Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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der Fall. Ich zog Jacke und Schuhe aus, legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke, wo ein Mobile mit bunten Pappautos hing. Auch so ein Babykram, für den ich mich schon viel zu alt fühlte. Ich stellte mich auf das Bett, riss das Mobile aus der Befestigung und warf es in eine Ecke. Dann legte ich mich mit einer gewissen Genugtuung wieder hin. Ich ließ meine Gedanken zurück zum heutigen Nachmittag in den Salon „Engelshaar“ schweifen, ging alles noch einmal Schritt für Schritt durch. Für dich immer gern, hatte Angelina zu mir gesagt, als ich mich bei ihr bedankt hatte. Für dich immer gern. Für dich immer gern. Für dich immer gern.

      Den ganzen Nachmittag dachte ich über die Italienerin nach. Als mich meine Mutter zum Abendessen rief, war ich bereits zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ich mich in Angelina Angelo verliebt hatte.

      Beim von der Haushälterin zubereiteten Abendessen, das aus Hähnchenbrustfilet mit Reis und Broccoli bestand und das wir wie immer an dem massiven Mahagonitisch im geräumigen Esszimmer einnahmen, der ausgezogen zwölf Personen Platz bot, musste Melissa unbedingt unserem Vater, der für seine Verhältnisse früh zu Hause war, die Ponyhofgeschichte aus dem Comic-Heft erzählen, die sie während des Friseurbesuchs gelesen hatte. Mein Vater war an diesem Abend auffallend guter Laune, was vielleicht mit dem Termin zu tun hatte, zu dem er später noch aufbrechen musste, wie er uns zu Beginn des Essens mitgeteilt hatte. Außerdem war meine Schwester sein Liebling, und auch deshalb hörte er ihren Ausführungen geduldig zu.

      „Aber am Ende wurden die Ponys doch noch wiedergefunden“, berichtete Melissa.

      „Und hoffentlich wohlbehalten zurück zum Ponyhof gebracht“, mutmaßte mein Vater.

      „Das weiß ich nicht“, gab meine Schwester zu. „Denn da war ich mit Haareschneiden dran und konnte nicht weiterlesen.“

      „Viel wurde ja nicht abgeschnitten“, stellte mein Vater fest.

      „Nein, und das ist auch gut so“, erwiderte Melissa. „So habe ich immer noch die längsten Haare an der Schule.“

      „Die hat Constantin auch bald, wenn das so weitergeht“, warf nun meine Mutter ein, die bisher kaum einen Ton von sich gegeben hat. „Eigentlich hätte ich dafür gar nichts bezahlen sollen. Die Friseurinnen in diesem neuen Salon ‚Engelshaar‛ sind die Unfähigkeit in Person. Unverschämt grinsen ist das Einzige, was die können. Das war das erste und das letzte Mal, dass wir dort gewesen sind.“

      Mich ärgerte es maßlos, wie meine Mutter über Angelina und ihren Salon sprach, doch ich hielt es für besser, mich nicht dazu zu äußern.

      „Aber Liebling“, wandte mein Vater ein. Es klang seltsamerweise immer ironisch, wenn er meine Mutter mit einem Kosenamen ansprach. „Deinen Haarschnitt haben sie dort hervorragend hinbekommen.“ Er sah auf der Suche nach Bestätigung zu Melissa. „Stimmt‛s? Deine Mutter sah doch noch nie besser aus.“

      Ich hatte das Gefühl, er wolle unsere Mutter auf den Arm nehmen.

      „Mmmh“, pflichtete ihm meine Schwester eher pflichtbewusst als überzeugt bei.

      „Und wie gefällt dir dein Haarschnitt?“, wollte mein Vater nun von mir wissen.

      „Super.“ Hastig bemühte ich mich, den Salon „Engelshaar“ im besten Licht erscheinen zu lassen. „Die schneiden in dem Salon viel besser als in der Innenstadt. Und viel günstiger ist es auch noch. Die Luft ist da auch nicht so stickig. Und weißt du was?“ Das Beste hatte ich mir extra für den Schluss aufgehoben. „Der Salon gehört zwei Schwestern aus Italien. Und Männer und Frauen sitzen da zusammen in einem Raum.“

      „Das ist ja interessant“, meinte mein Vater – wohl hauptsächlich, um meine Mutter zu ärgern. „Vielleicht sollte ich mir da auch mal die Haare schneiden lassen.“

      „Dann komme ich mit“, bot ich an. „In der Stadt lasse ich mir jedenfalls nie wieder die Haare schneiden.“

      „Das entscheide ja wohl noch immer ich“, widersprach meine Mutter. An meinen Vater gewandt fuhr sie in leicht gereiztem Tonfall fort: „Wenn ich dir sage, dass der Salon nichts taugt, kannst du mir das ruhig glauben, Konrad. Diese beiden Italienerinnen und ihre Mitarbeiterin sind so etwas von unverschämt. Ungefragt geduzt wird man dort. Ich kam mir schon vor wie in einem ...“ Meine Mutter suchte nach einem unverfänglichen Wort und fand es schließlich. „Etablissement.“

      „Das klingt doch vielversprechend“, erwiderte mein Vater trocken.

