Rainer Schulz

Wer schreibt der bleibt?


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werden. Der westdeutsche Leser kann viele Details über alltägliches Leben in der DDR erfahren, auch über die Selbstverständlichkeit mit der gelebt wurde. In erzählerischen Momentaufnahmen vergegenwärtigt der Autor individuelle Entscheidungssituationen, die sich in Konflikten bei der Arbeit ergeben. Ein Tagebuch wird zum Austragungsort familiären Widerstreits zwischen gleichberechtigten Partnern, bei denen es um Beruf und Liebe geht, um die beruflichen und familiären Interessen von beiden. Er gestaltet Konflikte, die aus Fremdheit und Ignoranz erwachsen, schildert wie aus Misstrauen zwischen den Jungen und den Alten Vertrauen erwachsen kann. Preuß erzählt über junge Menschen in Bewährungssituationen, über erste Liebe u.v.a.m.

      Auch Romane gestalten Selbstfindungsgeschichten und beschäftigen sich mit Fragen der Lebensbewältigung oftmals an autobiographischen Stoffen. Er bevorzugt in den Geschichten Figuren, die sich ihren Lebensproblemen aktiv stellen und sie zu lösen suchen. Sie engagieren sich im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld. Eine Akzentverschiebung bringt der Beitrag „Die großen bunten Wiesen“, den die Herausgeber des Reclam Verlages in die Anthologie „Jetzt“ (1986) aufgenommen haben. Diese Sammlung enthält 50 Geschichten vom Alltag, die in der Zeit seit Beginn der Siebzigerjahre entstanden sind. Sie galten damals als symptomatisch für die Hinwendung der Schriftsteller zur alltäglichen Realität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Preuss Geschichte hält eine momentane Situation fest, in der ein Mann namens Rosbigalle erlebt, wie die eingefahrenen Muster seiner alltäglichen Abläufe ins Wanken geraten und eine sehnsuchtsvolle irritierende Unruhe hinterlassen.

      Die Kinder- und Jugendbücher von Preuß zeichnen sich durch eine einfühlsame Nachzeichnung der Konflikte in der Sozialisation Jugendlicher aus. Die Erzählung „Frau Butzmann und ihre Söhne“ (1987) ist reich an Zwischentönen, hier reflektiert eine alternde Frau über ihre Lebenshaltung und über das Verhältnis zu ihren Söhnen. Detailliert werden Konfliktlinien nachgezeichnet und nach eigenen Unterlassungen gefragt. In dem Roman „Gewalt des Sommers“ (2011) nehmen die Konflikte eines vierzehnjährigen Jungen vor dem Hintergrund deutscher Geschichte einen tragischen Ausgang.

      Fritz Leverenz (Jg. 1941) ist in den Achtzigerjahren zunächst vor allem mit Kinderhörspielen, mit „Skizzen aus der Eisengießerei“ und mit reportagehaften Schilderungen von der Erdgastrasse hervorgetreten. Dabei stieß er schnell auf die Kluft zwischen dem Erlebten und dem, was der Verlag bereit war von seinen Berichten zu akzeptieren und zu drucken. Über derlei Einsprüche und Einschränkungen gibt er ausführlich Auskunft. In welchem Maße er die Spaltung und Teilung Berlins als Trauma erlebt hat, können wir erst aus den nach 1990 gedruckten Veröffentlichungen entnehmen. Es ist eine Art nachgetragener Dissidenz, die den Erzählungen des Bandes „Du hoffst und ich gehe“ (2014) zugrunde liegt. „Du hoffst und ich gehe“ sagt der Sohn, der sich von den Eltern verabschiedet, er wird die DDR über Ungarn verlassen. In den gesammelten Geschichten scheinen in unterschiedlichen Situationen die individuellen Folgen deutscher Teilung auf. Sie finden hier vor allem im Schicksal der durch eine Mauer getrennten Berliner ihren Ausdruck. Leverenz erzählt aus der Perspektive von Ostberlinern, die an der Eingeschlossenheit leiden, der bürokratischen Willkür ihres Staatswesens ausgesetzt sind und für die der Weggang von Verwandten, Freunden und Bekannten eine schmerzhafte Lücke reißt. Beschädigungen ihres Selbstwertgefühls waren die Folge, zugleich wuchsen die Erwartungen an das, was ihnen auf der anderen Seite der Mauer begegnen würde. Ernüchterung nach kurzer Euphorie stellte sich ein, Leverenz schildert sie in treffenden Episoden. In der großen Erzählung „Der Kuckuck lebt noch“ (2016) ist es die Perspektive des heranwachsenden Berliner Jungen Willi, der die Übersiedelung der Eltern von Ost nach Westberlin erlebt und aus der Rückschau des fast Erwachsenen darüber erzählt. In seiner Sicht spiegelt sich die Situation der auf Ausreise wartenden Eltern, er erlebt sie als zerstreut, abgehoben und mit sich selbst beschäftigt. Auch sein Ankommen in der Westberliner Fremde bringt ernüchternde Erlebnisse. Erst die Ereignisse der Maueröffnung und das Verschwinden des Grenzregimes bringt für ihn die Wiederbegegnung mit der Freundin und den Orten der Kindheit. Der Autor dokumentiert detailreich und präzis diese Vorgänge. Die Erzählperspektive des Jungen ermöglicht eine insgesamt heitere Sicht auf das Geschehen.

