Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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kreisförmigen Fläche, die den Boden der Kuppel bildete, sodass durch die Öffnung in der Decke ein schmaler Streifen Tageslicht auf das Muster fiel.

       Mit klopfendem Herzen ließ er sich darauf nieder, während der Älteste ihm gegenüber Platz nahm, und dabei peinlich darauf achtete, die rituelle Zeichnung nicht zu berühren.

       Damit begann, wovor Nantai so sehr graute. Denn nun würde der alte Mann ihn zum ersten Mal mit den Geistwesen in Berührung bringen. Ein Erlebnis, das er ebenso sehr fürchtete, wie alle anderen es herbeisehnten… Und mit einem Mal hatte er große Mühe, den Erklärungen seines Lehrers zu folgen.

       „Hier sind uns die Geistwesen so nahe, dass auch derjenige sie wahrnehmen kann, der normalerweise nicht über diese Fähigkeit verfügt“ hörte er den Ältesten wie aus weiter Ferne sagen. „Allerdings gewähren sie den meisten von uns nur dieses eine Mal Zugang zu diesem Ort. Darum genieße, was du nun erlebst, und fürchte dich nicht!“

       …Wie so oft wusste der alte Mann viel zu gut, was in ihm vorging.

       „Ich weiß“ murmelte er schuldbewusst, weil er nicht die geringste Freude über die bevorstehende Begegnung verspürte.

       „Bist du bereit?“ Der Älteste sah ihn fragend an.

       Er nickte stumm. Und im selben Moment wurde der Blick seines Lehrers hart wie Stein - drang tief in den seinen. Kurz darauf hörte er den alten Mann Worte in der Ewigen Sprache murmeln, Worte, die er nicht verstand, obwohl auch er dieser Sprache mächtig war.

       Und dann spürte er bereits die wundervolle Leichtigkeit, die mit jeder Trance einhergeht. Sein Geist löste sich vom Körper, schwebte langsam, als habe er nie anderes gekannt, in die gewaltige Kuppel aus Felsen empor - und verharrte dort, vollkommen gebannt von dem Anblick, der sich ihm bot.

       Denn die Kuppel war nicht leer, wie Nantai geglaubt hatte.

       Sie war erfüllt von flirrenden Bündeln aus Energie, seltsamen Wesen, die ein sonderbares Eigenleben führten. Sie bewegten sich in geisterhaftem Tanz, flossen ineinander, zu fantastischen Gebilden, die sich am Ende zu einem einzigen, wundersam leuchtenden Wesen vereinten – und sich danach wieder trennten. Doch nur, um den Tanz erneut zu beginnen, und in ihm erneut zusammenzufinden. Begleitet wurde das magische Schauspiel von melodischen Klängen, die von unsichtbaren Schwingen getragen durch die Kuppel schwebten.

       Allerdings nur solange, bis der ungebetene Gast endlich entdeckt wurde, und der Tanz abrupt endete.

       Zunächst noch ein wenig zögerlich, dann immer rascher und von wachsender Neugier getrieben, bewegten sich die seltsamen Wesen jetzt auf ihn zu.

       Bis sie ihm so nahe waren, dass er glaubte, sie berühren zu können.

       Er konnte sich nicht satt sehen an ihnen.

       Sie waren wunderschön!

       Er wollte nur noch eines. Ihnen nahe sein.

       Eins mit ihnen werden.

       Sie nie mehr verlassen.

       Er hätte schreien können vor Glück.

       Und war zugleich von grenzenloser Trauer erfüllt.

       Als wisse er bereits um die Einzigartigkeit dieses Augenblicks.

       Nantai hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren, als die Wesen sich ein weiteres Mal veränderten, als sie zu verblassen begannen, mehr und mehr ihr Leuchten verloren.

       Doch ehe sie seiner Wahrnehmung ganz entschwanden, schufen sie ein Bild für ihn. Zunächst nur ein Schemen, ein Schatten, von Nebelschwaden verdeckt, würden seine Konturen immer deutlicher.

       Bis er die turmhohen Häuser mit den glänzenden Fassaden, und Tausenden von Fenstern erkannte.

       Megalaia, die größte Stadt NanGaias.

       Viele hundert Meilen nördlich der Waldgebiete gelegen, war sie in den vergangenen Jahrzehnten unermesslich rasch gewachsen - ohne dass jemand wusste, warum sie die Bewohner NanGaias wie ein Magnet anzog.

       Denn jetzt lebten dort so viele Menschen wie nirgendwo sonst in dieser Welt.

       Megalaia.

