Sabine Roth

Die Wälder von NanGaia


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Und beide nahmen es gelassen zur Kenntnis.

       Von nun an bemühte sich Nantai nicht mehr um Freundschaften.

       Seine ganze Energie galt nun dem Studium... eben noch zur rechten Zeit!

       Denn er hatte vieles versäumt.

       Auch wenn er schon bald feststellen musste, dass sie nicht lehrten, was er sich erhofft hatte. Er hatte geglaubt, die Welt besser zu verstehen, wenn er sich für einen naturwissenschaftlichen Studiengang entschied. Hatte gehofft, auf diese Weise einen Zugang zu seiner Gabe finden.

       Aber das Ziel des Studiums schien nicht darin zu bestehen, die Welt und ihre Wunder besser zu verstehen. Was sie lehrten, sollte in erster Linie den Zwecken der Menschen dienen.

       Diese Art zu denken stellte sein Weltbild vollkommen auf den Kopf.

       Wie alle Bewohner der Wälder hatte er gelernt, in Einklang mit der Natur zu leben, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, und sie zu respektieren.

       Wie alle Bewohner der Wälder betrachtete er sich als Teil eines großen Ganzen, und versuchte, seinen Platz darin zu finden.

       Das gesamte Leben in den Wäldern folgte diesem Grundsatz.

       Die Menschen in den Städten hingegen hatten diesen Respekt längst abgelegt.

       Sie schienen nur noch an dem Nutzen interessiert, den sie aus ihrer Kenntnis über die Gesetze des Lebens zogen. Für sie war die Welt lediglich ein Experimentierfeld, das sie nach ihrem Willen zu formen gedachten.

       Er brauchte lange, um sich an diese Weltsicht zu gewöhnen - akzeptieren konnte er sie nie. „Sie erzürnen die Geister mit ihrem Tun!“ dachte er voller Entsetzen. Und fragte sich, warum die Mächte der anderen Weltseite sie nicht dafür straften. Hatten die Geistwesen die Bewohner Megalaias etwa vergessen?

       War dies der Grund, warum die Menschen der Stadt so vieles nicht wussten, das ihm selbst klar und einfach erschien? Brauchten sie deshalb Computerprogramme, um das Leben zu erklären?…Und es trotzdem nicht zu begreifen….

       Dennoch versuchte er, ihre Lehren zu verstehen, verbrachte viele Nächte über seinen Büchern… und blieb. Obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielte, Megalaia zu verlassen.

       Warum wollten sie das Leben in Formeln und Theorien fassen und berechnen, anstatt es zu erleben? Warum gingen sie nicht in die Wildnis, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich das Leben anfühlte? Warum genügte es ihnen, sich das Leben nur vorzustellen, theoretische Modelle dafür zu entwickeln, die Wirklichkeit am Computer zu simulieren? Warum vertrauten sie nicht auf das Jahrtausende alte Wissen der Ahnen und auf die Macht der Geistwesen?

       In solchen Momenten fühlte er sich wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.

       Mit der Zeit jedoch wurden diese Momente weniger. Bis sie am Ende des zweiten Studienjahrs, mit dem Bestehen der Zwischenprüfung, schließlich ganz. verschwanden. Er hatte mehr erreicht als jeder Waldbewohner vor ihm - und sah dem zweiten Teil seines Studiums nun voller Hoffnung entgegen.

       Denn er hatte einen Ort gefunden, der ihm die Kraft zum Bleiben verlieh.

       Den Park von Megalaia.

      Der Park von Megalaia

      Zum ersten Mal war er mit Tom und den anderen im Park gewesen, nur wenige Wochen nach Beginn des Studiums. Damals hatten sie sich an einem sonnig warmen Sonntag dort zum Picknick verabredet, mit einigen Mädchen, die sie tags zuvor in einem Club kennen gelernt hatten.

       Damals hatte er seine Umgebung allerdings kaum wahrgenommen, hatte sich lediglich gewundert, dass inmitten des steinernen Häusermeers eine solch große Grünfläche erhalten geblieben war. Viel interessanter jedoch war das hübsche Mädchen gewesen, mit dem er heftig geflirtet, und das ihn später mit zu sich nach Hause genommen hatte.

       Auch später war er immer wieder in den Park gegangen.

       Manchmal alleine, manchmal mit einer der zahlreichen Eroberungen.

       Doch damals war der Park nur ein weiteres Ausflugsziel gewesen, ein Ruhepol nach nächtlichen Ausschweifungen.

