig“, sagte sie mit einer schläfrigen Stimme.
Am liebsten wollte Yassir seine Arme um sie legen, während sie noch am Herd stand, aber sie spürte schon lange für ihn keine Zuneigung mehr. Alles hatte sich verändert. Er hatte nicht nur sein einziges Kind verloren, sondern auch seine Frau. Stille hatte sich in der ganzen Wohnung ausgebreitet. Nur das in der Pfanne brutzelnde Fett war zu hören.
„Warte, ich helfe.“ Yassir war aufgestanden, als seine Frau begann, den Tisch zu decken.
„Brauchst du nicht“, meinte sie.
Er ignorierte ihre Aussage und gemeinsam stellten sie Schüsseln, die mit Oliven, Fladenbrot und Schafskäse gefüllt waren, auf den Tisch. Ein verlegenes Lächeln war in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie nahm die Pfanne vom Herd und stellte sie auf die Mitte der Tischfläche.
Zögerlich setzte sie sich hin. Auf den Stuhl, der sich möglichst weit weg von ihm befand. Sie ertrug seine Nähe nicht. Selbst jetzt nicht, nach so einer langen Zeit. Einige Male hatte er, seit dem Verschwinden Bassams, versucht ihr körperlich zu nähern, aber war immer wieder von ihr zurückgewiesen worden, als würde er sie anwidern. Irgendwann hatte er es ganz aufgegeben. Durch die emotionale Kälte in ihrer Ehe hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich von ihr zu trennen, aber er machte sich Sorgen, dass sie von den Leuten geächtet sein würde. Eine geschiedene Frau war in dieser Gesellschaft nichts wert. Das wollte Yassir ihr nicht antun. Denn sie hatte genug gelitten. Trotzdem ertrug er es kaum noch sich mit ihr im gleichen Zimmer zu befinden.
Schweigend fing Yassir an zu essen. Das Dankgebet sprachen sie schon lange nicht mehr. Mit dem Verschwinden ihres Sohnes schien auch ihr Glaube verschwunden zu sein. Yassir war den ganzen Tag durch die engen Gassen Teherans gelaufen. Bei der Hitze eine Knochenarbeit, die er allerdings schon seit über zwanzig Jahren machte. Er hatte das Gefühl, dass die Ledertasche, die mit Briefen und kleineren Paketen gefüllt war, täglich etwas schwerer wurde. Dementsprechend groß war auch sein Appetit. Fleißig langte er zu und schob sich dabei gleichzeitig Fisch und Brot in den Mund. Nia aß nichts. Sie saß nur da und blickte ihn giftig an.
„Wie kannst du nur fressen wie ein Schwein, nach all dem. Wie kannst du nur so einfach weiterleben, als wenn nichts geschehen wäre.“ Wie aus dem Nichts kamen jedes Mal ihre Sticheleien.
Yassir blieb das Essen fast im Halse stecken, als er die Veränderung in ihrer Stimme hörte. Seine Kaubewegungen verlangsamten sich. Nia war aufgestanden und ins Schlafzimmer gegangen, wo sie sich ausgezehrt ins Bett legte. Yassir hielt es nicht mehr länger aus. Hastig stürmte er ins Zimmer. Sie hatte ihre Augen geschlossen und tat so, als würde sie bereits schlafen.
„Was erwartest du von mir!? Ich habe dich unzählige Male auf Knien um Verzeihung gebeten. Denkst du etwa die Erinnerung an Bassam, würde mir nicht das Herz zerreißen. Ich habe damals alles versucht ihn ausfindig zu machen.“
„Wag es nicht seinen Namen auszusprechen“, zischte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.
„Soll ich tot umfallen!? Willst du das von mir!? Selbst wenn ich vor Reue sterben sollte, wirst du deinen Sohn nicht mehr in den Armen halten können.“
„Hör endlich auf!“, schrie sie den Tränen nahe. „Ich will dich einfach nicht mehr sehen.“
Es klopfte, was den Streit zwischen ihnen unterbrach. Völlig aufgewühlt ging Yassir zur Haustür, die er nur einen Spalt öffnete. Das wenige Licht, das eindrang, reichte aus, um den ganzen Raum zu erhellen. Vor ihm standen zwei uniformierte Polizisten. Beide mit Schnauzbart. Der eine allerdings etwas kleiner, als der andere. Trotzdem hätten sie Brüder sein können.
