Also bekommst du gar nichts.«
Helene war außer sich. Hiermit hatte sie nicht gerechnet. Mit Beleidigungen, Beschimpfungen und dergleichen schon, aber nicht mit einer derart kaltschnäuzigen Abweisung. Nein, damit hatte sie nicht gerechnet.
Margot Pulsek sah das panikhafte Flackern in den Augen ihrer Schwester. Sie hatte ihre Lehre weg. Dieser Schock würde ihr guttun. Kurz darauf drehte sie ihr behäbig den Rücken zu. Ein Zeichen, für jeden der sie kannte, dass das Gespräch beendet war.
Helene Gratmeyer würgte nach Luft. Vor ihren Augen tanzten winzige schwarze Punkte. Jetzt und hier das Bewusstsein verlieren? Nein, niemals die Blöße vor dieser eiskalten Bestie ... War es möglich, für ihre Schwester noch irgendein Gefühl aufzubringen? Die Antwort gab sie sich selber, indem ihre rechte Hand, wie von Geisterhand geführt, zur Buchstütze aus Marmor auf dem Kaminsims griff. Ein Schlag, ein einziger Schlag und da lag sie vor ihr: regungslos.
Sie hatte keine Erinnerung daran, wie lange sie schon so dastand, mit der schweren Buchstütze in der Hand. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann kniete sie sich neben die am Boden Liegende. War sie tot? Nein, ein ganz leises Röcheln drang noch aus ihrem Hals. Jetzt, wo sie so da lag, kam ihr ihre Schwester hilflos vor, wie sie selber. Für sie war es, als würde sie selber, Helene Gratmeyer, vor ihr liegen.
Kaum, dass sie diesen Gedanken gedacht hatte, reifte eine Idee in ihr heran: Helene Gratmeyer war tot, aber Margot Pulsek lebte.
Es dauerte nicht lange und aus der blitzartigen Idee entstand ein Konzept. Sie übernahm die Rolle ihrer Schwester! Was gab es zu beachten? Cyril, der Diener, schoss es ihr durch den Kopf. Er hatte heute Ausgang. Freitag war sein freier Tag. Allerdings war Cyril schon betagt und würde nicht sofort bemerken, dass mit seiner Herrin unter Umständen etwas nicht stimmte. Außerdem hatte sie die Möglichkeit ihn kurzfristig, mit einer Abfindung, auf das Altenteil zu schicken.
Nun galt es Margot in ihre Wohnung, am anderen Ende der Stadt, zu bringen. Sie beugte sich zu ihr herunter. Es war ein leises Röcheln zu vernehmen. Helene Gratmeyer sah sich suchend im Zimmer um. Der Cognac, er stand wie immer an seinem vorgesehenen Platz. Flugs ergriff sie die Flasche und hielt sie ihrer Schwester an den Mund. Nachdem sie ihr eine größere Menge eingeflößt hatte, begab sie sich zum Hintereingang des Hauses. Wie früher, schmunzelte sie. Der Wagen stand ebenfalls an der gewohnten Stelle. Nachdem sie zurückkam, war ihre Schwester erwartungsgemäß tot. Sie hatte lange genug im Krankenhaus gearbeitet, um derartiges korrekt einzuschätzen.
Mit einem Erste-Hilfe-Griff zog sie ihre Schwester zum Hintereingang und verstaute sie auf dem Rücksitz des Fahrzeugs. Gleich darauf begab sie sich wieder ins Haus. Sie holte die Schuhe der Toten, die sie beim Herausschleppen verlor. Wenige Minuten später war sie mit dem Auto unterwegs zu ihrer Wohnung.
Auf dem Parkplatz des Mietshauses angekommen, hielt sie mit dem Wagen neben der Kellertreppe. Ein Blick in die Runde. Niemand beobachtete sie. Kurz darauf schleppte sie die Tote die Treppe hinunter zum Aufzug. Im zweiten Stock angekommen, horchte sie in das Dunkel des Treppenflurs hinein: Nichts. Es war nahezu lautlos. Nur die nichtverständlichen Worte eines lärmenden Fernsehers waren zu hören.
Helene Gratmeyer legte ihre tote Schwester nahe der geöffneten Badezimmertür ab. So ähnlich hatte sie vor einigen Tagen hier ebenfalls gelegen. Sie kam aus dem Bad und rutschte im Türrahmen aus. Und die Obduktion bei Margot würde obendrein einen erhöhten Alkoholpegel im Blut bestätigen. Sie war demnach ein wenig unaufmerksam, glitt aus und schlug mit dem Hinterkopf auf. Ein bedauerlicher Unglücksfall, wäre die wahrscheinlichste Diagnose.
Bevor sie gleich darauf die Wohnung verließ, platzierte sie die Flasche Cognac auf den Tisch. Daneben stellte sie ein Glas, in dem sie einen Fingerbreit Weinbrand füllte. Daraufhin schaltete sie den Fernseher ein und begab sich zur Tür.
