Stefan Frank

Der Kontrakt des Söldners


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– Salute war vorbei, die Pontonbrücke demontiert, ohne dass er seinen Vorsatz ausgeführt hatte, wenigstens dieses Jahr einmal den Canal Grande rituell zu überqueren! Der Bugscheinwerfer des Vaporetto schwenkte wild auf und ab, weil sich plötzlich meterhoher Dunst über dem Wasser türmte.

      „Ich geh mal wieder rein“, sagte sie, „da du ja offenbar nur mit Ratten sprichst – oder halt, nein, entschuldige! Nicht mit, sondern über Ratten! Schönen Abend noch. Und wenn du morgen beim Frühstücksbüfett wieder in mein Müsli hustest ...“

      Zetts Mordimpuls verkroch sich. Linkisch tastete er sich zurück in die Realität:

      „Wart mal. Versteh ich ... du wohnst in meinem Hotel?“

      „Wusste ich gar nicht, dass es dir gehört!“

      „Entschuldigung – kommst du von Bucholtz?“

      „Von wem?“

      „Du hast keine Nachricht für mich?“

      „Oh weh!“, sagte sie. „Ich hau besser ab, sonst hörst du gleich noch Stimmen!“

      Die Situation war dermaßen verfahren, dass Zett kapitulierte. War das alles nur ein aberwitziger Zufall, von Zahnpasta und Zahnbürste über die Buranofähre bis jetzt? Siedend heiß wurde ihm bewusst, welchen Affentanz er auf der Fähre getanzt hatte und dann, noch furchtbarer, noch peinlicher – ob sie wohl eben gemerkt hatte, wie wenig fehlte, und Zett wäre einfach vornüber gekippt...?

      „Da ist die Ca’Dario“, sagte er, als der Scheinwerfer kurz über den Schriftzug in der berühmte Fassade glitt. „Du weißt nicht zufällig, wie Fields zu Tode kam, nachdem sie ihn hier vorbei bugsiert hatten?“

      „Wer ist Fields?“

      John Fields, um 1600 herum Legat der Gründer in London, dessen Schicksal ausführlich auf Bucholtz’ Website erörtert wurde, war ihr offenbar nicht geläufig – oder sie tat wenigstens so. Allein diese Website! Gut – auch Sandline oder NBK hatten aufwendige Websites, aber so was...

      „Sag mal, hast du vielleicht einen ganz Kleinen an der Klatsche?“, fragte sie.

      Darauf er: „Können wir noch mal auf Null zurück?“

      „Null“, sagte sie bereitwillig, auf einmal richtig lieb, und wusste jetzt auch, dass Dario ein venezianischer Gesandter am Hof jenes Sultans Mehmed II. gewesen war, der Konstantinopel erobert hatte. „Deshalb bringt der Palast allen Bewohnern immer nur Unglück“, schloss sie.

      In ihrer Augenbraue hing ein Tropfen Dunst, der sich nicht lösen wollte, sodass Zett fragte: „Da hängt was ... darf ich?“ und sie nickte und er tupfte das Wasser aus ihrer Braue, ließ die Hand sinken, wobei sein Daumen über ihre Wange streifte und in ihrem Mundwinkel zur Ruhe kam.

      „Von wegen, du Ratte – bei mir hängt was! – gar nichts hängt bei mir!“, flüsterte sie und küsste seinen Daumen. „Woher kommst überhaupt?“ Im Bodenseedialekt ihrer gemeinsamen Heimat.

      „Überlingen“, sagte er.

      „Konstanz“, nuschelte sie mit seinem Daumen in ihrem Mundwinkel. „Nächste Frage!“

      „Mein Name ist Ratte – und wie heißt du?“

      „Sag richtig!“, bat sie.

      „Thomas“, sagte Zett, der, weil es gegen alle Regeln verstieß und jede Wahrscheinlichkeit Lügen strafte, seinen richtigen Vornamen in die neue Identität übernommen hatte. Und verplappert hatte er sich eh schon, denn Überlingen stand definitiv nicht im Personalausweis des Kölners Thomas Zett. Überlingen gehörte zu einem Menschen namens Thomas Zottnow, der amtlicherseits für tot erklärt worden war. Er musste besser aufpassen...

      „Was?“

      „Ich hatte gefragt, ob deine Freunde dich Tom nennen“, fragte sie kühl und schob seine Hand fort.

      „Nein“, sagte er schlicht, „entschuldige, heute ist nicht mein Tag.“

      „Das merkt man“, sagte sie.

      „Wie nennen deine Freunde dich?“

      „Willst du mein Freund sein?“

      „An besseren Tagen bin ich ein ziemlich guter Freund.“

      „Meine Schwester nennt mich Sanne“, sagte sie.