      Beate Morgensterns wuchs in einer Pastorenfamilie pietistischer Prägung zunächst in der Lausitz, später in einem Dorf im Mansfelder Raum auf und hat in ihrem Romanerstling auf die sehr speziellen Prägungen im Milieu der Brüdergemeine zurückgegriffen, die sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten der DDR-Geschichte erlebt hat. Vom Beginn ihres Schreibens an hat sie fördernde Anteilnahme in der DDR gefunden. In den fast drei Jahrzehnten seit der deutschen Einheit hat sie inzwischen ein beachtliches erzählerisches Werk vorgelegt. Da die Romane in Kleinverlagen erschienen sind, wurden sie durch die Literaturkritik großer überregionaler Zeitungen bisher nicht wahrgenommen. Christel Berger rezensierte im „Neuen Deutschland“, der sozialistischen Tageszeitung, regelmäßig die neuen Bücher der Autorin. Vom eigenen intensiven Leseeindruck ausgehend, informiert sie über Themen, Stoffe und Erzählformen, macht neugierig, regt zum Lesen an. Beate Morgensterns Romanschaffen zeichnet sich nicht nur durch vielfältige Stoffe und Themen, sondern auch durch kompositorische und stilistische Experimentierfreude und eine sinnlich reiche, mitunter auch satirisch-humoristische Fabulierkunst aus. In „Küsse für Butzemännchen“ (1995) erzählt sie über die Kindheit von Susanne Burkard, im sächsischen Leuba „Burkards-Nannen“ gerufen. Sie wächst hier bei der Betreiberin eines Ladens auf, die das Kind im Unklaren über seine Herkunft belässt. Diese Ungewissheit und die Vaterlosigkeit machen sie zur Außenseiterin. Der Vater an der Front, sie erlebt ihn an Urlaubstagen, Grüße am Ende seiner Briefe gelten ihr. Er kehrt aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, wird denunziert, abgeholt und verschwindet in einem Lager. Erst 1990 gibt es genauere Informationen über sein Schicksal. Diese Situation bildet den Ausgangspunkt des Erzählens, leitet das Erinnern ein, das mit der Todesnachricht endet.

      Über dem ungewissen Schicksal von Menschen, die, schuldig oder auch nicht, durch die Besatzungsmacht interniert worden waren, in Lagern verschwanden, lag zu DDR Zeiten ein Tabu. Die Autorin schafft es erzählerisch, den Vorgang so in den historisch detailreich rekonstruierten Zusammenhang zu stellen, dass keine Revision historischer deutscher Schuld dabei herauskommt. Sie erzählt vom Erleben des Mädchens, das allein mit der Mutter, den abwesenden Vater schmerzlich vermisst. Interesse und Kraft der Mutter ist darauf gerichtet, einen geerbten Kaufmannsladen zu betreiben. Sie ist unausgeglichen und prügelt das Kind, das sich als nirgendwo zugehörig fühlt, Anschluss an eine Kinderbande findet, deren erfindungsreiche Streifzüge zur Lebensmittelbeschaffung beinahe tödlich hätten ausgehen können. Die Erzählerin entfaltet ein reiches Panorama menschlicher Verhaltensweisen in Kriegs-und Nachkriegsjahren, im Horizont des Kindes wird vom Sterben und vom Überleben, vom Organisieren und Tauschen, von egoistischer Gier, von gekaufter oder erzwungener Lust, von Brutalität und Rücksichtlosigkeit gegen andere erzählt. Das Kind erlebt unabweisbar, dass viele Leute nur das eigene Interesse im Auge haben. Lesen und die Begegnung mit Menschen, die anderes wollen, lassen in ihr die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt entstehen, obwohl auch Vertreter der neu entstehenden Ordnung nicht ohne die alten Gebrechen, Egoismus und Dummheit sind. Susanne wird aktiv, als Junger Pionier regt sie auch andere Kinder zu Hilfsdiensten für Alte und Gebrechliche an. Der Autorin gelingen treffliche Porträts in einem präzis erfassten Milieu, in denen die sozialen und mentalen Gegebenheiten sächsischen Provinzlebens lebendig werden. Dazu trägt die sächsische Sprachfärbung der Dialoge ebenso bei wie die bildhaften Schilderungen der Auenlandschaft, die sich am Rande des Erzgebirges erstreckt. Voraussetzungen für intensiven Lektüreeindruck.

      Acht Jahre später erscheint mit „Villa am Griebnitzsee“ (2008) eine Fortführung der Lebensgeschichte von Susanne Burkard. Hier lässt sie die Protagonistin direkt in Ich-Form erzählen. Der Lebensrückblick erfolgt zur Wendezeit. Die inzwischen invalide Frau berichtet einem Zivi, der mit zunehmendem Interesse dazu beiträgt, dass sich wieder ihre Lebensgeister regen. So erzählt sie über ihre Studienjahre, die sie 1959-63 an der Babelsberger Filmhochschule verbracht hat. Mit der Annahme zum Studium erfüllte sich für sie damals ein Traum. Hier konnte sie ihrer Filmleidenschaft frönen, lernte Analysieren und Diskutieren, hatte nachhaltige Begegnungen, erlebte Freundschaften und Geselligkeiten, aber auch Verrat und Maßregelungen. Es war eine Zeit intensivsten Lebens, voller Erwartung war sie auf das, was kommen würde. Aber sie erlebte nie wieder so erfüllte Jahre, später machte ihre Arbeit sie krank