Sie griff den Wohnungsschlüssel in ihrer Handtasche und schob ihn von innen in die Wohnungstür. Sofort fiel ihr der Ärger ein, den sie vor einigen Monaten mit dem schwergängigen Schloss hatte. Vielleicht ließe sich die Sache mit dem Unfall sogar noch untermauern, kamen ihr die Gedanken.
Sie öffnete die Wohnungstür ein wenig und drehte behutsam den Schlüssel so weit herum, bis der Schließ-Riegel am Türrahmen anschlug. Aufgrund der Schwergängigkeit vom Schloss, blieb der Riegel in dieser Position. Jetzt ließ sie den Schlüssel los und eilte mit zwei Schritten aus der Wohnung. Mit einem kurzen kräftigen Ruck zog sie die Tür ins Schloss. Sie hoffte auf ein wenig Glück. Der Riegel wäre hierbei in die Öffnung im Türrahmen gerutscht und die Tür somit von innen verschlossen.
Nachdem sie in die frische Nachtluft hinaustrat, zögerte sie mehrere Sekunden. Kurz darauf begab sie sich zur nächsten Telefonzelle. »Polizei?! Ja, gut. – Nein, meinen Namen nenne ich nicht. Es ist wegen der Nachbarin, der Frau Gratmeyer, wissen Sie. Sie macht einfach die Tür nicht auf, obwohl ich schon oft geklingelt habe. Aber der Fernseher läuft. Das hört man durch die Tür. Bisher hat sie immer aufgemacht, wenn ich läutete.« Gleich darauf gab Helene Gratmeyer die Anschrift durch, bevor sie einhängte.
In der Villa ihrer Schwester angekommen, überzeugte sie sich davon, dass alle Spuren beseitigt waren. Zufrieden legte sie sich in das Bett ihrer verhassten Zwillingsschwester. »Endlich reich«, seufzte sie wohltuend vor sich hin.
◊
Cyril war ein Diener der vornehmen englischen Schule. Früher war er sicherlich eine respekteinflößende Person. Heute jedoch rief die ausladende Dienstkleidung und das strohig weiße Haar beim Betrachter eher ein Schmunzeln hervor. Die Art seine Herrschaft französisch anzureden, hatte er von einer der früheren Anstellungen übernommen.
»Madame, … ähem. Madame, Polizei ist im Haus.« Cyril hatte Mühe seine Hausherrin sanft zu wecken.
»Polizei?!«
»Ja, ja, Madame, sie tun sehr geheimnisvoll und wollen Sie unbedingt sprechen.«
»Führe sie in die Bibliothek. Ich komme gleich runter.«
»Sehr wohl.«
»Kommissar Steffen, Kriminalpolizei«, stellte sich der ältere der beiden vor. Und mit einer Handbewegung zu dem jüngeren anderen Kollegen ergänzte er: »Kröger, mein Assistent.«
»Mein Gott, was sagen Sie da, Kriminalpolizei?! Um Himmels willen, was ist denn passiert?«
»Wir müssen Ihnen eine traurige Nachricht überbringen«, übernahm der Kommissar das Wort. »Sie haben doch eine Schwester? Natürlich, dumme Frage«, unterbrach er sich gleich selber, »wenn ich Sie so anschaue. Sie sehen ihr zum Verwechseln ähnlich. Ihre Schwester ist leider«, Kommissar Steffen legte eine kurze Pause ein, bevor er weiter sprach, »sie ist leider tot.«
Helene Gratmeyer atmete kräftig durch, ehe sie antwortete. »Es muss Ihnen nicht peinlich sein, Herr Kommissar. Meine Schwester und ich, wir verstanden uns überhaupt nicht. Ihr Tod geht mir nicht allzu nahe. Wie ist sie denn umgekommen?« Gespannt sah sie die beiden Kriminalbeamten an.
Ohne auf ihre Frage einzugehen, hakte der Kommissar nach: »Wissen Sie, ob Ihre Schwester gern Krimis und Actionfilme oder lieber Volksmusik und Ähnliches im Fernsehen sah.«
»Ich verstehe die Frage zwar nicht, aber ich bin der Meinung, dass sie keine Krimis und so was mochte. Warum fragen Sie?«
»Sehen Sie, Frau Pulsek, wir fanden Ihre Schwester mit eingeschlagenem Schädel vor der Badezimmertür. Vermutlich ist sie ausgerutscht und unglücklich gestürzt. Nachdem wir gestern Abend die Wohnung betraten, lief der Fernseher.«
»Ja und?«
»Wissen Sie, es war ein Programm eingestellt, auf dem gestern Abend nur Krimis und so was gezeigt wurden. Das ist nicht jedermanns Sache.«
»Sie meinen Helene wurde getötet?«
»Vielleicht ist das mit dem Programm nur Zufall. Möglicherweise wollte sie Nachrichten sehen und hätte den Kanal gewechselt, wenn sie nicht gestürzt wäre. Außerdem war die Wohnungstür von innen verschlossen. Nein, wir schließen Fremdverschulden aus. In ihrem Adressbuch haben wir auch keine weiteren Anschriften, außer Ihre, gefunden. Nach unserem jetzigen Kenntnisstand