Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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Mutter und Kind wirkten wie eine Einheit, durch unsichtbare Bande aneinandergeschweißt, die nichts und niemand mehr auflösen konnte. Ob er jemals eine solch enge Verbindung zu seinem Sohn haben würde? Doch als Pohawe ihn zärtlich anlächelte, und seine Hand nahm, schwand dieses Gefühl wieder. „Wie geht es ihm? Ist alles, wie es sein soll?“ fragte er, an die Hebamme gewandt. „Euer Sohn ist gesund und kräftig!“ Doch trotz der guten Nachricht war die Laune der Frau düster. Sie haderte mit sich, weil sie keine Zeit mehr gefunden hatte, den Schamanen aus der Hütte zu weisen. Weil er nun, entgegen aller Gepflogenheiten, der Geburt des Kindes beigewohnt hatte - und jeder wusste, welche Konsequenzen dies für eine Ehe nach sich zog. Dass ein Mann auf seine Frau herabsah, nachdem er sie in dieser Lage erlebt hatte, und sie nicht mehr begehrte. Ihr Unmut schwand jedoch, als sie sah, mit welcher Hingabe der Schamane seine junge Frau und das Neugeborene betrachtete. Wie zärtlich er Pohawe streichelte, und wie liebevoll er sie küsste. Immer wieder. Er war weder schockiert, noch schien er Pohawe zu verachten! Das Gegenteil war geschehen. Noch niemals hatte sie ihn Pohawe mit solcher Hochachtung begegnen sehen. Als habe er erkannt, welches Wunder sie soeben vollbracht hatte. Deutlich versöhnlicher gestimmt, verließ sie die Hütte - ohne dass drinnen jemand Notiz davon nahm. „Wie geht es dir?“ Achak fragte Pohawe, zum ungezählten Mal, und noch immer sehr beeindruckt, hörte gar nicht mehr auf, ihr Gesicht zu streicheln. „Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr!“ Pohawe küsste ihn, zum ungezählten Mal. Lächelte. „Trotzdem solltest du den anderen endlich unseren Sohn zeigen, wie es der Brauch ist. Sonst erfrieren sie noch!“ Achak grinste verlegen. Er hatte die draußen wartenden Freunde vollkommen vergessen. Rasch wickelte er das Kind in eine warme Decke, nahm es auf den Arm, und trug es vor die Hütte. Hob es dort in die Höhe, damit alle es sahen, und verkündete voller Freude die Geburt seines gesunden Sohnes. Und lächelte sichtlich berührt, als sich das kleine Bündel in seinen Armen heftig zu regen begann, und energisch nach der Mutterbrust verlangte. „Dein Sohn scheint einen starken Willen zu besitzen“ rief jemand. „Du wirst später sicher deine Mühe mit ihm haben!“ Gelächter brach aus, das erst verklang, als Achak die Beruhigungsversuche aufgab und in die Hütte zurückkehrte, wo er Pohawe das Kind übergab. Die Menge vor der Hütte zerstreute sich. Bald würden sie gemeinsam die Ankunft des Kindes feiern, und dabei den Schutz der Geistwesen für sein Leben erbeten. Auch der Himmel über den Wäldern schien die Ankunft des Kindes zu feiern, denn er hatte sich in festlich samtenes Schwarz gehüllt, in dem Abertausende von Sternen wie kostbare Diamanten funkelten. Doch selbst sie verblassten, als ein Schwarm von Sternschnuppen über dem Dorf hernieder ging und die Nacht für wenige Augenblicke wie ein Feuerwerk erhellte, ehe er sich wieder im Dunkel verlor. Wurde ein Kind unter dem Sternenregen geboren, war es nach dem Glauben der Waldvölker zu Besonderem erwählt. Aus diesem Grund erhielt der Junge den Namen Nantai. Ein Name, der nur den großen Führern gebührte.

      Kinderzeit

      Niemand außer Achak und Pohawe wusste von der Botschaft der Geistwesen. Und weil sie darüber Schweigen bewahrten, wusste lange Zeit niemand außer ihnen von Nantais Gabe - nicht einmal er selbst.

       Wie all die anderen Kinder im Dorf lebte er lange Zeit ein unbeschwertes Leben, spielte wie sie die alten Spiele, tobte durch die Wälder, und lernte dabei, was man für das Überleben in der Wildnis brauchte.

       Und wie all die anderen Kinder verließ auch er im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal die heimatliche Siedlung. Seine Schulzeit begann - ein Ereignis, das ihn zunächst mit großem Stolz erfüllte.

       Doch die Schule befand sich einen weiten Fußmarsch entfernt im Städtchen Threetrees am Rande der Wälder - zu weit, um diese Strecke täglich zu gehen, und man hatte ein Internat gebaut, in dem die Kinder der Waldbewohner während der Schulzeit lebten. Ein hartes Los für viele - am härtesten jedoch für Nantai, der sehr an den Eltern hing. Selbst die Nähe der großen Schwester konnte sein Heimweh nicht lindern, das mit jedem Tag zunahm, sodass er glaubte, die Zeit bis zu den Ferien nicht mehr zu ertragen.

