Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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Ihnen wohl viel Erfolg für Ihr Vorhaben wünschen.“

       Aber Tonfall und Grinsen des Mannes zeigten nur allzu deutlich, was er wirklich von Nantais Erfolgsaussichten hielt. Die wenigen Eingeborenen Megalaias, die er kannte, fristeten ihr mühseliges Dasein als Straßenhändler oder Bauarbeiter, ein erfolgreich studierender Waldbewohner ging weit über sein Vorstellungsvermögen hinaus. Sichtlich erheitert machten sich die beiden Kontrolleure nun einen Spaß daraus, Nantai mit dummen Fragen zu provozieren…

       Um ihn bloßzustellen, wie er ahnte.

       Um seine Studierfähigkeit zu überprüfen, behaupteten sie. Doch das grausame Spiel endete abrupt, als die Tür ein weiteres Mal aufgerissen wurde.

       Ein dritter Uniformierter trat ein und musterte die Kollegen mit finsterem Blick. „Gibt es ein Problem? Soll ich die Angelegenheit übernehmen?“

       „Nein, nein“ versicherten sie eifrig. „Alles in bester Ordnung. Wir sind eben fertig geworden.“ Und nur Sekunden später waren die Pässe der beiden Freunde mit den nötigen Stempeln versehen.

       „Schade, ich hätte mich gerne noch ein wenig mit Ihnen unterhalten!“ Einer der Männer gab Nantai grinsend die Papiere zurück. „Aber vielleicht begegnen wir uns ja eines Tages wieder. Schließlich seid ihr Waldbewohner recht häufig zu Gast in unseren Arrestzellen!“

       Mit zusammengepressten Lippen nahm Nantai die Dokumente in Empfang. Jetzt wusste er, wovor sein Begleiter ihn kurz nach der Abfahrt gewarnt hatte. „Du solltest wissen, dass einige der Stadtbewohner auf uns herabsehen“ hatte er gesagt, dann aber beruhigend hinzugefügt: „Den meisten Menschen dort sind wir allerdings mehr oder weniger gleichgültig. Sie sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich um uns zu kümmern.“

       Und nur wenig später geriet der Vorfall wieder in Vergessenheit.

       Denn jetzt fuhr der Zug wieder nach oben, wurde zudem stetig langsamer. Und dann tauchten sie unvermittelt ins Tageslicht.

       Sie waren im Zentralbahnhof Megalaias angekommen.

       Endlich am Ziel.

       Nantai wartete nicht auf den Freund.

       Zog den Rucksack aus dem Gepäckfach und hastete zum Ausgang.

       Riss die Tür eilig auf, sprang auf den Bahnsteig - nur von einem einzigen Gedanken beseelt. Raus hier! Und blieb dort wie angewurzelt stehen Er hatte mit vielen über Megalaia gesprochen, hatte jedes Buch, jeden Artikel gelesen, den er über die Stadt gefunden hatte. Er hatte geglaubt, er sei gut auf sie vorbereitet. Doch nun drohte ihn der erste Eindruck von Megalaia zu erschlagen. Wohin er auch blickte – überall waren Menschen. Menschen, die sich wie ein riesiger, ein alles verschlingender Organismus durch die gewaltige Bahnhofshalle bewegten, eilig aneinander vorüber hastend, die Gesichter zu einer einzigen grauen Masse verschwommen. Das Gewirr ihrer Stimmen, das Kreischen der Zugbremsen, und die Ansagen aus den Lautsprechern vereinten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, den seine geschärften Sinne kaum ertrugen. Zudem war es in dem von der Sonne aufgeheizten Gebäude so stickig und heiß, dass er glaubte, nicht mehr atmen zu können. Wie ein Fisch, den ein unglückseliges Schicksal an Land gespült hat, stand er auf dem Bahnsteig und rang panisch nach Luft - reagierte nicht einmal, als der Freund ihn am Arm packte und durch die Menschenmenge nach draußen zog. Vor dem Bahnhof war es nur wenig ruhiger. Aber eine leichte Brise machte das Atmen leichter. Dankbar blickte er zu dem Freund, der ihm verständnisvoll zulächelte. „Du brauchst dich nicht zu schämen, Nantai!“ Das Lächeln verschwand. „Als ich vor Jahren hier ankam, wäre ich am liebsten sofort wieder in den Zug gestiegen, und in die Wälder zurückgefahren. Doch irgendwann gewöhnte ich mich an das Leben in der Stadt, und auch du wirst dich daran gewöhnen, am Ende vielleicht sogar recht gut damit zurechtkommen.“ Er seufzte. „Ich bin allerdings froh, dass ich Megalaia in einer Woche wieder verlasse!“ Und plötzlich graute Nantai bei dem Gedanken, allein in dieser Stadt zu bleiben. In den folgenden Tagen fand er keine Gelegenheit mehr zum Nachdenken, weil die Suche nach einer Wohnung viel Zeit in Anspruch nahm. Hinzu kamen ungezählte Stunden, die er bei Behörden zubrachte, um all die Formalitäten zu erledigen, die sein Aufenthalt mit sich brachte. Schließlich - drei Tage nach der Ankunft - fand er eine Bleibe in einem heruntergekommenen Mietsblock am Rande der Innenstadt - nicht schön, aber günstig, und nahe der Hochschule. Ein einfaches, möbliertes Apartment mit einem winzigen Bad und Kochnische, Bett und einem kleinen Schrank, der für seine wenigen Besitztümer jedoch vollkommen genügte. Die Behörden würden die Miete übernehmen, ebenso die Kosten für den Vorbereitungskurs, den er vor dem Studium absolvieren musste, und die Gebühren fürs Studium, sofern er die Zulassung erhielt. Darüber hinaus erhielt er für die gesamte Dauer seiner Ausbildung ein Taschengeld, mit dem er seinen Lebensunterhalt so eben bestreiten konnte. Damit waren die wichtigsten Dinge geregelt, als der Freund ihn nach einer Woche wieder verließ. Zum ersten Mal in seinem Leben war Nantai jetzt vollkommen auf sich allein gestellt. Fern der Heimat. In einer gänzlich fremden Welt.

