Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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dich.“

       Noch in derselben Nacht erhielt der Schamane die erhoffte Botschaft der Geistwesen. Aber sie nannten ihm nicht die Art von Nantais Gabe, wie er hoffte, sondern befahlen ihm, den Sohn von nun an in die Geheimnisse der Wälder einzuweihen.

       Dies genügte Achak. Für ihn stand fest, dass Nantai zum Schamanen bestimmt war. So wie er selbst.

       Am Morgen des folgenden Tages hörte Nantai zum ersten Mal von den großen Kräften, die in ihm schlummerten – und erfuhr, dass der Vater ihn die Geheimnisse der Waldvölker lehren würde.

       „Das bedeutet, dass du ebenso zum Schamanen bestimmt bist wie ich“ schloss Achak voller Stolz. „Und du wirst einer der mächtigsten werden, die es jemals gab. Kein anderer wurde so früh in die alten Geheimnisse eingeweiht wie du - selbst ich musste nach dem Ritus noch zwei Jahre warten, ehe die Geistwesen mich für würdig befanden. Sie müssen wirklich Großes mit dir vorhaben!“

       Nantai wusste nicht so recht, ob er sich über diese Aussichten freuen oder ob er sich fürchten sollte. Auch wenn es ihn mit Stolz erfüllte, dass die Geistwesen Großes mit ihm vorhatten, erschien ihre Welt ihm seit dem Ritual noch ein wenig unheimlicher als zuvor.

       Doch weil er - so wenig wie der Vater - an seiner Bestimmung zum Schamanen zweifelte, willigte er sofort ein, als Achak vorschlug, mit dem Unterricht zu beginnen. Und nahm diese Lehren so begierig auf, dass er zum ersten Mal seit langer Zeit den Weg zur Schule nur widerstrebend antrat.

       Doch als der Winter kam, und mit ihm die nächsten Ferien, gab es kein Halten mehr. Als habe er sein ganzes Leben darauf gewartet, stürzte er sich jetzt auf die neue Herausforderung. Keine Anstrengung erschien ihm zu viel, keine Entbehrung zu groß, um seiner Bestimmung zu folgen.

       Er beklagte sich nicht, wenn er mitten in der Nacht aufstehen musste, oder Tage lang auf Nahrung verzichten. Nicht, dass nun jede Minute seines Lebens mit Lernen erfüllt schien. Nicht, dass er trotz strenger Kälte mit dem Vater in den Wald zog, anstatt in der warmen Hütte den Geschichten der Mutter zu lauschen wie früher. Nicht, dass ihm keine Zeit blieb, mit den Freunden durch den Schnee zu streifen und abenteuerliche Pläne fürs Frühjahr zu schmieden.

       All dies vermisste er nicht.

       Er wollte nur noch eines.

       Lernen.

       So viel wie möglich, und so rasch wie möglich.

       Deshalb lehnte er empört ab, wenn Achak eine Pause vorschlug und wies den Vater darauf hin, dass am Ende des Winters die Schule wieder begann, und er die Zeit bis dahin nutzen musste. Er wollte keine Sekunde ungenutzt lassen. Wollte am liebsten gar nicht mehr schlafen.

       Und als Achak das Tempo zu drosseln versuchte, wehrte er sich und verlangte energisch, ihn nicht zu schonen. „Ich kann das, Vater. Du musst mir vertrauen!!"

       Aber auch Pohawe, vom großen Eifer ihres Sohnes mehr als bekümmert, versuchte immer wieder, ihn zu bremsen. „Was du tust, kostet dich zu viel Kraft, Nantai! Lass dir Zeit! Bedenke, dass nur eine starke und gesunde Seele in der Lage sein wird, mit den Kräften umzugehen, die in dir wohnen.“

       Vergeblich.

       Nantai erklärte kühl, er sei kein Kind mehr, und wisse genau, was er tue, sie brauche sich nicht zu sorgen. Außerdem lehre nicht sie ihn, sondern der Vater.

       Doch der war hin und her gerissen.

       Obwohl er Pohawes Bedenken teilte, war er zugleich ungemein fasziniert von Nantais Willenskraft, und von der Leichtigkeit, mit der Nantai die alten Lehren aufnahm. Sodass der Stolz des Vaters schließlich über die Bedenken siegte, und er zu Pohawes Unwillen dem Drängen des Sohnes nachgab.

       Eine Zeitlang sah sie dem Treiben stillschweigend zu - bis sie eines Abends die Abwesenheit der Kinder nutzte, um mit Achak zu reden.

       „Ich sehe mit Stolz, wie eifrig Nantai bemüht ist, seiner Bestimmung gerecht zu werden, und wie überaus fähig er sich dabei zeigt“ begann sie vorsichtig -und registrierte zufrieden, dass sie Achaks Aufmerksamkeit sofort gewann.

