Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


Скачать книгу

ihr zärtlich übers Gesicht.

       „Es ist schön zu wissen, dass deine Gedanken immer bei mir sind, Mutter. Gleich wo ich bin, und was ich tue.“

       Aber noch fühlte er zur eigenen Verblüffung keinen Abschiedsschmerz. Trotz der Tränen der Mutter nicht.

       Erst als die beiden Brüder sich an ihn klammerten und ihn nicht mehr loslassen wollten, musste er plötzlich gegen einen Kloß im Hals ankämpfen. „Ihr müsst mich gehen lassen, sonst verpasse ich noch den Zug in Threetrees“ sagte er und versuchte vorsichtig, sich aus ihrer Umarmung zu befreien. „Ich verspreche, dass ich euch bei meiner Rückkehr etwas mitbringe!“

       Damit überzeugte er die beiden, ihn loszulassen, sodass auch die ältere Schwester die Gelegenheit erhielt, sich von ihm zu verabschieden.

       „Pass auf dich auf, kleiner Bruder!“ Sie lächelte, wohl wissend, wie sehr er diese Anrede hasste. Und nur dieses eine Mal wehrte er sich nicht dagegen.

       „Das muss ich wohl tun, wenn du nicht bei mir bist und auf mich achtest!“ erwiderte er und bemerkte erleichtert, dass er seine Gefühle wieder im Griff hatte.

       Sein Abschied von den übrigen Dorfbewohnern verlief hingegen rasch und ohne große Worte. Er hob die Hand zu einem letzten Gruß, wandte sich um - und betrat den Pfad, der nach Threetrees führte.

       Die ersten Schritte fielen ihm unerwartet schwer. Fast wie damals, in der Zeit, in der er sich so ungern auf den Weg in die Schule gemacht hatte.

       Doch mit jedem weiteren Schritt wuchs die Anspannung, wichen die Bedenken der Vorfreude auf die bevorstehende Herausforderung.

       Nur einem Tag Aufenthalt in Threetrees, so hoffte er, dann würde er die Einreisepapiere für Megalaia in den Händen halten. Nur ein Tag noch, dann wartete die erste Zugfahrt seines Lebens auf ihn!

       Nur ein Tag noch…

       Doch er hatte die Gründlichkeit der Behörden NanGaias unterschätzt.

       Die Leiterin der winzigen Verwaltungsstelle neben dem Bahnhof zweifelte an den mitgebrachten Zeugnissen. Sie müsse diese überprüfen, ehe sie ihm die Erlaubnis zur Einreise erteilen könne, erklärte sie.

       Mit der Folge, dass er und sein Begleiter sich drei endlose Tage die Zeit mit Streifzügen durch die Umgebung vertreiben mussten, drei endlos lange Nächte in der einzig verfügbaren Unterkunft in Threetrees, der Mission, zubrachten.

       Dann war es endlich soweit.

       Die ersehnten Einreisepapiere fest in der Hand haltend, stand er neben dem Freund am Bahnsteig und sah dem einfahrenden Zug voller Ungeduld entgegen.

       Das schrille Quietschen der Bremsen ließ ihn für Sekundenbruchteile erstarren. Aber dann warf er den Rucksack über die Schulter, stieg rasch ein - und blieb noch in der Tür stehen, erschrocken über die Enge und Düsternis im Innern des Zuges.

       „Geh weiter!“ Der Freund schob ihn sanft zu einem freien Abteil. Dort hatten sie sich kaum gesetzt, als der Zug mit einem kräftigen Ruck losfuhr.

       Und im selben Moment war alles vergessen.

       Der zähe Kampf um die Einreisepapiere. Die langen Stunden des Wartens in Threetrees. Die Enge und Düsternis im Zug.

       Wie gebannt starrte Nantai aus dem Fenster, konnte den Blick nicht mehr von der Landschaft lösen, die immer rascher vorüber zog. Zum ersten Mal wurde ihm jetzt bewusst, wie groß NanGaia war – und wie klein die Welt, in der er bisher gelebt hatte.

       Irgendwann verschwanden die letzten Ausläufer der Wälder hinter dem Horizont, und vor ihnen erstreckte sich nun, soweit das Auge reichte, ein wogendes grünes Meer, in das der Wind sanfte Wellen malte. Nur wenn der Zug sich einer der wenigen Siedlungen näherte, wich das Grün für längere Zeit dem dunklen Braun frisch eingesäter Felder, säumten erblühende Obstplantagen die Strecke, ragten rote Dächer daraus empor - kleine Inseln, auf denen die wenigen Bewohner der Ebene lebten, die dem Ruf Megalaias noch widerstanden. Doch so gering ihre Zahl auch war, so groß war ihre Bedeutung. Denn sie erzeugten, was die Menschen der Stadt zum Leben brauchten.