      „Da muss ich passen. Als Schwester bin ich ein Totalausfall ... Susanne?“

      Sie nickte. Der Vaporetto legte an, und schweigend gingen sie die hundert Meter zum Hotel, begrüßten den Nachtportier, auf dessen Lippen Zett immer noch ein abfälliges Lächeln zu sehen meinte – oder war es nur ungläubig und galt dem überraschenden Paar?

      Vor seiner Zimmertür, die im Flur zuerst kam, boxte sie ihn leicht in die Rippen und ermunterte Zett: „Morgen, neun Uhr Frühstück, Müslihusten!“ Und weg war sie.

      Zett schaltete gewohnheitsmäßig den Fernseher ein, Ton aus. Zuerst Bilder aus Istanbul. Dann stieg Bush aus dem Buckingham Palace in die Air Force One um, während Michael Jackson sich den für Neverland zuständigen Behörden stellte. Soweit CNN. Auf Rai Due, in einer Sendung namens »L’isola dei famosi« sang ein Mann auf Krücken und schrieb anschließend mit Kreide „Nackte“ auf die Tafel. Damit kriegte er Applaus und sang noch einmal. Zett ging duschen. Als er zurückkam, putzte sich ein anderer Mann im Flugzeug mit der Krawatte des Sitznachbarn die Zähne, woraufhin die Sendung »ER – Medici in prima linea« angekündigt wurde. Als dann Bilder vom Raketenangriff auf das irakische Ölministerium folgten, schaltete Zett ab. Zu wundern brauchen wir uns nicht, dachte er noch. Dann verstaute er seine Waffe, die Papiere und das meiste Geld im Schranktresor, wusch sich nochmal die Hände und verließ sein Zimmer, um an ihre Tür zu klopfen.

      6. Venedig. Samstag, 22.11.2003 bis Samstag, 29.11.2003

      „Du kannst mit Fug und Recht“, hatte Cloerkes einmal doziert, ohne damit jedoch Venedig zu meinen, „die Stadt als den Fleck Erde betrachten, wo du samstags einkaufen gehst, dein Auto wäschst und abends mit den Kumpels ein Bierchen trinkst. Oder du liest die Stadt als Landkarte. Oder Geschichtsbuch.“

      Tatsächlich wurde für Zett das Geschichtsbuch Venedig zum Notbehelf, weil immer wieder touristische Attraktionen herhalten mussten, um von den Ungereimtheiten seiner erfundenen Biografie abzulenken. Zett hatte das noch nie geübt. Seine letzte Beziehung datierte in die Epoche des für tot erklärten Thomas Zottnow, der seine Söldnerexistenz durchaus offen gelebt hatte. Jetzt merkte er, während Susanne sich öffnete, wie dürftig Herrn Doktor Zetts Lebenslauf war. Der reichte bestenfalls für ein Kneipengespräch, und es machte ihm Tag für Tag weniger Spaß, herumzustottern, um diese wunderbare Frau zu belügen. Cloerkes, weit entfernt davon zu helfen, hockte im Schmollwinkel.

      Susanne Dohm war Einkaufsleiterin einer kleinen aber feinen Eventagentur und machte theoretisch Urlaub, den sie aber täglich ein paar Stunden unterbrach, um für ihre Firma Muranoglas zu kaufen und auf Burano nach exquisiter Spitze zu suchen, die es in winzigen Stückzahlen immer noch gab, abseits vom asiatischen Plunder. Das war doch mal was. War ein Leben.

      Und Zett? Was sollte er erzählen, wenn schon die linke Buchhandlung seiner verstorbenen Eltern, ein bodenseeweit verrufenes Wagnis, ihn identifizierbar gemacht hätte? Schön, den humanistischen Bildungsterror, die erzwungenen Klavierstunden, das abgefragte Lesepensum – mach aber keine Eselsohren, hörst du! – die ausgeprägte Diskussionskultur bis zum Erbrechen – all das, was ihm damals zunehmend unerträglich vorgekommen war, konnte er ortsunabhängig erzählen. Auch Salem! Das kannten die Wenigsten, also berichtete er, das Geld seiner Eltern habe ihm dieses Internat ermöglicht, obwohl es eigentlich das Geld des Schweizer Großvaters gewesen war, der in diesem speziellen Fall die Querelen mit dem ostpreußischen Flüchtlingsschwiegersohn einmal hintangestellt hatte. Abitur nach zwei Schulverweisen, für die Zett sich heute noch nicht schämte. Einmal hatte er in der Theater-AG Shakespeares »Taming of the Screw« ums Verrecken nicht pädagogisch wertvoll interpretiert, beim zweiten Mal hatte ein Oberstudienrat