       „…Trotzdem mache ich mir Sorgen um ihn - was du zum meinem Kummer nicht zu tun scheinst.“

       Der Schamane runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass Nantai sehr viel von sich verlangt, und dass er für diese Herausforderung sehr jung ist. Aber du vergisst, dass er über besondere Fähigkeiten verfügt. Zudem hätten die Geistwesen mir nicht befohlen, ihn zu lehren, wenn sie ihn nicht stark genug wüssten.“

       Pohawe war anderer Ansicht.

       „Die Geistwesen sind nicht am Wohl unseres Sohnes interessiert“ erwiderte sie ernst. „Denn sie betrachten die Welt mit anderen Augen als wir. Sie kennen weder Mitgefühl, noch zählt das Schicksal eines Menschen für sie. Mir hingegen bedeutet Nantai sehr viel - und ich will nicht, dass seine Seele leidet, weil er sich zu viel zumutet.“

       Achak wies ihren unterschwelligen Vorwurf empört zurück. „Wüsste ich, dass Nantais Seele leidet, würde ich mich anders verhalten, Pohawe! Oder glaubst du, dass ich ihn weniger liebe als du? Glaubst du, ich würde von ihm etwas verlangen, was ihm schadet?“

       Pohawe hatte ihn nicht verletzen wollen.

       „Das wollte ich damit nicht sagen“ entschuldigte sie sich sofort. „Ich weiß, dass du Nantai nicht schaden willst. Doch im Gegensatz zu dir glaube ich nicht, dass er auf dem Weg, den er jetzt geht, sein Glück finden wird.“

       „Mir scheint eher, dass du nicht hinnehmen willst, dass er trotz seiner Jugend kein Kind mehr ist, Pohawe.“ In Achaks Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf mit. „Für dich ist Nantai immer noch der Junge, der an deiner Schulter Trost suchen müsste. Aber das tut er nicht – obwohl er deine Unterstützung noch immer braucht. Lass ihn bitte niemals spüren, dass du an ihm zweifelst!“

       Seine Worte trafen Pohawe tief.

       Zwar sagte er zu Recht, sie wolle Nantai noch nicht loslassen. Sie sah tatsächlich nicht gerne, wie rasch sich der Sohn von ihr entfernte. Dennoch lagen ihre Bedenken nicht darin begründet. Ihre ausgeprägte Intuition, die sie vieles sehen ließ, das anderen verborgen blieb, sagte ihr, dass Nantais Weg ihm großes Leid bringen würde.

       Sie wollte ihn nicht für sich behalten.

       Sie wollte ihn nur vor diesem Leid beschützen.

       Und ahnte tief in ihrem Innern bereits, dass sie dies nicht konnte.

       Nur deshalb widersprach sie Achak nicht, was er als Zeichen ihrer Zustimmung betrachtete. Froh, dass der Streit beendet war, nahm er sie in den Arm. Pohawe und er waren nur selten verschiedener Meinung, und es bedeutete ihm sehr viel, dass sie ihn gerade in dieser wichtigen Angelegenheit unterstützte.

       Und sie beließ ihn in seinem Glauben.

       Sie redete sich ein, dass sie Nantais Kräfte unterschätzte. Dass die Geistwesen nichts von ihm verlangten, was er nicht leisten konnte.

       Nur deshalb widersprach sie nicht, als Nantai am nächsten Morgen trotz eisiger Kälte erneut mit dem Vater in die Wälder zog, um seine Fähigkeiten auszubilden. Nur deshalb schwieg sie, als er am Abend erschöpft, aber glücklich zurückkehrte, weil er einen weiteren Teil der Ausbildung erfolgreich hinter sich gebracht hatte.

       Obwohl sich ihr Herz bei seinem Anblick schmerzvoll zusammenzog.

       Nantai glühte förmlich vor Ehrgeiz! Glaubte er tatsächlich, dass er umso rascher Zugang zu seiner Gabe fand, je mehr er sich quälte?

       Erst der Schulbeginn im Frühjahr setzte seinem Eifer ein vorläufiges Ende. Unwilliger denn je machte er sich auf den Weg nach Threetrees. Die Schule hatte für ihn jede Bedeutung verloren. Sein ganzes Streben galt nun dem Ziel, seine verborgenen Fähigkeiten zu wecken.

       Und als er mit Beginn der Sommerferien nach Hause zurückkehrte, fuhr Achak mit der Ausbildung fort.

       Nantai lernte zu meditieren, und seinen Geist zu befreien. Er lernte viele Tage lang ohne Nahrung zu bleiben, und dadurch seine Sinne zu schärfen. Lernte die Kräuter des Waldes und ihre Wirkung kennen, und welche Tränke man aus ihnen braute. Lernte die Art der Kräfte zu begreifen, die in den Wäldern wirkten, und wie sie das Leben der Waldbewohner bestimmten.