      Ich nutzte die Situation, in der meine Eltern, wie so oft, nicht einer Meinung waren und kurz vor einem Streit standen, um ein für mich wichtiges Thema anzusprechen. „Papa, darf ich eigentlich allein mit dem Fahrrad unterwegs sein?“

      „Ja, warum denn nicht?“

      Ich schwieg, doch mein Vater ahnte die Antwort schon. Er sah meine Mutter an, als er fragte: „Behandelt dich deine Mutter wieder einmal, als wärst du neun Monate statt neun Jahre alt?“

      Ich mochte es nicht, wenn mein Vater so abfällig redete, doch andererseits brauchte ich unbedingt meinen Freiraum, schon allein, um Angelina Angelo möglichst bald wiederzusehen.

      „Du musst nicht darauf antworten“, gestand mir mein Vater großzügigerweise zu.

      „Ich halte es für zu gefährlich, wenn Constantin allein unterwegs ist“, fühlte sich meine Mutter nun genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen. „Er ist noch zu jung. Da draußen kann ihm alles Mögliche passieren.“

      „Aber meine Freunde ...“, setzte ich an, um ihr zu widersprechen.

      Mein Vater hob seine rechte Hand leicht, um mir zu bedeuten zu schweigen. „Ab jetzt darfst du so viel mit deinem Rad unterwegs sein, wie du willst“, bestimmte er und sah dabei meine Mutter an. „Aber zu den Mahlzeiten bist du rechtzeitig zu Hause, wenn du Ärger vermeiden willst.“

      „Ja, klar, ich ...“

      „Und was ist mit mir?“, unterbrach Melissa ungeduldig. „Ich will auch allein mit dem Rad fahren dürfen.“

      „Du kannst Constantin begleiten“, entschied mein Vater. Dann wandte er sich an mich. „Du trennst dich nicht von deiner Schwester, wenn sie mit dir unterwegs ist, verstanden?“

      Ich nickte, obwohl ich ganz und gar nicht damit einverstanden war.

      „Schön, dass ihr drei euch einig seid“, warf meine Mutter mit leicht zitternder Stimme ein. Sie war kurz davor zu weinen. Auf einmal tat sie mir leid. Aber ihr ständiges Bemuttern konnte einem wirklich auf die Nerven gehen.

      Mein Vater warf einen Blick auf seine teure Armbanduhr, ohne darauf einzugehen. „Entschuldigt mich bitte. Ich muss jetzt los zu meinem Termin. Esst in Ruhe ohne mich zu Ende.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum.

      An den darauffolgenden Tagen wurde es wärmer und sonniger – das ideale Wetter zum Fahrradfahren. Leider hatte ich dabei die ganze Zeit Melissa im Schlepptau. Um allein zu sein, hatte ich ihr sogar angeboten, mit ihr „Prinzessin und Aristokrat“ zu spielen, wenn sie anschließend zu Hause bliebe. Doch davon wollte Melissa überhaupt nichts wissen. So fuhren wir gemeinsam, unsere Badesachen auf den Gepäckträger geklemmt, an den See, wo viele unserer Klassenkameraden versammelt waren, um sich in dem flachen Gewässer zu erfrischen. Außerdem hatte Melissa stets ihre türkisfarbene „Prinzessinnentasche“ bei sich, um die sie ihre Freundinnen beneideten. Meine Schwester band die Tasche jedesmal sorgfältig an ihrem Fahrrad fest, bevor sie es abschloss und sich auf ins Wasser machte, damit ihre kostbare Tasche auch ja nicht abhanden kam. Auf dem Rückweg nach Hause bestand ich jedes Mal darauf, noch einen Schlenker durch den Ort zu machen, vorbei am Salon „Engelshaar“, in der Hoffnung, einen Blick auf Angelina Angelo zu erhaschen. Melissa nahm den Umweg glücklicherweise in Kauf, ohne nach dem Grund dafür zu fragen. Einmal sahen wir am späten Nachmittag neben der Eingangstür des Friseursalons einen Jungen mit dunklen Locken, der etwa so alt war wie ich, auf den Steinplatten knien und mit Murmeln spielen. Vielleicht war das ja Guido. Ich hielt so abrupt an, dass meine Schwester, die hinter mir fuhr, fast in mein Fahrrad gefahren wäre.

      „He,