Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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Doch es war Winter geworden, ehe er Nantai die Worte der Ewigen Sprache anvertraute, die den Zugang zur anderen Welt ermöglichten.

       Und wieder Sommer, als er Nantai in die Geheimnisse der Geist einweihte.

       Und auch dieses Wissen sog Nantai so rasch und gierig in sich auf, dass er den Ältesten ihres Volkes schließlich bat, ihn bei der Ausbildung seines Sohnes zu unterstützen.

       Und dennoch.

       Trotz seines übergroßen Eifers, und trotz der Unterstützung durch nunmehr zwei Lehrer, fand Nantai weder in diesem Jahr, noch in den folgenden einen Zugang zur anderen Weltseite.

       Und auch seine Gabe entzog sich weiterhin seinem Zugriff.

       Trotz aller Bemühungen blieben ihm beide Tore verschlossen.

       Kein Wunder, dass er zu zweifeln begann - am meisten an sich selbst, aber auch an seiner Bestimmung.

       Kein Wunder, dass er sich selbst, und vor allem den Vater, immer häufiger mit bohrenden Fragen quälte.

       Zu Anfang gelang es Achak noch, Nantai die Zweifel zu nehmen, indem er darauf hinwies, dass er trotz seiner Jugend über ein immenses Wissen verfüge, und stolz auf sich sein könne. Nantai müsse sich Zeit geben, sagte der Schamane, manchmal dauere es, bis die Geistwesen ihre Welt für einen der Auserwählten öffneten. Und was seine Gabe betreffe: diese müsse so mächtig sein, dass sie sich wohl erst zeige, wenn er stark genug sei, sie zu beherrschen.

       Doch als Jahr um Jahr verstrich, ohne dass dergleichen geschah, als sich das Tor zur anderen Weltseite noch immer nicht öffnen wollte, begann auch Achak zu ahnen, dass der Weg seines Sohnes ein anderer war, als er glaubte.

       Nantai war nicht zum Schamanen bestimmt. Sonst hätten die Geistwesen ihm längst den Zugang zu ihrer Welt gewährt.

       Auch Nantais Zweifel waren nun größer denn je. Was war seine Bestimmung, wenn nicht die eines Schamanen? Und worin bestand seine Gabe? Warum hatte er bis heute weder ihre Art erkannt, noch Zugang zu ihr gefunden?

       Wie sollte er sie jemals nutzen können, wenn sie sich vor ihm verschloss?

       Und noch schlimmere Zweifel quälten ihn.

       Hatte der Vater die Prophezeiung der Geistwesen falsch verstanden?

       Besaß er gar keine Gabe? Jagte er seit Jahren nur einem Hirngespinst nach?

       Meist verwarf er solche Gedanken sofort wieder. Der Vater war den Geistwesen so nahe wie niemand, und hatte sich noch nie in ihren Botschaften geirrt!

       Manchmal ließen sich solche Gedanken aber nicht so leicht abschütteln.

      Zeigt sich meine Gabe nicht … weil ich ihrer nicht würdig bin? All diese Zweifel waren der Grund, aus dem Nantai seinem zwanzigsten Geburtstag nicht mit Freude entgegensah, wie all anderen, sondern mit Furcht. Nicht, weil er sich an diesem Tag einer geheimnisvollen Prüfung unterziehen musste – jeder hatte sie bestanden, obwohl sie als hart galt. Er fürchtete, was nach dieser Prüfung folgte. Weil der Älteste ihn danach an einen Ort führte, an dem er zum ersten Mal den Geistwesen begegnen würde. Weil sie ihm dort den Lebensweg weisen würden. Weil er fast sicher war, dass dieser Weg ein anderer sein würde, als der, den er ging. Und es dann keine Zweifel mehr an seinem Versagen geben würde. Dann würde ihn nicht einmal mehr die Tatsache trösten können, dass er am Ende dieses Tages in seinem Volk als erwachsen galt.

      Die Prüfung

      Nantai trat aus der Hütte, bekleidet mit dem Festgewand, das Pohawe zurechtgelegt hatte, um dem heutigen Tag einen würdigen Rahmen zu verleihen.

       Ihr Sohn wurde zwanzig!

       Die wichtigsten Stunden seines bisherigen Lebens lagen vor ihm!

       Er sah ihr Gesicht erwartungsvoll auf sich gerichtet, ebenso das des Vaters und der Brüder, die ungewohnt still an Achaks Seite standen. Sogar die Schwester war mit Mann und Kindern gekommen, um ihm Glück für die bevorstehende Prüfung zu wünschen.

