Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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erhob sie sich, glänzend und kühl, aus einer endlos scheinenden Ebene. Eine seltsame Stadt… denn in ihrer Mitte ragte ein riesenhafter Baum empor. Doch dann verflüchtigte sich ihr Bild bereits, wie die beiden zuvor, wie Nebel, der im Sonnenlicht schwindet. Die Geistwesen kehrten in ihre Welt zurück. Doch ehe sie ihn verließen, sprachen sie zu ihm. Er hörte ihre Stimmen in seinem Geist, hörte Worte, die Hoffnung und Sorge zugleich in ihm weckten. Er schloss die Augen und versuchte, ihre Botschaft zu entschlüsseln. Denn die Worte der Geistwesen waren deutlich gewesen, ihre Bedeutung über jeden Zweifel erhaben. Anders jedoch die Bilder, die ihn vor ein Rätsel stellten. Doch fehlte ihm die Zeit, dieses Rätsel zu lösen. Er musste nach Hause, zu Pohawe. Rasch. Sie brauchte ihn. Er lief viele Stunden, wie beseelt, und ohne sich eine Pause zu gönnen. Und erreichte, am Ende seiner Kräfte, sein Dorf am Nachmittag des folgenden Tages. Voller Angst, zu spät zu kommen. Er war viele Tage lang fort gewesen - zu viele? Atemlos verharrte er vor der Hütte, in der er Pohawe zurückgelassen hatte, und horchte nach drinnen. Und hörte - nichts. Nur das aufgeregte Pochen des eigenen Herzens. Und plötzlich zögerte er hineinzugehen, wartete noch, bis sein Herzschlag ruhiger geworden war, und sein Mut größer als die Angst. Erst dann schlug er den Vorhang am Eingang zur Seite, und trat ein. Er sah Pohawe sofort. Sie lag im Halbdunkel, in eine Decke gehüllt, und schlief. Aber sie wirkte so schwach, dass er ohne die Botschaft der Geistwesen jegliche Hoffnung verloren hätte. Die Hebamme, die bei Pohawe wachte, kannte die Botschaft der Geistwesen nicht. Vom nahen Tod der jungen Frau überzeugt, starrte sie den Schamanen böse an, zeigte ihm deutlich, wen sie dafür verantwortlich machte. Doch Achak fehlte die Kraft zu streiten. „Lass uns bitte allein“ sagte er müde. Auf eine Weise jedoch, die keinen Widerspruch duldete. Die Hebamme schnaubte zwar unwillig. Aber sie erhob sich, und ging zum Eingang der Hütte. Wandte sich erst dort wieder um. „Ich werde draußen warten, falls du mich brauchst“ murmelte sie, in einem letzten Versuch, ihre Stellung zu behaupten. Sie war diejenige, die die Schwangeren im Dorf betreute, nicht er! Sie verfügte über das entsprechende Wissen, nicht er! Es war ihre Aufgabe, sich um Pohawe zu kümmern, und nicht seine! Nur, weil er über die Macht der Schamanen verfügte, wagte sie nicht, sich ihm zu widersetzen. Sobald der Vorhang hinter ihr zufiel, überfiel ihn die Erschöpfung mit ungeahnter Macht. Kraftlos sank er neben Pohawe zu Boden und betrachtete sie besorgt. Sie fieberte hoch, schien förmlich zu glühen. Die sanften Wangen waren stark gerötet, die Lippen, trocken und rissig, halb geöffnet. Er sah Pohawes Lider flattern, als erwache sie jeden Moment. Aber sie schlief so fest, dass sie nicht reagierte, als er die Hand prüfend auf ihre Stirn legte. Er hätte sich so gerne zu ihr gelegt und sie seine Nähe spüren lassen – hätte so gerne ihre Nähe gespürt. Aber dann wäre er sofort eingeschlafen, und er wollte wach sein, wenn ihr Schlaf zu Ende