       Die Stadt, die die Geschicke dieser Welt bestimmte. Die wohlhabende, und in den Augen der Waldbewohner dennoch arme Hauptstadt NanGaias.

       Nantai hatte sie nie besucht – und wusste trotzdem genug, hatte genug Bilder von ihr gesehen, um sie sofort zu erkennen. Und trotz des strahlenden Glanzes löste ihr Anblick keinerlei Freude in ihm aus.

       Zu deutlich war die Botschaft, die sich hinter ihrem Bild verbarg.

       Die Geistwesen wollten, dass er nach Megalaia ging.

       Sein Weg führte ihn am Ende also doch in die Stadt, in die er bereits vor vielen Jahren hätte gehen sollen.

       Damals hatte er sich noch erfolgreich dagegen gewehrt.

       Aber dieses Mal blieb ihm keine Wahl. Widersetzte er sich ihrem Willen, würde er den Zorn der Geistwesen auf sich laden.

       Als er aus der Trance erwachte, war jede Freude in ihm erloschen. Alles, was er noch fühlte, war Enttäuschung.

       Nun kannte er seinen Weg. Und es war nicht der, auf den er gehofft hatte … Er hatte es geahnt.

       Niedergeschlagen verließ er die Kuppel und trat in den dunklen Felsengang, in dem der Älteste auf ihn wartete.

       Der weise Mann bemerkte Nantais Kummer sofort. Doch er fragte nicht nach dem Grund. Seine Aufgabe war getan. Er hatte seinen Schützling auf die Begegnung mit den Geistwesen vorbereitet, und während der Trance über ihn gewacht, um einzugreifen, falls er den Kräften aus der anderen Welt nicht standhielt.

       Was nun folgte, war allein für Nantai bestimmt. An ihm war es, den Weg zu beschreiten, den die Geistwesen ihm gewiesen hatten.

       Denn dies war ihr Wille. So geschah es seit Menschengedenken.

       „Lass uns gehen.“ Ohne auf Antwort zu warten, wandte sich der Älteste um, und schritt eilig voran, dem Ausgang zu. Und Nantai folgte ihm, stumm, und seltsam kraftlos. Fand sich irgendwann am Fuß der Treppe wieder - ohne sich an den Weg dorthin zu erinnern - und stieg hinter dem alten Mann die Steinstufen empor, ins Freie.

       Draußen dämmerte es bereits. Sie waren länger in der Finsternis gewesen, als er gedacht hatte. Zudem war es empfindlich kühl geworden. So kühl, dass er nach der Wärme der Höhle plötzlich fröstelte, und dem raschen Schritt des Alten nun willig folgte.

       Noch ehe das Tageslicht erlosch, erreichten sie die Siedlung, die trotz der frühen Stunde verlassen wirkte. Die Kälte hatte die Bewohner in ihre Hütten getrieben. Nur Achak und Pohawe saßen noch am Feuer und warteten auf die Rückkehr des Sohnes, voller Unruhe, weil diese sich so lange hinauszögerte.

       „Endlich seid ihr zurück!“

       Erleichtert sprang Pohawe auf, als sie die beiden Männer erblickte. Dann erst sah sie die bedrückte Miene ihres Sohnes.

       „Ist alles, wie es sein soll?“ fragte sie besorgt.

       „Das ist es“ erwiderte der Älteste an Nantais Stelle. „Nach unseren Bräuchen ist Nantai jetzt zum Manne geworden.“ Er lächelte. „Und dies ist nicht alles – denn die Geistwesen waren ihm überaus wohl gesonnen. Sie zeigten sich ihm so lange wie niemandem zuvor.“

       Pohawes Blick glitt zu ihrem Sohn, der gedankenverloren in die lodernden Flammen starrte. Er hatte gar nicht zugehört.

       „Trotzdem ist Nantai nicht glücklich“ murmelte sie. „Sagte er dir, welchen Weg sie ihm wiesen?“

       Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nein, das sagte er nicht.“

       Und verneinte erneut, als sie ihn bat, bei ihnen zu essen. „Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Pohawe“ erklärte er müde. „Aber mein alter Körper verlangt jetzt nach Ruhe, nicht nach Nahrung, und ich sollte auf seinen Ruf hören.“ Dann ging er. Mit mühsamen Schritten, die zum ersten Mal an diesem langen Tag sein hohes Alter erkennen ließen.

       Sorgenvoll blickte ihm Pohawe nach, bis er im Eingang seiner Hütte verschwand. Erst dann wandte sie sich Nantai zu, der noch immer seltsam