Rainer Schulz

Wer schreibt der bleibt?


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Nachzeichnung seines Schicksals. Treffend wird der Zerfall des kleinbürgerlichen Milieus der elterlichen Familie und der Verlust heimatlicher Bindungskraft als grundlegende Voraussetzung für den Willen zur Selbstbehauptung in der militärisch - hierarchischen Ordnung der Anstalt erfasst. So entwickelt sich bei dem Jungen ein wachsendes Zugehörigkeitsgefühl, das seine innere Zurichtung zur Folge hat. Er verfällt widerstandslos dem Einfluss rassistischen Elitedenkens und dem Mythos von Heldentum und Kameradschaft, kämpft bis zum bitteren Ende, das er schwer verwundet überlebt. Die authentische Erlebnisebene hinterlässt den intensivsten Leseeindruck. Sie ist verknüpft mit einem zweiten Handlungsfaden, der mit der Rückschau auf das Jahr 1952 einsetzt und von der Frage nach eigener Mitschuld ausgelöst wird. Beim Bewerbungsgespräch in einem Kinderfilmstudio wird der junge Mann mit der Aussage konfrontiert, dass solche, wie er, bei Kriegsende erschossen gehörten. Ein dritter Handlungsfaden setzt mit dem Ende des Krieges ein und erzählt von ersten schwierigen Schritten ins neue Leben.

      Auch in Erzählungen erweist sich Münchebergs Talent einfühlsam die komplizierten Wirrnisse im Leben von Jugendlichen nachzuzeichnen.

      Helmut H. Schulz geht in den Siebzigerjahren in Erzählungen („Das Leben und das Sterben“ 1975, „Die Festung - die Stadt“ 1975, „Die Gesichte der Blinden“ 1975, „Metamorphosen der Aphrodite“ 1975, (2013) auf Begebenheiten in den letzten Kriegstagen zurück. Die Erzählungen umfassen zeitlich die Monate vom Beginn des Endkampfes um Berlin mit dem Überschreiten der Oder durch die Sowjetischen Truppen und reichen bis zum Beginn der alliierten Kontrolle über die Stadt. Schicksale von Menschen, die nach Gründen fürs Weiterleben suchen, Orientierungsnot von Jugendlichen, die es nicht schaffen, indoktrinierte Glaubenssätze zu verabschieden, sind so gestaltet, dass sie zu existenziellen Gleichnissen werden. In dem Roman „Dame in weiß“ setzt sich der Autor mit den sozialen und mentalen Implikationen eines kleinbürgerlichen, von NS Vorstellungen geprägten Familienmilieus auseinander. Hier verdrängt der familiäre Überlebenskampf der Nachkriegszeit die Bereitschaft zur kritischen Verarbeitung des Erlebten. Die Napola-Erfahrung des Heranwachsenden bildet einen rückschauenden Faden des Handlungsgeflechts. Seinem Bedürfnis nach rückschauender Bilanz verweigert sich das familiäre Umfeld. Das erzählerische Gesamtwerk von Schulz zeichnet sich durch eine breite Palette von Stoffen und Themen aus. In „Das Erbe“ verarbeitet er die Schicksale von drei Generationen einer Architektenfamilie. In Arbeit und Leben der Baumeister spiegeln sich nicht nur Zeitschicksale, sondern es werden baugeschichtliche Traditionen für die aktuellen Fragen des Wohnungsbaues in der DDR der Achtzigerjahre betrachtet. Mit satirischer Vehemenz zeichnet er in „Jakob Ponte. Eine Deutsche Biografie“ die chamäleonhafte Anpassung intellektueller Opportunisten in der DDR nach, denen auch der neueste Umbruch zustatten kommt. Der Roman ist ein farcenhafter Abgesang auf den Zeitgeist, in der DDR und in der Zeit danach. Treffende Porträts gelingen Schulz auch in einer Reihe historischer Biographien. Mit „Briefe aus dem Grand-Hotel“ verwies er schon bald nach der Vereinigung illusionslos und sarkastisch auf die Perspektiven des restaurativen Kapitalismus. Vier Einzelschicksale aus dem Berliner Umland vor dem Hintergrund der Wende erzählt er in dem Band „Der Weg des Ritters“.