ging. Also beließ er die Hand auf Pohawes Stirn, versuchte, ihr mit seinen Kräften die Hitze zu nehmen, und sah ihrem unruhigen Fieberschlaf mit wachsender Sorge zu… wie sie sich schweißgebadet von einer Seite auf die andere wälzte, wie sie die Hände stöhnend auf den gewölbten Leib legte. Fühlte sie nach dem Leben, das darin wuchs? Er hörte sie Worte murmeln, die er nicht verstand. Doch dann schien seine Nähe endlich Wirkung zu zeigen, denn sie wurde ruhiger, und ihr Körper verlor an Hitze, wenn auch nicht viel. Auch ihre Lider zuckten jetzt, stärker als zuvor, öffneten sich - und schlossen sich wieder. Aber nur für einen Augenblick. Dann erwachte Pohawe - und starrte verwirrt auf den Mann, der an ihrem Lager hockte. Wer war er? Und warum schaute er sie mit solch ernster Miene an? Sekunden vergingen, ehe sie ihn erkannte. Im selben Moment huschte ein zartes Lächeln über ihr Gesicht, und sie versuchte, sich aufzurichten. „Bitte bleib liegen!“ Achak drückte sie sanft auf ihr Lager zurück. „Du musst deine Kräfte für unseren Sohn bewahren!“ „Für unseren Sohn?“ fragte sie verblüfft. Aber dann begriff sie, und ihre Augen begannen zu leuchten. „Die Geistwesen sprachen zu dir!!“ „Ja, das taten sie.“ Achak lächelte. „Und sie sagten, dass dem Kind, das du unter deinem Herzen trägst, ein großes Schicksal verhießen ist!“ Ungeachtet aller Sorgen konnte er seinen Stolz nicht mehr länger verbergen. „Unser Sohn trägt eine Gabe in sich, Pohawe, gewaltige Kräfte, gegen die dein Körper sich wehrt. Diese Kräfte sind der Grund, warum das Fieber dich quält. Doch die Geistwesen sagten, dass du ein gesundes Kind gebären wirst, wenn du die Angst vor diesen Kräften verlierst. Sie sagten, du seiest stark genug, es auszutragen, und solltest dich nicht fürchten!“ Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. „Du weißt nicht, welche Last du von mir nimmst, mein Geliebter! Ich fürchtete so sehr, unser Kind sei krank oder trage gar Böses in sich.“ Sie bat ihn, sie nicht mehr alleine zu lassen. Und er blieb bei ihr, Tag und Nacht. Senkte ihr Fieber mit Umschlägen, und flößte ihr Brühe ein, als sie wieder Nahrung zu sich nahm. Hielt sie tröstend im Arm, wann immer sie an ihrer Schwäche zu verzweifeln drohte, und heiterte sie mit Geschichten auf. Dennoch dauerte es Tage, bis Pohawe wieder bei Kräften war. Aber dann blühte sie auf, wie viele schwangere Frauen es tun. Und das Fieber kam nicht wieder. An einem kühlen Morgen im Herbst begab sich das Kind auf den Weg in die Welt. Zunächst waren die Wehen so schwach, dass Pohawe weiterhin ihrer täglichen Arbeit nachging. Erst um die Mittagszeit rief sie nach der Hebamme, die die Hütte bezog, um ihr Beistand zu leisten. Und wie alle anderen werdenden Väter seines Volkes wurde auch Achak jetzt nach draußen geschickt und dazu verdammt, das Geschehen tatenlos zu verfolgen. Hilflos hörte er zu, wie Pohawe sich quälte, wenn eine Wehe ihren Körper durchlief, wenn die Hebamme beruhigend auf sie einredete. Fühlte sich seltsam ausgeschlossen, fast überflüssig, wenn er die beiden Frauen in den Pausen dazwischen reden, manchmal sogar miteinander lachen hörte. Es war auch sein Kind, das in die Welt drängte! Warum konnte er nicht bei Pohawe