„Yassir Navid!“, sagte der Größere in militärischem Tonfall.
„Ja“, bestätigte Yassir und zog die Tür weiter auf.
„Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen. Der Polizeichef will Sie sprechen.“ Nun meldete sich auch der Kleinere zu Wort. Der Mann wirkte ungeduldig.
„Wollen Sie mir nicht erst erklären, worum es geht. So kommen Sie doch bitte rein.“
„Na gut“, meinte der Große und betrat schweigend das Haus. Neugierig blickte er sich um.
Sein Kollege trat sich die Schuhe ab, bevor er folgte. Eilig wollte Yassir Teewasser aufsetzten, aber ein Polizist hob die Hand und gab ihm zu verstehen, dass es nicht nötig war. Yassirs Herz klopfte. Er wusste schließlich nicht, was diese beiden Herren von ihm wollten. Hatte er vor Kurzem gegen ein Gesetz verstoßen?
„So setzen Sie sich doch.“
Die Polizisten folgten seiner Aufforderung und nahmen am Küchentisch Platz, auf dem noch die fast vollen Schüsseln standen. Yassir eilte zu den Fenstern und zog überall die Vorhänge wieder auf. Der Raum wurde in helles Licht getaucht.
„Haben wir Sie gestört?“, fragte der Große, während er auf den gedeckten Tisch deutete.
„Nein, ich war schon fertig“, log Yassir. Das kaum angerührte Essen entblößte die Lüge.
„Was wollen Sie von mir?“
„Es geht um ihren Sohn, Bassam Navid.“
Yassir stockte der Atem. Beunruhigt blickte er Richtung Schlafzimmer. Nia schien schon eingeschlafen zu sein.
„Wie bitte?“
„Genaueres kann ich Ihnen auch nicht sagen, aber es gibt da jemanden, der weiß, wo er sich befinden könnte.“
„Mein Sohn, sind Sie sich sicher, mein Bassam!?“ Yassir konnte den Polizisten kaum in die Augen blicken. Zu sehr stand er nach diesen Worten unter Schock. Seine Zunge war wie gelähmt und sein Blick panisch. Neunzehn Jahre hatte es keine einzige Spur von Bassam gegeben und jetzt tauchten diese Männer wie aus dem Jenseits auf und nährten seinen Schmerz.
„Wie gesagt, die genauen Details besprechen Sie bitte mit dem Polizeichef. Wir werden Sie umgehend dorthin fahren.“ Fast gleichzeitig waren die beiden Männer aufgestanden, nachdem sie wieder ihre Mützen vom Tisch genommen hatten. Nur der Kleinere setzte sie sich auf. Der andere klemmte sie unter den Arm und ging auf die Haustür zu.
„Was sagten Sie da?“ Die Stimme hinter ihnen ließ Yassir zusammenzucken.
Nia stand in der Küche, mit verweinten Augen blickte sie die Polizisten an.
„Nia… .“Yassir trat ihr einen Schritt entgegen.
„Bassam könnte noch am Leben sein. Ich habe es genau gehört.“
Yassir drückte sie zurück, aber Nia stemmte sich mit all ihrer Kraft gegen ihn.
„Lass mich!“, brüllte sie. „Ich werde mitkommen.“
„Du weißt doch gar nicht, was dahinter steckt. Bleib zu Hause und schone deine Nerven. Ich werde dir alles berichten, sobald ich wieder zu Hause bin.“
Yassir wandte sich um.
„Bitte gehen Sie schon mal vor. Ich komme sofort.“
Die beiden Polizisten blickten sich ratlos an und verließen das Haus.
„Nia, ich weiß, dass es hart für dich sein wird, aber du musst erst hierbleiben. Vielleicht sind es nur haltlose Informationen, die ins Nichts führen. Wenn du dir jetzt zu große Hoffnungen machst, wirst du ein zweites Mal daran zerbrechen.“
Eine