Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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sich vergeblich um eine grimmige Miene, als er den begonnenen Satz zu Ende brachte. „…dann habt ihr bei dieser Begegnung tatsächlich nichts zu befürchten - weil die Geistwesen dann nämlich vor euch die Flucht ergreifen werden, und nicht umgekehrt!“

       Doch dann wurde sein Miene ernst. „Könntet ihr Vater und mich bitte alleine lassen?“

       Empört gestikulierend rannten sie zu Pohawe, die sie zum Waschen an den See schickte. Achak blickte ihnen schmunzelnd hinterher, ehe er sich Nantai zuwandte. „Wolltest du mit mir allein sein, weil du Ruhe brauchst, um deine Seele auf die Prüfung vorzubereiten?“

       „Nein, Vater. Ich…“ Nantai vollendete den Satz nicht.

       Achak musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Du freust dich nicht auf diese Prüfung, mein Sohn - obwohl du bisher keine Herausforderung gescheut hast!“

       „Es ist nicht die Prüfung, die mir das Herz schwer macht“ gestand Nantai. „Es ist vielmehr die Sorge vor dem Weg, den die Geistwesen mir danach weisen werden. Was ist, wenn er ein anderer ist, als der, den ich beschritt? Wenn ich erkennen muss, dass wir irrten?“

       „Ich glaube nicht, dass wir irrten“ widersprach Achak voller Überzeugung. „Die Geistwesen verliehen dir diese Gabe nicht ohne Grund, und wiesen mich gar an, dich zu unterrichten, nur, um dir jetzt einen anderen Weg aufzuzeigen.“

       „Und wenn sie sich in mir täuschten? Wenn ich meiner Gabe nicht würdig bin? Schließlich gelang es mir bis heute nicht, sie zu wecken, geschweige denn, sie zu nutzen!“

       Endlich sprach er aus, was ihn schon lange belastete. Endlich fand er den Mut, sich dem Vater zu offenbaren.

       Der schwieg jetzt. Starrte lange Zeit sehr nachdenklich in die Glut zu seinen Füßen.

       „Auch ich fragte mich oft, warum dies so ist“ antwortete Achak schließlich, ohne den Blick vom Feuer zu nehmen. „Ob ich deinen Eifer hätte bremsen sollen, ob ich dir nicht doch zu früh zu viel zumutete. Doch selbst dann könnten wir dies nicht mehr ändern.“ Er hob den Kopf - und lächelte zuversichtlich. „Und selbst dann bestünde kein Grund zur Sorge, mein Sohn. Weil die Geistwesen dir in diesem Fall einen neuen Weg weisen werden, der dich zu deiner Bestimmung führt. Du solltest ihre Botschaft nicht fürchten, sondern als Hilfe betrachten.“

       Nantai zwang sich, das Lächeln des Vaters zu erwidern. „Ich hoffe sehr, dass du Recht behältst.“

       Aber auch Achaks offen gezeigte Zuversicht konnte ihn nicht aufmuntern. Er fühlte sich seltsam mutlos, war sicher, dass all seine Anstrengung umsonst gewesen war. Dass die Geistwesen ihm heute die Träume nehmen würden.

       Und dann sah er den Ältesten näher kommen - und mit ihm den Augenblick der Wahrheit. Und zum ersten Mal erhob er sich jetzt nur sehr zögerlich, um seinem weisen Lehrer Ehrerbietung zu erweisen.

       Achak war ebenfalls aufgestanden, und neigte den Kopf zur Begrüßung des Alten. „Sei gegrüßt, weiser Mann.“

       „Auch du seiest gegrüßt, Schamane“ erwiderte der Älteste nicht minder respektvoll.

       Nantai hingegen wartete stumm, bis der alte Mann sich zu ihm wandte. Erst dann grüßte er, indem er den Kopf neigte und die rechte Hand aufs Herz legte. So, wie er den weisen Lehrer stets begrüßte.

       „Bist du bereit, Nantai?“ fragte der Alte.

       „Das bin ich.“ Er hob den Kopf, und sah kohlegleiche, ungeheuer wache Augen auf sich gerichtet - Augen, die tief in ihn hineinzublicken, die alles zu sehen schienen.

       Der alte Mann kannte ihn tatsächlich gut.

       So gut, dass er Nantais Widerwillen gegen die bevorstehende Prüfung sofort erfasste, seine bohrenden Zweifel, und die tief sitzende Angst vor der Botschaft der Geistwesen… Nantai war für die Begegnung mit ihnen noch nicht bereit.

