Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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und teile diese Mahlzeit mit uns! Dein Vater und ich haben auf dich gewartet.“

       Sie hatten dieses besondere Mahl mit ihm teilen wollen - das erste, an dem er als ihnen gleichgestellt teilnahm.

       Von nun an hatten sie kein Recht mehr, Gehorsam von ihm zu verlangen. Von nun an durften sie keine Rechenschaft mehr von ihm erwarten, konnten nur darauf hoffen, dass er sie um Rat fragte, wenn er Rat brauchte …und dass er Rat brauchte, war mehr als offensichtlich.

       Auch Achak war die bedrückte Stimmung des Sohnes nicht entgangen. Im Gegensatz zu Pohawe nahm er Nantais Schweigen zunächst jedoch gelassen hin, beobachtete fast amüsiert, wie sie sich um den Sohn bemühte. Trotz aller gegenteiligen Bekundungen sah sie in Nantai noch immer ihr Kind, es fiel ihr schwer, hinzunehmen, dass er schon bald für sich selbst sorgen würde… vielleicht sogar für seine eigene Familie.

      Ich bin neugierig, wie sie reagiert, wenn er eine Partnerin wählt. Schließlich ist er alt genug, um den Bund einzugehen. Auch wenn es schien, als ginge Nantai zumindest in dieser Hinsicht denselben Weg wie sein Vater. Denn Achak war Mitte zwanzig gewesen, als er die damals sechzehnjährige Pohawe getroffen hatte - in einem Alter also, in dem die meisten Waldbewohner den Bund bereits eingegangen waren. Doch ihn hatte bis zu diesem Tag keines der Mädchen interessiert. Bis zu diesem Tag war auch für ihn die Geisterwelt das Zentrum seines Lebens gewesen - ebenso wie für Nantai, dessen ganzes Streben bisher der Suche nach seiner Gabe gegolten hatte. …Und dies, obwohl seine Chancen ausgesprochen gut standen, eine Partnerin zu finden. Nicht ohne Stolz hatte Achak bemerkt, wie die jungen Frauen des Stammes Nantai umgarnten, und wie sehr sie um seine Aufmerksamkeit rangen. Mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Zwar gab sich Nantai gerne mit ihnen ab, lachte und scherzte oft mit ihnen. Doch keines der Mädchen hatte jemals sein Herz berührt. Vielleicht sollte er sich auf andere Dinge besinnen. Vielleicht würde ihm die Liebe einer Frau sogar helfen, sich seiner Gabe zu nähern. Schmunzelnd musterte er den Sohn, der mit finsterer Miene vor sich hin starrte… Allerdings wird er mit Sicherheit kein weibliches Herz erobern, wenn er so grimmig dreinblickt wie jetzt. Dieser Gedanke rief den Schamanen in die Gegenwart zurück. Nantai war heute zum Manne geworden und hatte von den Geistwesen seinen Weg erfahren. Doch anstatt sich den Eltern stolz mitzuteilen, hockte er niedergeschlagen am Feuer und löffelte stumm seine Schale leer. Und mit einem Mal drängte es Achak doch, seinen Sohn nach dem Grund seines Verhaltens zu fragen. Aber Pohawe kam ihm zuvor, wie so oft. Sie hatte nur gewartet, bis Nantai ihr die leere Schale zurückgab, um ihn auf die Botschaft der Geistwesen anzusprechen. „Ich weiß, dass ich keine Erklärungen mehr von dir verlangen darf, mein Sohn“ begann sie. „Trotzdem bitte ich dich, uns den Kummer anzuvertrauen, der dich ganz offensichtlich quält. Vielleicht wissen dein Vater und ich Rat. Vielleicht können wir helfen.“ Nantai rang mit sich. Lange Zeit. Aber dann erzählte er den Eltern von der Botschaft der Geistwesen, und dass sein Weg ihn nach Megalaia führte. Pohawe reagierte wie erwartet. „Du musst dich täuschen, Nantai!“ stammelte sie entsetzt. „Die Botschaft der Geistwesen muss etwas anderes bedeuten. Du gehörst hierher in die Wälder, zu deinem Stamm! Warum solltest du nach Megalaia gehen? Wie sollte eine Stadt, die vor langer Zeit von den Geistwesen verlassen wurde, dir bei der Suche nach deiner Gabe helfen?“ Doch zu ihrem Leidwesen blieb sie mit dieser Meinung allein. „Nein, Pohawe“ erklärte Achak entschieden, „Nantai hat Recht. Auch ich habe keinen Zweifel, dass die Geistwesen ihn nach Megalaia sandten." Empört öffnete sie den Mund, um zu widersprechen. Doch der Blick ihres Gatten erstickte die Worte, noch ehe sie ihre Lippen verließen. „Wir sollten den Willen der Geistwesen nicht noch einmal in Frage stellen“ erklärte der Schamane ernst. „Wenn sie wollen, dass Nantai in diese Stadt zieht, dann wird er es diesmal tun - und dort vielleicht endlich zu seiner Gabe finden.“ Pohawe begriff, dass sie Nantais Abreise diesmal nicht verhindern würde. Deshalb versuchte sie sich damit zu trösten, dass er nun kein Kind mehr war, dass er eine starke Seele besaß, und dass ihm das Leben in der Fremde jetzt um vieles leichter fallen würde als dem Zehnjährigen damals. Aber irgendetwas in ihr wollte nicht daran glauben. * Nantais Weg stand nun fest. Doch wie er die Zeit in Megalaia verbringen, und wovon er dort leben sollte, war ein noch ungelöstes Problem. Nicht allein, weil die Stadt kein Mitleid mit jenen kannte, die sich nicht selbst halfen, sondern auch, weil man dort, um den Zustrom zu begrenzen, für Neuankömmlinge hohe Hürden gesetzt hatte. Aber noch ehe Nantai eine Entscheidung traf, hielt der Winter Einzug in den Wäldern, viel früher als sonst, und ungewohnt heftig, mit Schneestürmen, die die Dorfbewohner tagelang von der Außenwelt abschnitten. Zum Bleiben gezwungen, nutzte er die dunklen und kalten Wochen, um nachzudenken. Er rief sich ins Gedächtnis, was er über Megalaia wusste, redete mit den wenigen, die die Stadt aus eigener Erfahrung kannten - und mit den vielen, die durch andere von ihr wussten. Horchte immer wieder in sich hinein. Was wollte er selbst? Sollte er sich wie fast alle Waldbewohner, die sich zuvor in die Stadt gewagt hatten, als Handwerker oder als Bauarbeiter verdingen? Oder sollte er einen anderen Weg beschreiten? Sich auf etwas einlassen, das kaum einer vor ihm getan hatte? Sollte er ein Studium beginnen? Den Kopf dazu besaß er zweifellos. Aber seine Seele? Würde sie dieser Belastung standhalten? Immer wieder wog er beide Möglichkeiten ab, entschied sich mal für die eine, mal für die andere. Doch nur, um sie wieder zu verwerfen - und wenig später erneut zu bedenken. Viele Nächte lang lag er wach, und lauschte dem Wüten der Elemente draußen, während seine Gedanken sich unablässig um diese Frage drehten. Bis er sich, mit dem Ende des Winters, endlich entschied. Er würde studieren, und dafür ein Stipendium nutzen, mit dem die Regierung versuchte, die jungen Waldbewohner in die Stadt zu locken - ohne Erfolg bisher. Die wenigen, die das Angebot vor ihm genutzt hatten, waren allesamt gescheitert und hatten Megalaia lange vor dem Abschluss den Rücken gekehrt. Aber das störte ihn nicht. Er hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Er wollte seinem Aufenthalt durch das Studium lediglich einen Sinn verleihen. Und die Stadt wieder verlassen, sobald seine Gabe erwachte.

