Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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      „Hallo Guido“, begrüßte ich ihn.

      „Woher weißt du denn, wie ich heiße?“, erwiderte Guido und sah mich hinter den dicken Gläsern seiner Brille verwundert an, statt den Gruß zu erwidern. Wegen seiner Zahnspange sprach er etwas undeutlich.

      „Ich kann hellsehen“, behauptete ich.

      „Kannst du gar nicht!“, widersprach Melissa, die ebenfalls von ihrem Rad abgestiegen und mir gefolgt war.

      „Dürfen meine Schwester und ich mitspielen?“, fragte ich.

      „Aber wir müssen doch nach Hause“, erinnerte mich Melissa.

      „Ein paar Minuten haben wir noch Zeit“, widersprach ich, obwohl wir in der Tat schon ziemlich spät dran waren.

      Eine Weile kullerten wir die Murmeln hin und her, nachdem wir Guido unsere Namen verraten hatten. Dann wurde die Tür des Salons geöffnet, und Angelina Angelo trat gefolgt von ihrer Schwester und Emily nach draußen. Ihre gelben Kittel hatten die drei im Salon gelassen. Die Friseurinnen trugen bunte T-Shirts mit irgendwelchen Aufschriften zu ihren Jeans. So etwas würde meine Mutter im Leben nicht anziehen. Ihre Kleidung musste stets Eleganz ausstrahlen und entsprechend viel kosten.

      Während Emily und Sabrina nicht weiter Notiz von uns nahmen und zu ihren Fahrrädern gingen, kam Angelina zu meiner großen Freude auf uns zu. „Na, Guido, hast du Freunde gefunden?“, fragte sie und strich ihrem knienden Sohn über das Haar.

      Guido stand auf und nickte. Melissa und ich erhoben uns ebenfalls. „Hallo Angelina“, sagte ich mutig.

      „Hallo ihr zwei“, begrüßte Angelina meine Schwester und mich lächelnd. „Leider kenne ich eure Namen nicht.“

      „Constantin und Melissa“, antwortete ich schnell.

      „Che bello“, fand Angelina. „Was für schöne Namen.“

      „Bist du öfter hier?“, fragte ich Guido, während mein Herz wegen Angelinas Kompliment noch raste. Dabei hatte ich ihren Sohn ja zum ersten Mal dort spielen gesehen.

      „Manchmal“, antwortete Guido.

      „Guido war ein paar Tage bei seine Papa“, erklärte Angelina. „Aber jetzt ist er wieder bei mir.“

      „Dann sehen wir uns morgen wieder?“, wollte ich wissen.

      Guido nickte.

      „Er freut sich, euch zu sehen“, übersetzte Angelina die Geste ihres Sohnes. „Aber jetzt müssen wir nach Hause.“

      „Ja, wir auch“, fiel mir siedend heiß ein. „Bis morgen, Guido!“

      „Bis morgen!“, wiederholte Melissa.

      Guido hob zum Abschied die Hand, während meine Schwester und ich auf unsere Fahrräder stiegen. Dann traten wir schnell in die Pedalen, um die beim Murmelspiel verlorene Zeit wieder aufzuholen, obwohl das natürlich unmöglich war.

      Unsere Mutter erwartete uns bereits an der Straße vor dem hohen Metallzaun stehend, der unser Grundstück umgab. Als sie uns näherkommen sah, hielt sie beide Hände wie zum Gebet vor ihren Mund.

      „Wo kommt ihr jetzt her?“, wollte sie mit unangenehm schriller Stimme wissen, nachdem Melissa und ich abgestiegen waren. Sie öffnete die Pforte, damit meine Schwester und ich unsere Fahrräder hindurchschieben könnten. „Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist und was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich habe gedacht, ihr wärt im See ertrunken!“

      „Mama, in dem See kann man nicht ertrinken“, erklärte ich. „Dafür ist er nämlich zu flach.“

      „Trotzdem!“, beharrte meine Mutter. „Euch hätte sonst was passiert sein können! Ihr wisst, was euer Vater gesagt hat! Zu den Mahlzeiten sollt ihr pünktlich wieder zu Hause sein!“

      „Entschuldigung“, lenkte ich ein. „Das wird nicht wieder vorkommen.“

      „Das will ich auch hoffen! Ihr wisst gar nicht, was ich für Ängste um euch ausgestanden habe!“

      Nachdem Melissa und ich unsere Fahrräder abgestellt hatten, hinderte uns unsere Mutter daran, ins Haus zu gehen, indem sie uns an sich drückte, als wollte sie uns nie wieder loslassen.