       Der Alte seufzte unhörbar. Ihm selbst, aber auch seinem Schützling stand ein hartes Stück Arbeit bevor. „Dann lass uns gehen.“

       Er führte Nantai hinunter zum See, und an dessen Ufer entlang zu der seichten Bucht, in der die Prüfung stattfand. Von dichtem Schilf umgeben und dadurch vor Blicken aus dem Dorf geschützt, war sie an normalen Tagen ein beliebter Treffpunkt für verliebte Paare. Heute jedoch würde niemand den Weg hierher nehmen, weil jeder wusste, dass Nantai sich dort seiner Prüfung unterzog.

       „Und nun leg deine Kleidung ab.“

       Nantai fragte nicht nach. So sinnlos ihm diese Aufforderung angesichts der herbstlichen Kühle auch erschien, so folgte er ihr dennoch, und zog sich ohne ein Widerwort aus. Sah den alten Mann danach fragend an. Der zeigte auf das Wasser zu ihren Füßen. „Geh hinein und knie nieder. Der See ist hier nicht sehr tief.“

       Und erneut gehorchte Nantai. Stieg zögernd ins unangenehm kalte Nass, und tauchte fröstelnd hinein, bis nur noch sein Kopf aus dem Wasser ragte.

       Eine kühle Brise strich über den See und kräuselte die Oberfläche.

       Nantai schauderte.

       Was hatte der alte Mann vor? Es war viel zu kalt, um lange im Wasser zu bleiben!

       „Du musst Vertrauen zeigen, Nantai. Denn ich muss nun prüfen, ob du bereit bist, dich meinem Willen vollkommen zu unterwerfen.“

       „Ich bin bereit.“

       „Dann lass uns beginnen.“

       Ergeben schloss Nantai die Augen und hielt den Atem an, als der Älteste am Ufer nieder hockte, ihn bei den Haaren packte und seinen Kopf unter Wasser drückte. Und wartete geduldig, bis der Alte ihn wieder freigab. Er kannte dieses Spiel. Er hatte es oft gespielt, hatte mit den Freunden gewettet, wer am längsten unter Wasser blieb - und war nicht nur einmal als Sieger aus diesem Wettstreit hervorgegangen.

       Aber heute geschah viel zu lange nichts.

       Merkte der alte Mann denn nicht, wie dringend er atmen musste?

       Plötzlich glaubte er, ersticken zu müssen, und schlug um sich, so heftig, dass die Hand ihn augenblicklich freigab. Keuchend, und nach Atem ringend, schoss er aus dem Wasser empor. „Willst du mich umbringen?“

       „Du darfst dich nicht wehren, Nantai“ erwiderte sein alter Lehrer ungewohnt streng. „Du musst dich vollkommen aufgeben, ehe du den Geistwesen begegnen darfst. Vertrau mir. Du wirst nicht sterben!“

       Mit diesen Worten drückte er Nantai erneut unter Wasser. Und wieder wurde Nantais Drang zu atmen übermächtig, wieder erfasste ihn Panik, als der Griff des Alten sich viel zu lange nicht lockern wollte. Wieder wehrte er sich so heftig, dass die Hand ihn freigab. Und wieder tauchte er auf, rang keuchend nach Atem, und starrte den Lehrer voller Empörung an.

       „Du bist noch lange nicht bereit, Nantai.“

       In der Stimme des Ältesten lag kein Bedauern, als er Nantai erneut unter Wasser zwang, ihn erneut die Todesangst spüren ließ.

       Nantai kannte diese Bräuche. Er hatte bei vielen zugesehen, und manche von ihnen selbst durchlaufen. Er wusste, dass sie allein dazu dienten, den Mut und die Selbstbeherrschung eines Menschen zu prüfen. Er wusste, dass dabei normalerweise niemand zu Schaden kam.

       Und wehrte sich dennoch jedes Mal, wenn der Älteste ihn unter Wasser zwang. Obwohl er ahnte, dass das Ritual für ihn bereits zu Ende war, wenn er sich dem Willen des Alten nicht beugte. Obwohl er dann der Erste und Einzige sein würde, dem die Begegnung mit den Geistwesen verwehrt blieb.

       Mit jedem Mal rechnete er mehr damit, dass sein Peiniger aufgab, und ihn ins Dorf zurückschickte.

       Aber der alte Mann gab nicht auf.

       Nicht minder beharrlich als sein Prüfling, kämpfte er darum, dessen Widerstand zu brechen. Wollte nicht hinnehmen, dass ausgerechnet Nantai diese Prüfung nicht bestand.

       Solange, bis Nantai vor Kälte und Erschöpfung am ganzen Körper zitterte.

       Solange, bis er die Kontrolle über seine Glieder verlor.

       Solange, bis er dem erbarmungslosen Druck der Hand zum ersten Mal nichts mehr entgegensetzte, auch wenn die Stiche in der Brust unerträglich schienen, auch wenn sein ganzer Körper nach Überleben schrie.