       Trotzdem fiel ihm das Lernen erstaunlich leicht.

       Trotzdem lernte er sehr viel rascher Lesen, Schreiben und Rechnen als die anderen, und ebenso die offizielle Sprache des Staates NanGaia, zu dem die Waldgebiete gehörten.

       Mit Beginn des dritten Schuljahrs baten seine Lehrer Nantais Eltern zum Gespräch und rieten Achak und Pohawe, ihren Sohn nach Megalaia zu senden. Nantais Fähigkeiten seien außergewöhnlich, sagten sie, und in der fernen Hauptstadt NanGaias könne man ihn besser fördern.

       Pohawe war hell entsetzt.

       Sie sollte ihr nicht einmal zehnjähriges Kind in die Fremde schicken? Alleine? Und ausgerechnet in die Hauptstadt NanGaias - Megalaia - von der die Legenden besagten, sie habe allein durch das Wirken böser Mächte ihre gewaltige Größe erlangt?

       „Das werden wir nicht tun“ erklärte sie entschieden, als Achak diesen Vorschlag zu ihrem Kummer ernsthaft erwog. „Ich werde nicht zulassen, dass Nantai die Wälder verlässt, erst recht nicht, um in diese Stadt zu gehen. Hast du vergessen, dass man sie die Seelenzerstörerin nennt, dass in ihr Kräfte wirken, die den Menschen die Seele nehmen, und sie zu rastlos Getriebenen machen? Willst du Nantai das wirklich antun?“

       „Ich kenne diese Legenden sehr wohl!“ Achak war sichtlich ungehalten. „Und deshalb weiß ich, dass sie ebenso besagen, Megalaia brauche die Wälder, um sich von diesem Fluch zu befreien. Vielleicht ist Nantai bestimmt, dieser Stadt den Frieden zu bringen. Bedenke, dass die Botschaft der Geistwesen ihm ein großes Schicksal verhieß!“

       Pohawe starrte ihn entgeistert an. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, fehlte ihr das Verständnis für den Gatten. „Das kannst du nicht ernsthaft meinen! Glaubst du tatsächlich, ein einzelner Mensch könne dies bewirken…ein kleiner Junge wie Nantai obendrein? Verwirrt der Stolz auf seine Gabe deine Sinne so sehr, dass du nicht sehen willst, dass er an dieser Stadt zerbrechen würde? Siehst du nicht, dass er die Wälder für sein Wohlergehen ebenso sehr braucht wie unsere Nähe?“

       Achak traute Augen und Ohren nicht. Bis eben war er sich mit Pohawe fast immer einig gewesen, und wenn einmal nicht, war es stets nur um Kleinigkeiten gegangen, und sie hatten den Streit rasch beigelegt. Und noch niemals hatte seine Frau ihn angegriffen wie jetzt, kämpferisch wie eine Bärin, die ihr Junges verteidigt.

       Er begriff, dass sie sehr weit gehen würde, um Nantais Aufenthalt in Megalaia zu verhindern, und entschied, den Streit nicht weiter eskalieren zu lassen.

       „Vielleicht hast du Recht, Nantai ist wirklich noch sehr jung“ lenkte er widerstrebend ein. „Dennoch sollten wir diese Entscheidung nicht ohne ihn treffen. Ich werde mit ihm reden und ihn fragen, wie er zum Vorschlag seiner Lehrer steht. Er wird wissen, was richtig für ihn ist.“

       Aber sein Gespräch mit Nantai endete damit, dass der Junge ihn anschrie „Ihr liebt mich nicht mehr! Sonst würdet ihr mich nicht wegschicken!“, vollkommen aufgelöst in den Wald rannte, und sich dort zwei Tage lang versteckte.

       Und obwohl Nantai die Eltern nach der Rückkehr schluchzend um Vergebung bat, wohl wissend, wie ungerecht sein Vorwurf gewesen war, beschloss Achak, ein zweites, nicht minder ernstes Gespräch mit seinem Sohn zu führen.

       „Du weißt, wie sehr wir dich lieben, Nantai, und dass wir mehr als alles andere wünschen, du mögest dein Glück in den Wäldern finden. Wenn wir jemals erwogen, dich in die Stadt zu senden, dann nur, weil wir glaubten, dies sei der richtige Weg für dich!“

       Nantai hörte mit gesenktem Kopf zu. Und spürte sein Herz vor Freude hüpfen, als der Vater im nächsten Satz verkündete, er dürfe in den Wäldern bleiben.

       „Trotzdem können wir dein Handeln nicht einfach hinnehmen“ fuhr Achak mit strenger Miene fort. „Du hast uns deinen Respekt verweigert, und vor allem deine Mutter durch dein Verhalten sehr verletzt. Auch wenn ich weiß, dass dies nicht in deiner Absicht lag, werde ich dich dafür bestrafen müssen.“

       Nantais nahm die Strafe willig auf sich. Und von diesem Tag an murrte er nicht mehr, wenn er nach Threetrees gehen musste. Von diesem Tag an ertrug er die langen Wochen dort ohne ein Wort der Klage. Weil ihm von diesem Tag an alles besser erschien, als die Wälder zu verlassen.

       Sein