       Irgendwann hatte sich Nantai an den immer gleichen Bildern satt gesehen. Vom gleichmäßigen Rattern der Räder schläfrig geworden, lehnte er sich gähnend zurück, und schloss die Augen. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. Ohne Sorge, etwas zu verpassen.

       Bis zur Ankunft in Megalaia würde sich die Landschaft kaum ändern, wie er wusste. Ihm blieb noch genügend Zeit, sie zu betrachten.

       Am späten Nachmittag erreichten sie den ersten Zwischenhalt – Bluewater – wo sie den Zug wechseln mussten, und die willkommene Unterbrechung für einen Spaziergang nutzten, ehe die Fahrt in der Abenddämmerung weiterging.

       Die erste Nacht in einem Zug verbrachte Nantai in einem seltsamen Dämmerzustand. Trotz der wachsenden Trägheit seines Körpers war sein Geist erstaunlich wach und fand lange nicht zur Ruhe. Erst gegen Morgen siegte die Müdigkeit, und er schlief, bis der Freund ihn weckte.

       Sie hatten den zweiten Zwischenhalt erreicht, das Örtchen Smalltown, wo der nächste Zugwechsel erfolgte.

       Der letzte Teil der Reise begann.

       Endlich!

       Es war fast Mittag, als am fernen Horizont die Dunstglocke auftauchte, die wie immer über Megalaia hing - der erste Eindruck, den man von der Hauptstadt NanGaias gewann, gleich, aus welcher Richtung man sich näherte.

       Von nun an wich Nantais Blick nicht mehr vom Himmelsrand, wo sich die eindrucksvolle Silhouette Megalaias mit jeder Meile klarer abzeichnete. Bis er die riesigen Wolkenkratzer endlich deutlich erkannte - dicken Fingern gleich, die mahnend in den Himmel zeigten.

       Und im selben Moment erlosch die Vorfreude, die er eben noch verspürt hatte.

       Diese Stadt war ein Fremdkörper. Sie gehörte nicht an diesen Ort. Irgendeine seltsame Macht musste die himmelhohen Häuser hierher gesetzt haben, mitten in die Landschaft, ohne sie mit der Umgebung zu verbinden.

       Auch der viele Meilen breite Gürtel von Gewächshäusern, der die Stadt umgab, schuf diese Verbindung nicht, wucherte stattdessen in die Ebene hinein, wie ein Krebsgeschwür, mit den Dächern aus Glas, in denen sich das Sonnenlicht millionenfach spiegelte.

       …Hier wurden also Gemüse und Obst für die Bewohner der Stadt angebaut.

       Fasziniert und abgestoßen zugleich, starrte Nantai auf die gleißenden Flächen, die rasch näher kamen. Schon bald war der Zug zu beiden Seiten umsäumt von Wänden aus Glas, hinter denen man das Leben dennoch nur erahnte.

       Dieser Anblick veränderte sich nicht, bis die Gärten schließlich Industrieanlagen wichen. Glas wurde zu Beton, und die Gärten von gewaltigen Maschinen aus Stahl verdrängt.

       Auch dieser Anblick änderte sich lange Zeit nicht mehr. Doch als Nantai sich eben gelangweilt in den Sitz zurücklehnen wollte, senkten sich die Schienen in den Tunnel hinab, der nun viele Meilen lang unter der Stadt verlief, und erst im Zentrum wieder an die Oberfläche führte.

       Und im selben Augenblick, in dem ihn die Dunkelheit verschlang, fühlte Nantai auch die Beklemmungen wieder, die ihn in den Wäldern quälten, sobald er sich ins Innere der Erde begab.

       Nur, dass er dieses Mal nicht darauf vorbereitet war.

       Niemand hatte je von diesem Tunnel gesprochen - und seine Panik wuchs mit jeder Minute mehr. All seine Instinkte drängten ihn, dem tödlichen Dunkel zu fliehen. Aber er konnte nicht fliehen. War hilflos gefangen in diesem Käfig aus Stahl, der ihn tief unter der Erde festhielt.

       Warum fand er nur kein Mittel gegen die Angst?

       Er kämpfte noch um Beherrschung, als zwei Uniformierte das Abteil betraten, und in barschem Ton nach den Einreisepapieren verlangten. Der Freund hatte die Formulare griffbereit, und zog sie rasch aus der Tasche, während Nantai hektisch in seinem Rucksack zu wühlen begann - und dabei sehr dankbar bemerkte, dass ihn dies von der Angst ablenkte.

       Aus diesem Grund störte ihn das unhöfliche Verhalten der beiden Männer zunächst nicht. Auch nicht ihre finsteren Mienen, die sich überrascht aufhellten, als sie seinen Papieren den Grund seines Aufenthalts in Megalaia entnahmen.