       Nantai senkte den Blick. Sie durften nicht sehen, wie unwohl er sich fühlte, sollten nicht ahnen, dass er statt Vorfreude Furcht im Herzen trug.

       „Du siehst gut aus, mein Sohn!“

       Pohawe musterte ihn stolz. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, dass Nantai körperlich längst zum Mann geworden war – und zu einem ausgesprochen attraktiven obendrein. Einen halben Kopf größer als der Vater war er inzwischen, kräftig und muskulös, und dennoch schlank wie ein Reh.

       Auch sein Gesicht war das eines Mannes geworden, obwohl er nicht die hageren Züge Achaks besaß, sondern die ihren - sanft geschwungene Lippen, eine schmale Nase und sehr ausdrucksvolle, tiefdunkle Augen.

       Sie seufzte unhörbar. Von nun an würde Nantai seinen eigenen Weg beschreiten, würde bald eine Familie gründen, und in die eigene Hütte, vielleicht sogar zu einem anderen Stamm ziehen – eine Vorstellung, vor der ihr insgeheim graute.

       Aber schon im nächsten Augenblick haderte sie mit sich selbst.

       Sie sollte nicht an sich denken, sondern an Nantai, der trotz der Bedeutung des heutigen Tages unerklärlich bedrückt wirkte!

       Mit einem aufmunternden Lächeln wandte sie sich zu ihm. „Dies ist dein Tag, Nantai. Heute Abend wirst du ein Mann sein!“

       Nur mit Mühe erwiderte er das Lächeln der Mutter. Wenn sie wüsste, was in ihm vorging! - oder gar die beiden Brüder, deren Blicke voller Bewunderung an ihm hingen! Sie beneideten ihn, weil er nun von niemandem mehr Rat annehmen musste, weil er dem eigenen Willen folgen konnte, ohne respektlos zu erscheinen, und von nun an allein für sein Schicksal verantwortlich war.

       Ein richtiger Mann eben.

       Und dennoch hätte er in diesem Augenblick so gerne mit ihnen getauscht.

       „Möchtest du noch etwas essen, Nantai?“ Pohawe hatte sein Lieblingsgericht gekocht - er sollte sich vor der Prüfung ausreichend stärken.

       Er nickte stumm, setzte sich ans Feuer und begann langsam zu essen, die beiden Brüder ignorierend, die wieder einmal lautstark darum stritten, wem die nächste Portion zustand. Solange, bis Pohawe drohte, sie ohne Frühstück wegzuschicken, und sie damit endlich zum Schweigen brachte.

       Aber die überschüssige Energie der beiden Jungen fand rasch ein neues Ziel. „Erzähl uns noch einmal ganz genau, was heute mit Nantai geschieht“

       bedrängten sie den Vater, der schmunzelnd auf ihre Bitte einging und zum wiederholten Mal erklärte, dass der Älteste ihren Bruder zum See führen würde, um ihn dort auf die Probe zu stellen, und Nantai nach bestandener Prüfung - was außer Frage stand - zu einem verborgenen Ort im Wald bringen würde, an dem auch derjenige den Geistwesen begegnen konnte, der nicht die Fähigkeiten eines Schamanen besaß.

       Allerdings, fügte Achak am Ende bedeutungsvoll hinzu, gebe es hin und wieder jemanden, der dieser Begegnung nicht gewachsen sei. Deshalb bleibe der Älteste stets in der Nähe, um die Verbindung zur anderen Welt zu beenden, sobald er spürte, dass sie Unheil statt Erkenntnis brachte.

       „Was geschieht, wenn dies auch bei Nantai der Fall ist?“ Aufgeregt unterbrach der jüngere den Vater mitten im Satz. „Wird Nantai dann eine zweite Chance erhalten?“

       Achak verzog das Gesicht. „Diese ganz besondere Möglichkeit der Begegnung mit den Geistwesen wird jedem von uns nur ein einziges Mal gewährt“ erwiderte er. „Wird die Verbindung abgebrochen, ist sie für immer vertan. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dein Bruder ist sehr stark. Er wird diesen Kräften ohne Probleme Stand halten.“

       „Warum bist du dir so sicher?“ hakte der ältere nach. „Nur, weil Nantai dein Sohn ist?“

       „Weil ich der Schamane unseres Volkes bin, ihr respektlosen jungen Burschen, und weil niemand außer euch beiden meine Worte anzuzweifeln wagt!!“

       Achaks Stimme klang so drohend, dass es ihm tatsächlich gelang, die beiden einzuschüchtern. Wenn auch nicht für lange.

       „Werden wir so stark sein wie Nantai, wenn wir erwachsen sind?“ folgte nur Sekunden später