      „Du reißt an meinen Haaren, Mama“, beschwerte sich Melissa schließlich und machte sich aus der Umarmung frei.

      „Ich bin nur so froh, dass euch nichts passiert ist“, sagte unsere Mutter. Zu meinem Entsetzen liefen ihr Tränen über die Wangen.

      „Ist Papa gar nicht da?“, fragte ich, nachdem wir das Haus betreten hatten, hauptsächlich, um das Thema zu wechseln, denn mein Vater war um diese Uhrzeit selten schon zu Hause.

      „Nein“, erklärte meine Mutter. „Er hat noch etwas im Büro zu tun. Es kann wieder einmal spät werden, hat er gesagt. Wir sollen ohne ihn essen. Aber zuerst wascht ihr euch die Hände.“

      „Freut ihr euch denn schon auf unseren Urlaub?“, wollte meine Mutter mit aufgesetzt fröhlicher Stimme wissen, als wir alle etwas von dem asiatischen Gericht, das die Haushälterin auf Wunsch meiner Mutter zum ersten Mal zubereitet hatte, auf dem Teller hatten.

      Anfang nächster Woche wollten wir an die Côte d‛Azur aufbrechen, also in einigen Tagen, denn es war schon Freitag. Normalerweise freute ich mich auf die Familienurlaube, in denen mein Vater ausnahmsweise Zeit für Melissa und mich hatte, doch diesmal würden mich die zwei Wochen in Frankreich nur von Angelina Angelo fernhalten. Also würde ich die nächsten Tage umso intensiver nutzen müssen, um ihr nah zu sein.

      „Klar!“, antwortete Melissa begeistert und verzog, nachdem sie den ersten Bissen von dem Essen gekostet hatte, den Mund. „Das schmeckt aber komisch.“

      „Das ist thailändisch und hat extra wenig Kalorien“, erklärte unsere Mutter. „Genau das Richtige für abends. Ich habe das Rezept aus einer Zeitschrift und Frau Hubertus gebeten, es nachzukochen. Es ist ihr sehr gut gelungen.“

      „Na ja, geht so“, meinte Melissa mit wenig Begeisterung.

      Mich überzeugte der süßsäuerliche Geschmack ebenfalls nicht, doch wollte ich die Laune meiner Mutter nicht unnötig trüben und aß daher schweigend, bis das Klingeln des Telefons die Stille unterbrach. In mehreren Räumen unseres Hauses stand ein Apparat, so auch im Esszimmer.

      „Ich gehe schon“, bot ich an. So irrational es auch sein mochte, ich hoffte insgeheim, Angelina Angelo könnte am anderen Ende der Leitung sein.

      „Constantin Hart“, meldete ich mich.

      Für einen Moment antwortete niemand. Dann fragte eine weibliche Stimme: „Ist dein Vater zu sprechen?“

      „Nein“, antwortete ich. „Der ist im Büro.“

      „Aha, im Büro ist er also. Bist du sicher?“ Die Anruferin lachte amüsiert.

      „Ja“, bestätigte ich leicht irritiert.

      „Na, wenn das so ist, werde ich sehen, dass ich deinen Vater schnell im Büro anrufe, bevor er seinen wohlverdienten Feierabend macht“, sagte die Frau immer noch heiter. Dann legte sie einfach auf.

      „Wer war das?“, fragte meine Mutter, nachdem ich wieder Platz genommen hatte.

      Mir entging nicht der leicht alarmierte Tonfall ihrer Stimme. „Weiß ich nicht.“

      „Was soll das heißen: ‚Weiß ich nicht?‛ Du musst doch wissen, mit wem du gerade gesprochen hast.“

      „Die Frau hat ihren Namen nicht genannt.“

      „Die Frau. Aha.“ Meine Mutter nahm, wohl um sich zu beruhigen, einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Gezwungen beiläufig fragte sie anschließend: „Und was wollte ... die Frau?“

      „Mit Papa sprechen.“

      „Aha.“ Meine Mutter presste ihre Lippen aufeinander und griff nach der Stoffserviette neben ihrem Teller,