      Fremd

      Eine spannende und zugleich sehr verstörende Zeit begann. Zwar glich Megalaia in mancher Hinsicht seiner Heimat, war auf ihre eigene Art ein ebenso gewaltiger Lebensraum wie die Wälder - aufregend, voller Überraschungen und neuer Herausforderungen.

       Und dennoch vollkommen anders als die Welt, die er kannte.

       Und noch niemals hatte er sich so hilflos und verloren gefühlt wie jetzt.

       Niemand kannte ihn. Niemand interessierte sich für ihn. Niemand kümmerte, was er tat. Er war nur ein winziges Teilchen in diesem gewaltigen Organismus, ein ziemlich unbedeutendes obendrein. Nur ein Tropfen in der gewaltigen Flut von Menschen, die sich täglich in die Straßen der Stadt ergoss.

       Und wenn einmal, was selten geschah, jemand auf ihn aufmerksam wurde, dann nur, weil sein Äußeres ihn sehr deutlich als einen Bewohner der Wälder auswies. Der Bronzeton seiner Haut, die blauschwarzen Haare, die er entgegen der aktuellen Mode schulterlang, und meist offen trug, und nicht zuletzt die ungewöhnlich dunklen, leicht schräg gestellten Augen zeugten von seiner Herkunft, und sorgten dafür, dass er hin und wieder angesprochen wurde.

       Manchmal aus reiner Neugierde.

       Was hatte ihn nach Megalaia verschlagen, das so weit von seiner Heimat lag? Wie lange lebte er schon hier?

       Manchmal schlug ihm aber auch Ablehnung entgegen, ja Feindseligkeit.

       Ein ungebildeter Wilder habe in der Stadt nichts zu suchen, sagten sie, er solle zurück in die Wälder gehen, wo er hingehöre!

       Solch abweisendes Verhalten war ihm fremd.

       In den Wäldern waren Fremde Gäste, die man willkommen hieß, und denen man Respekt entgegen brachte, solange sie keinen Anlass zu anderem boten.

       Aber das hatte er nicht getan. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen.

       Ihre Ablehnung machte ihn zornig. Und sie verletzte ihn.

       Doch am meisten quälte ihn, dass er sich viel zu oft tatsächlich wie ein ungebildeter Wilder fühlte. All sein Wissen über die Natur und ihre harten Gesetze, alle Kenntnis vom Überleben in der Wildnis nutzte ihm hier nicht.

       Er wusste nicht, wie man Fahrpläne liest. Nicht, wie man Tickets am Automaten löst… nicht, welche Nahrungsmittel sich in den bunten Packungen der Supermarktregale versteckten… nicht, wie man sich in einem Restaurant verhielt. Er kannte weder Discotheken, noch Kinos, noch Theater.

       Zudem litten seine vom Leben in der Wildnis geschärften Sinne ungemein unter der Flut der neuen Eindrücke.

       So geschah es immer wieder, dass er einen der riesigen Supermärkte mit leeren Händen verließ, weil ihn die Fülle des Angebots schier erschlug. Dass er aus einem der überfüllten Busse flüchtete, weil er die Enge und den Lärm darin nicht mehr ertrug. Dass er heftig zusammenzuckte, weil neben ihm ein Auto hupte. Dass er gar im Gedränge der Menschen zu ersticken glaubte.

       Erst mit der Zeit lernte er, seine Sinne vor diesen Reizen zu verschließen, und sich auf diese Weise zu schützen. Mit der Folge jedoch, dass er sich unvollständig fühlte. So, als habe man ihm einen wichtigen Teil seines Selbst genommen.