       Bis er eines Tages erkannt hatte, dass er - trotz allem - ein Kind der Wälder geblieben war. Dass er seine Seele verlieren würde, wenn er dieses Leben nicht beendete. Und, dass er die Heimat vermisste.

       …den Herbstwind, der wild durch die Bäume jagte, und ihnen das dürre Laub von den Ästen riss. Dessen Heulen und Brausen ihn so oft am Morgen geweckt, und am Abend in den Schlaf begleitet hatte.

       Die Tage der Stille, wenn die Sonne den Wald in goldenes Licht tauchte, wenn ihre Wärme die Welt ein letztes Mal sanft umfing, ehe die kalte Jahreszeit begann.

       Auch den Winter vermisste er.

       Wenn das Leben für lange Zeit ruhte, und Stille sich über das Land legte. Wenn der Schnee bei jedem Schritt unter den Füßen knirschte, bei jedem Atemzug die eisig klare Luft in Lungen und Körper drang, und ihn erstarren ließ.

       Selbst die Winterstürme vermisste er, die die Waldbewohner oft tagelang im Dorf festhielten. Weil die Menschen dann enger zusammen rückten.

       ...Und weil der Frühling das Leben danach umso machtvoller zurück brachte.

       Weil jeder neue Tag dann umso aufregender war, neue Abenteuer und aufregende Erfahrungen verhieß.

       Und den Sommer vermisste er.

       Trotz der Hitze, die das Leben in den Wäldern während des Tages so häufig lähmte. Weil dann der See zum Tummelplatz der Dorfbewohner wurde, und die Nacht zum Tage gemacht.

       All dies fehlte ihm.

       In der Stadt hingegen war nur das Rauschen der Fahrzeuge zu hören, die Tag und Nacht an seiner Wohnung vorbei strömten. Hier gab es keine Stille, nicht einmal in der Nacht, selbst im Winter nicht, wenn in den Wäldern eine dicke weiße Decke das Leben zur Ruhe zwang.

       In Megalaia gab es keinen Schnee. Und wenn er einmal fiel, wurde er nur allzu rasch zu einer braunen Masse, die diesen Namen nicht verdiente.

       Auch der Frühling war nicht wie in den Wäldern.

       In den ersten Wochen nach der Ankunft hatte er noch nach den verlockenden Düften geforscht, nach dem Überfluss an Leben, den er aus der Heimat kannte. Vergeblich meist - in Megalaia zeigte sich der Frühling vor allem in den Farben der Mode in den Schaufenstern, in der leichten Bekleidung der Mädchen - und dadurch, dass die Tische der Cafés im Freien standen.

       Lediglich der Sommer ähnelte dem der Wälder ein wenig.

       Auch hier lähmte die Hitze des Tages das Leben, zumindest draußen. Im Innern der Gebäude jedoch sorgten Klimaanlagen für Kühle, damit die Arbeit niemals ruhte, und die Menschen zahlreich in die Kaufhäuser strömten.

       Nur in einem glich der Sommer in der Stadt dem in den Wäldern:

       Auch hier füllten sich Seen und Bäder mit Menschen. Und auch hier wurde die Nacht zum Tage gemacht.

       Nun wusste er, warum sich der Vater beim Abschied so sehr gesorgt hatte, und warum die Waldbewohner in dieser Stadt stets gescheitert waren.

       Denn sie zehrte auch an ihm.

       Zuhause hatte er viele Stunden in der Wildnis verbracht und seine Sinne mit ihr verbunden, hatte Ruhe und Kraft in ihr gefunden, und Nahrung für seine Seele.

       In Megalaia fand er diese Ruhe nicht, weshalb seine Sehnsucht nach der Heimat mit jedem Tag zunahm.

       Immer häufiger zog es ihn nun in den Park - den einzigen Ort weit und breit, der ihn an die Wälder erinnerte, und er streifte dort umher, manchmal viele Stunden lang. Und entdeckte Unerwartetes...

       Abseits der ausgetretenen Wege gab es Bereiche, die man der Natur überlassen hatte. Knorrige alte Bäume wuchsen hier, zwischen denen Gestrüpp wucherte, so dicht, dass so mancher Fußpfad unvermittelt endete. Hier gab es noch ungemähte Wiesen, die die wenigen Besucher mit ihrer üppigen Blütenpracht für den langen Fußmarsch entschädigten.

       Und dorthin zog es ihn mit aller Macht. Weil er sich nur dort lebendig fühlte – und weil er dort dieselbe