      Aufbruch in die Fremde

      Die Kraft des Winters war gebrochen.

       Die Sonne gewann jeden Tag mehr an Kraft und ließ die Schneemassen in den Bergen mit jedem Tag rascher schmelzen, sodass die Bäche im Tiefland über die Ufer traten.

       Durch die Wärme hervorgelockt, streckten schon die ersten Frühlingsblumen die Köpfe aus dem Boden, zeigten sich zarte Knospen an den kahlen Zweigen der Bäume.

       Auch die Tierwelt erwachte aus langem Schlaf. Die Vögel bauten so eifrig an ihren Nestern, als hätten sie Sorge, die Brutzeit zu verpassen, während das männliche Wild im Wald lautstark sein Revier markierte, und - viel dringender noch - nach der Partnerin rief, die half, ihre Art zu erhalten.

       Wieder einmal hatte das Leben in den Wäldern dem langen Winter getrotzt.

       Wieder einmal zeigte es im Frühling seine nach wie vor ungebrochene Kraft.

       Und mit dem Frühling kam auch der Tag, an dem Nantai seine Heimat verließ.

       Es war ein besonderes Ereignis, wenn einer der ihren eine solch weite Reise unternahm. Deshalb hatte sich am Morgen seiner Abreise die ganze Dorfgemeinschaft versammelt, um den beiden Reisenden Lebewohl zu sagen.

       Denn Nantai reiste nicht alleine. Ein älterer Freund, der für kurze Zeit in Megalaia gelebt hatte, wollte ihm in den ersten Tagen dort zur Seite stehen.

       „Mögen die Geistwesen ihre schützende Hand über dich halten, mein Sohn.“

       In Achaks Miene lag eine Mischung aus Stolz und Bangen, als er Nantai zum Abschied umarmte. Der Schamane ahnte, welche Herausforderungen auf seinen Sohn warteten. Nicht ohne Grund war noch keiner von ihnen lange in der Stadt geblieben. Jeder wusste, dass ein Waldbewohner seine Seele verlor, wenn er Megalaia nicht zur rechten Zeit den Rücken kehrte. …

       Und niemand konnte sagen, wie lange Nantai dort bleiben musste …ob die Geistwesen ihm die Rückkehr erlaubten, ehe seine Seele in Gefahr geriet.

       Im Gegensatz zu Pohawe gelang es ihm jedoch, die eigene Sorge nicht zu zeigen. Sie stand neben ihm und wartete leise schluchzend, bis er Nantai freigab, um den Sohn endlich selbst an sich zu drücken.

       „Es tut mir Leid, Nantai“ flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht vor dir zu weinen!“ Sie zog ihn mit all