Rainer Schulz

Wer schreibt der bleibt?


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den geschichtlichen Verläufen der Jahrzehnte die Erwartungen an sie und ihre konkreten Möglichkeiten beträchtlich. Überwogen zunächst direkt erzieherische, auch operativ-politische Vorstellungen von literarischer Wirkung, differenzierten sich seit den Siebzigerjahren diese Ansichten zunehmend. Der lebendige Literaturprozess wurde differenzierter, Autoren und Literaturvermittler schufen und suchten spezifischere Wirkungsmechanismen zu ermitteln und ihnen gerecht zu werden. Daraus ergaben sich vielfältige Spannungsfelder. Ein wesentlicher Diskussionspunkt blieb die Frage nach der kritischen Funktion von Literatur, eine Frage, die von Funktionären selbstverständlich anders beantwortet wurde als von den Schriftstellern und ihren Lesern. Dieses zunehmend kritische Element gegenüber den einengenden Verhältnissen in der DDR ließ die Literatur im letzten Jahrzehnt in vielerlei Hinsicht zum Symptom für den erkennbaren gesellschaftlichen Niedergang der DDR Gesellschaft werden. Zunehmend gab es Befunde, in denen das Auseinanderfallen von emanzipatorischem Anspruch und den alltäglichen Realitäten des Lebens zu Tage trat.

      Die Ansichten darüber, wie Literatur wirken soll oder kann, differierten im Einzelnen ganz beträchtlich. Konflikte ergaben sich im Spannungsfeld zwischen dem, was Funktionäre der Staats- und Parteiführung von den Schreibenden erwarteten und dem, was individuell erlebt und als künstlerischer Ausdruck seinen Niederschlag gefunden hatte. Über familiäre und soziale Prägungen, über Schreibmotivationen, über Erfahrungen beim Schreiben und im Literaturbetrieb, über die Art und Folge von Eingriffen und Behinderungen geben die Gespräche reichhaltige Aufschlüsse. Dabei wird deutlich, wie sich die literarischen Verhältnisse und der Umgang mit Literatur über die Jahrzehnte gewandelt hat, obwohl die Organisationsform des literarischen Lebens bis zum Ende der DDR beibehalten wurde.

      In den Gesprächen ist mehrfach die Rede von Zensur. Allerdings hat es eine ausdrückliche Zensur, mit der sich der Gesetzgeber festgelegt hätte, nicht gegeben. Dennoch, die Produktion eines jeden Buches, das öffentlich werden sollte, stand unter institutioneller Aufsicht. Dieses System erwies sich als die Kehrseite hoher gesellschaftlicher Wertschätzung, die der Literatur eine bildende, ja erziehende Funktion für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft zuschrieb. Die Lektorate der Verlage arbeiteten meistens intensiv mit den Autoren an der gestalterischen und sprachlichen Präzisierung der Manuskripte. Sie bildeten die unterste Ebene, die mit Gutachten der Genehmigungsbehörde der Hauptverwaltung Verlage im Ministerium für Kultur zuarbeitete, um eine Druckgenehmigung für die Veröffentlichung des betreffenden Buches zu bekommen. Darüber hinaus konnte es Einsprüche von Parteifunktionären verschiedener Ebenen geben. Es gab unausgesprochene Tabus: man denke an die Veröffentlichungsgeschichte von Erwin Strittmatters „Wundertäter“, in dem er eine durchaus von vielen Frauen erlebte Erfahrung zur Sprache brachte, nämlich die folgenreiche Vergewaltigung durch einen Angehörigen der sowjetischen Armee. Auch die Realität der Mauer und die Konflikte, die sich aus ihrer Existenz ergaben, blieben ein Tabuthema.

      Das System der Förderung junger Autoren ist Ausdruck für die hohe Wertschätzung von Literatur und ihren Schöpfern. Es reichte von den Arbeitsgemeinschaften junger Autoren, die der DDR Schriftstellerverband auf verschiedenen Ebenen eingerichtet hatte, über die Unterstützung begabter Autoren durch Stipendien und Verlagsvorschüsse bis zum möglichen Studienplatz am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Alle in diesem Buch zu Wort kommenden Autoren haben an solcher Fördermaßnahmen partizipiert und dabei auch zumutende Grenzerfahrungen gemacht.