sein? Warum musste er vor der Hütte warten, wie ein Fremder? Viel mehr noch als bei der Geburt der Tochter wünschte er jetzt, er könne Pohawe beistehen. Viel mehr noch als damals haderte er mit dem Denken seines Volkes, eine Geburt sei allein Sache der Frauen. Und viel mehr noch als damals verwünschte er die endlosen Stunden hilflosen Wartens - auch wenn Freunde und Verwandte ihm dabei immer wieder Gesellschaft leisteten. Weil seine Geduld diesmal auf eine noch härtere Probe gestellt wurde als damals. Aus unerfindlichen Gründen weigerte sich sein Sohn, den schützenden Leib der Mutter zu verlassen. Obwohl Pohawes Wehen immer stärker wurden, und die Abstände zwischen ihnen immer kürzer. Obwohl er nach jeder Wehe mehr auf den erlösenden Schrei des Kindes wartete, auf den Ruf der Hebamme, in die Hütte zu kommen, und das Neugeborene zu begrüßen. Doch jedes Mal wartete er vergeblich. Wurde mit jeder Minute unruhiger, die verging. Irgendetwas verlief nicht so, wie es sollte. Das spürte er deutlich. Irgendwann, als die Nacht schon weit vorangeschritten war, und die Zahl derer, die mit ihm ausharrten, immer kleiner, trat die Hebamme endlich aus der Hütte und winkte ihn zu sich. Allerdings nicht, um ihm die Geburt seines Sohnes zu verkünden. „Ich weiß nicht mehr weiter“ gestand sie sichtlich besorgt. „Alles scheint normal zu sein. Das Kind liegt richtig, und die Wehen sind längst kräftig genug, um es nach draußen zu bringen. Aber irgendetwas hält es im Leib seiner Mutter fest, und Pohawe will nicht zulassen, dass ich es hole – obwohl ihre Kraft zu Ende geht.“ Sie zögerte, und er sah, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen. „Sie verlangt nach dir. Bitte geh zu ihr und überrede sie, dass ich das Kind hole!“ Damit gestand sie nicht nur ihre Hilflosigkeit ein, sie verstieß auch gegen sämtliche Gepflogenheiten ihres Volkes. Doch er fragte nicht nach dem Grund, sondern eilte zu seiner erschöpften Frau. „Wie geht es dir?“ fragte er, und bemühte sich dabei vergeblich, seine Sorgen vor ihr zu verbergen. „Du musst keine Angst um uns beide haben.“ Pohawe lächelte. „Jetzt wird alles gut. Dein Sohn hat nur auf dich gewartet.“ Verblüfft öffnete er den Mund. Aber noch ehe ein Wort seine Lippen verließ, packte Pohawe seine Hand und drückte sie fest. Sie spürte die letzte Wehe kommen und deren Kraft unaufhaltsam zunehmen, sie musste den Druck weitergeben, der ihren Körper zu zerreißen drohte, weil das Kind nun mit aller Macht aus ihrem Leib drängte. Achak spürte seine Hand taub werden. Sah Pohawe den Kopf zurückwerfen, und lauschte ihrem nicht enden wollenden Schrei - erschrocken, und zugleich fasziniert von den Kräften, die in ihr wirkten. Er war so gebannt, dass er nicht bemerkte, wie die Hebamme in die Hütte stürzte und sich zu Pohawes Füßen niederließ. Begriff erst, als seine Frau auf ihr Lager zurücksank, und er das Schreien des Babys vernahm, dass sein Sohn endlich geboren war. Hilflos und verwirrt sah er zu Pohawe hinüber. Aber seine Frau hatte keine Augen mehr für ihn. Mit einem Mal vollkommen entspannt, hing ihr Blick nur noch an dem schreienden Bündel, das die Hebamme routiniert säuberte und einer ersten Untersuchung unterzog, ehe sie es