      Für die Lebensumstände und die Sozialisationen der später geborenen Autoren (Chr. Müller 1936, Peter Gosse 1938, Gunter Preuß 1940, Fritz Leverenz 1941,) spielen die Umstände und Möglichkeiten in der DDR der Fünfziger- und Sechzigerjahre eine entscheidende Rolle. Ihre Schreibimpulse ergeben sich aus diesen Umständen, ihre literarischen Vorstellungen sind davon geformt und ihre Wege als Autoren von den Förderungen, die sie erfahren haben, mitbestimmt. Dabei ergeben sich entscheidende Unterschiede aus dem zeitlichen Beginn ihres Debüts. So war für Peter Gosse vom Beginn seines Schreibens an wesentlich, dass er als Absolvent eines Studiums für Hochfrequenztechnik in Moskau und in späterer Tätigkeit als Diplomingenieur in der Radarindustrie und in der Forschung, Technisch-Naturwissenschaftliches mit moralisch-geistigen Fragestellungen verbunden hat. Er beginnt mit operativen Reportagen über junge Leute in der UdSSR, „Antennendiagramme“ (1967), aus denen große Vertrautheit mit der Physiognomie junger Wissenschaftler in der Sowjetunion spricht. Auch in seinem Beitrag für den Band über den Aufbau von Halle-Neustadt „Städte machen Leute“ (1969), den er zusammen mit Jan Koplowitz, H.J. Steinmann, W. Bräunlich herausgab, geht es ihm um den Zusammenhang von kollektiv organisierten baulich-technischen Prozessen und den gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Leben des Einzelnen. Die zahlreichen Reportagebände, die in diesen Jahren erschienen, sind ein Ergebnis und Beleg dafür, dass von vielen Autoren die Arbeitswelt in der materiellen Produktion in ihrer Rückwirkung auf das gesellschaftliche und individuelle Leben als künstlerischer Stoff aufgenommen und verarbeitet wurde. Damit nahmen sie Fragestellungen des Bitterfelder Weges auf, dessen Anliegen einerseits darin bestand, Arbeiter mit der Sphäre der Kunst in Berührung zu bringen. Andererseits wollte man die Literatur- und Kunstschaffenden enger mit den Vorgängen in der materiellen Produktion verbinden, in der Hoffnung, sie würden die Gestalt von Arbeitern und deren Tätigkeiten als Stoff für künstlerische Auseinandersetzungen entdecken. Dass die Ergebnisse oft nicht so waren, wie sich die Funktionäre das Bild des Arbeiters vorstellten, lässt u.a. das Schicksal von Werner Bräunig (1934-1976) mit seinem Roman „Rummelplatz“ erkennen, dessen Werk unvollendet blieb und erst 1995 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Während das Erzählwerk von Wolfgang Hilbig unter Beweis stellt welch große ästhetische Produktivität dem Sujet Arbeitswelt innewohnen kann.

      Peter Gosse begann mit Gedichten in denen Technik und Kunst in programmatischem Zusammenhang steht. Die lyrische Sprache kreist um Alltagsdinge, die er in einen epochalen Zusammenhang stellt („Antiherbstzeitloses“, 1968). Später entwickelt er, geschult an der Poetik Georg Maurers, in dessen Umkreis er am Literaturinstitut in Leipzig seit 1971 Lehrtätigkeit ausübte, sein poetisches Modell an großen philosophischen Fragestellungen, in die er intimes Erlebnis und Politisches zusammenbringt. („Ausfahrt aus Byzanz“ 1982). Die Bildsprache ist anfangs recht technikaffin, während sich später, in den Achtzigerjahren in den Gedichten zivilisationskritische Bilder finden, in denen sich der DDR-Abstieg spiegelt. In Essaybänden erörtert er philosophisch-ästhetische Fragestellungen, die vom eigenen Schreibantrieb ausgehen. Auch weckt er Interesse für Kunstwerke und sucht so des Lesers Erlebnis- und Denkfähigkeit zu entwickeln. In späteren Gedichten verarbeitet er den gesellschaftlichen Wandel nach dem Ende der DDR, Liebe und Kunsterfahrung werden intensiver thematisiert. „Stabile Saitenlage. Die Liebesgeschichten“ (2007) versammeln Prosa Miniaturen, in denen Augenblicke der Liebe, der zärtlichen Annäherung, wie der erfüllten Sehnsucht, aber auch des Abschieds und des Treuebruchs so gestaltet werden, dass beim Leser der Eindruck entsteht, diese Augenblicke bleiben fürs Empfinden der Beteiligten unauslöschlich. Sprachliche Originalität macht sie zu Momenten der Daseinsfeier. Impressionen von Orten, Umrisse von landschaftlichen Horizonten, floristische Details, tragen zum unverwechselbaren Kolorit bei. In Anhängen vermittelt der Autor Anekdoten. In überlieferten und erlebten Begebenheiten aus sowjetisch/russischem Horizont und aus Leipziger Umkreis scheinen im Erlebten Erwartungen und Ernüchterungen, aber vor allem Widersinnigkeiten auf.

      Für Christa Müller blieb das eigene Schreiben der Tätigkeit in der Film- bzw. Fernsehdramaturgie zugeordnet. Dennoch veröffentlichte sie seit den Siebzigerjahren Gedichte in Zeitungen und Anthologien. Mit ihren Erzählungen „Vertreibung aus dem Paradies“ (1979) und „Tochter“ (1987) steht sie im Strome vielfältigen literarischen Ausdrucks von Frauen, die differenzierte Auskünfte über ihr Leben in der DDR geben und sensibel das Spannungsverhältnis zwischen selbstverständlich ausgeübter, gleichberechtigter Berufstätigkeit und alltäglicher Überforderung ausloten. Mit dem Roman „Tango ohne Männer“ (1998), im Untertitel „Roman meiner Mutter“ vergegenwärtigt sie ein Generationsschicksal, schildert in szenisch aufgebauten dialogisch bestimmten Episoden suggestiv den Überlebenskampf von Frauen, die ihre Kinder und sich selbst durch die schweren Jahre des Krieges und der Nachkriegszeit bringen mussten. Die Männer vom Krieg verschlungen, blieben sie auf sich gestellt. In „Die Verwandlung der Liebe“ erzählt die Autorin einfühlsam von einer Mutter-Sohn Beziehung.

      Gunter Preuß hat neben Tätigkeiten im Fernmeldebereich früh schon geschrieben, wurde dabei gefördert und konnte ein vierjähriges Studium an Literaturinstitut in Leipzig absolvieren, wo er seit 1986 Oberassistent für Prosa wurde. Die in den Bänden „Grasnelke“ (1973) und „Die großen bunten Wiesen“ (1976) zusammengestellten