      Emil Rudolf Greulichs Prägungen und Schreibimpulse waren durch die sozialen und politischen Verhältnisse der Weimarer Republik bestimmt. Aus sozialdemokratischer Familie kommend, schloss sich der Sohn der KPD an, kämpfte gegen das Nazi-Regime, wofür er mehrere Jahre im Zuchthaus saß. Als Schriftsetzer von früh an auch kulturell interessiert, begann er selbst zu schreiben, erlebte als junger Mann um 1930 Sitzungen des BPRS (Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller), in denen Johannes R. Becher, Ludwig Renn u.a. bekannte Größen der sozialistischen Literaturbewegung das Wort ergriffen. Sein literarisches Debüt erfolgte aber erst spät, nachdem er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Im Osten Deutschlands, der entstehenden DDR sah er für sich das Feld literarischen und politischen Wirkens. Er schrieb Abenteuerbücher für die Jugend, wollte so der westdeutschen Schundliteratur begegnen. Mit historischen Biografien über die Widerstandskämpfer Artur Becker und Anton Saefkow und mit dem Roman über eine Episode im Leben von Karl Liebknecht stellte er sein Schreiben in den Dienst aufklärender Geschichtsbetrachtung. In seinem erst spät erschienenen zweibändigen Romanwerk „Des Kaisers Waisenknabe“ und „Des Kaisers Waisenknaben Sturm und Drang“ verarbeitet er die prägenden Einflüsse seiner proletarischen Herkunft und Entwicklung in den Jahren vor und nach dem 1. Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik. Er dokumentiert hier Berlin-Geschichte aus der Perspektive proletarischer Existenz, erzählt von Wohnungsnot und genossenschaftlichem Siedlungsbau im Südosten der Stadt, von Hungerjahren und von der ersten weltlichen Schule in Adlershof. Anschaulich und humorvoll berichtet er von Lehr- und Arbeitsverhältnissen junger Leute, von ihren selbstorganisierten Freizeitfreuden beim Sport und beim Wandern, lässt so ihr Denken und Fühlen lebendig werden. Dem Erzähler gelingt hier ein differenziertes Bild von den unterschiedlichen politischen Vorstellungen und Wegen der Arbeiterjugend, worin sich nicht zuletzt auch die Uneinigkeit der Arbeiterbewegung spiegelt, die der Machtergreifung der Faschisten im Jahr 1933 nichts entgegenzusetzen hatte. In dem authentischen Erlebnisbericht „Zum Heldentod begnadigt“ legt Greulich Zeugnis ab über den Kriegseinsatz im Strafbataillon 999, zu dem er nach Verbüßung seiner Zuchthausstrafe gezwungen wurde. In der Nähe von Tunis ging er freiwillig in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er umgehend diesen Bericht niederlegt. Er war dort an der Herausgabe der legendären Gefangenenzeitschrift „Der Ruf“ beteiligt und begegnete seinem Freund Walter Hoffmann wieder, mit dem er gemeinsam Sitzungen des BPRS besucht hatte. Der Freund war bereits mit Geschichten in der KP Zeitung „Rote Fahne“ hervorgetreten. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft wird Walter Hoffmann in München unter dem Namen Walter Kolbenhoff zum Mitbegründer der „Gruppe 47“, einer literarischen Institution, die über Jahrzehnte hinweg den Literaturbetrieb im Westen Deutschlands maßgeblich bestimmte. In dem Roman „Amerikanische Odyssee“ verarbeitet Greulich seine Erfahrungen in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft.

      Die Tätigkeiten von Helga und Erhard Scherner bewegten sich im Grenzbereich zwischen Literatur und Kulturpolitik, zwischen historischer Wissenschaft und dem Schreiben über eigene Erfahrungen. Gemeinsamer Arbeit verdanken sich Publikationen, in denen Zeugnisse altchinesischer Dichtung und Philosophie zugänglich gemacht werden. Hierzu gehören u.a. die Gedichte von „Du Fu: Anblick eines Frühlings“, Ho Chi Minhs Gefängnistagebuch und Gedichte. Für beider Lebenswege (Jg.1929) sind die Erfahrungen von Krieg und Nachkrieg prägend. Durch sie und die neuen Bildungsmöglichkeiten, die sich mit dem Besuch der Arbeiter- und Bauernfakultät, dem Studium der Sinologie und der Germanistik eröffnen, bildete sich eine intensive Bindung an die gesellschaftlichen Strukturen, die im Osten Deutschland entstanden. Mit ihren Nachdichtungen, wissenschaftlichen und erzählerischen Publikationen weiteten sie den Blick über die DDR Provinz hinaus. Erhard Scherner hat dem Lebensgefühl großer Erwartung und allmählicher Ernüchterung in Gedichten Ausdruck verliehen. In späten Erzählungen verarbeitete er mannigfache Ansichten aus China, sein Alter Ego, Konstantin Mugele, schaut distanzierend auf die naive Perspektive von früher Erlebtem.

      Hans Müncheberg (Jg. 1929) und Helmut H. Schulz (1931) teilen die frühe Prägung durch die militärische Erziehung an einer Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) und deren Elitevorstellungen. Dabei ist aufschlussreich, dass sie beim Schreiben erst in späteren Lebensabschnitten auf diese frühen Erfahrungen zurückkommen. Während H.H. Schulz zunächst mit Romanen („Jahre mit Camilla“, „Der Springer“, „Abschied vom Kietz) und mit Erzählungen („Alltag im Paradies“) Stoffe aus der unmittelbaren Gegenwart aufnahm, war Hans Müncheberg als Dramaturg und Autor vor allem mit literarischen Adaptionen für Hörfunk und Fernsehen beschäftigt. Aber auch die Unterschiedlichkeit des Umgangs mit dem prägenden Grunderlebnis fällt ins Auge, das sie von früheren Arbeiten anderer DDR-Autoren am vergleichbaren Stoff unterscheidet. Es gibt keine schnelle Wandlung in ihren Büchern. Hans Müncheberg spannt in seinem Roman „Gelobt sei, was hart macht. Aus dem Leben eines Zöglings der Napola Potsdam“ den historischen Bogen von 1939 bis ins Jahr 1952. Er erzählt in drei Handlungsfäden die Geschichte von Fritz Berger, der als