anscheinend nicht auffiel, und legte ihr Besteck auf den noch halb gefüllten Teller.
Unsere Mutter blickte ins Leere. „Aha.“
„Mama“, sprach ich sie an und griff nach ihrer linken Hand, die zur Faust geballt auf dem Tisch lag, während die rechte noch die Serviette krampfhaft umfasste. „Ist alles in Ordnung?“
Meine Mutter sah mich an und blinzelte kurz. „Wie? Ja, ja. Mit mir ist alles in Ordnung. In bester Ordnung sogar.“ Sie nahm ihr Besteck wieder in die Hand und begann energisch weiterzuessen. Plötzlich hielt sie inne, schluckte mühsam den Bissen, den sie gerade gekaut hatte, hinunter und hielt sich eine Hand vor den Mund, während sie am ganzen Körper zu zittern begann und Tränen in ihre Augen traten.
„Mama, hast du dich verschluckt?“, wollte Melissa erschrocken wissen.
Ich wusste es besser und stand auf, um unsere Mutter zu trösten. Melissa sah mir einen Moment lang zu und tat es mir schließlich gleich. Beide umarmten wir unsere Mutter, die nun hemmungslos schluchzte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Dann machte sie sich aus unserer Umarmung frei und erhob sich. „Sagt eurem Vater nichts davon“, bat sie meine Schwester und mich leise und verließ das Esszimmer.
Am nächsten Tag war ich mit Melissa wieder am Badesee. Ich konnte es kaum erwarten, zum Salon „Engelshaar“ zu gelangen, denn samstags schloss das Friseurgeschäft früher als an den anderen Tagen, wie ich am Vortag durch einen Blick auf das Schild an der Eingangstür, das die Öffnungszeiten zeigte, in Erfahrung gebracht hatte. Daher fragte ich meine Schwester schon bald, während wir uns im Wasser aufhielten, ob wir wieder fahren wollten.
„Nein“, gab diese entschlossen zurück. „Ich will noch weiterbaden. Außerdem sind wir doch gerade erst angekommen.“
Ein paar Minuten später versuchte ich es erneut. „Ich habe keine Lust mehr zum Baden. Komm, lass uns fahren und sehen, ob Guido da ist.“
„Ich will aber nicht zu Guido!“, lautete die abwehrende Antwort meiner Schwester.
„Aber er sitzt ganz allein vor dem Friseursalon und wartet bestimmt schon auf uns“, appellierte ich an ihr schlechtes Gewissen.
„Das ist mir doch egal! Guido kann ja zu uns an den See kommen!“
„Du bist echt bescheuert!“, beschimpfte ich meine Schwester.
„Nein, du bist bescheuert!“, wehrte sie sich. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“
„Ich fahre jetzt zu Guido“, kündigte ich an. „Bleib doch hier, wenn du nicht mitkommen willst.“
„Aber Papa hat gesagt, dass wir immer zusammenbleiben sollen, wenn wir unterwegs sind“, erinnerte mich Melissa.
„Dann musst du mit zu Guido kommen.“
„Ich will aber nicht!“
„Du bestimmst aber nicht, was gemacht wird, weil ich von uns beiden älter bin!“ Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Schwester mit der Absicht, sie im Wasser zu Fall zu bringen, zu schubsen. Sie hielt jedoch ihr Gleichgewicht.
„He, was soll das, Constantin!“, wollte sie verärgert wissen. „Jetzt komme ich erst recht nicht mit zu deinem blöden Guido!“
„Er ist kein blöder Guido!“, verteidigte ich den Jungen, den ich kaum kannte, weil er Angelinas Sohn war. „Dann bleib doch hier, bis du schwarz wirst!“ Mit diesen Worten watete ich aus dem Wasser, trocknete mich ab und zog mich wieder an. Dabei hoffte ich, Melissa werde mir doch folgen, aber sie hatte sich im See schon zu einigen ihrer Freundinnen gesellt und beachtete mich gar nicht mehr.
Ich nahm mir vor, zu Guido zu fahren, dort so lange zu bleiben, bis Angelina den Salon verließ, mich etwas mit ihr zu unterhalten und anschließend zurück an den See zu fahren, um Melissa abzuholen. Ich würde ihr einen Nachmittag „Prinzessin und Aristokrat“ versprechen, wenn sie unseren Eltern nicht verriet, dass ich sie allein am See gelassen hatte. Sicher würde sie darauf eingehen.
Guido war bei meiner Ankunft wieder ganz in sein Murmelspiel vertieft. Das bedeutete wohl, dass sich seine Mutter noch im Salon aufhielt. Bei der Feststellung, nicht zu spät zu sein, atmete ich erleichtert aus. „Hallo Guido“, begrüßte ich meinen neuen Freund und stieg von meinem Rad.
Guido blickte von den Murmeln auf. „Hallo.“
„Da bin ich, wie ich es gestern versprochen habe.“ Mit diesem Hinweis auf meine Zuverlässigkeit kniete ich mich zu Guido auf die Steinplatten, die durch die Sonne stark aufgeheizt waren. Schöner wäre es jetzt in der Tat am Badesee, musste ich insgeheim eingestehen. Aber schließlich ging es um ein Wiedersehen mit Angelina, vermutlich das letzte vor unserer Frankreichreise, und dafür mussten nun einmal Opfer gebracht werden. Konzentriert begannen wir unser Murmelspiel, doch wenn die Tür des Friseursalons geöffnet wurde, fuhr ich hoch in der Hoffnung, es sei Angelina, und war enttäuscht, da nur frisch frisierte Kunden nach draußen traten.
Dann endlich verließen Angelina, Sabrina und Emily den Salon. Wieder trugen alle drei bunte T-Shirts, doch Angelina hatte heute, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, statt einer Jeans eine kurze weiße Hose an. Wieder war Angelina die Einzige, die auf uns zukam, während die anderen beiden Frauen nach einem Abschiedsgruß auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren.
„Constantin, das ist aber schön, dass du mit Guido spielst“, begrüßte mich Angelina Angelo.
Ich erhob mich, während Guido noch die Murmeln einsammelte. „Ja, das habe ich ja versprochen.“
„Du bist ein sehr lieber Junge“, stellte Angelina anerkennend fest, und mir wurde ganz warm ums Herz.
Nachdem Guido die Murmeln in einem kleinen Beutel verstaut hatte, ging er auf seine Mutter zu.
„Na, wie wäre es mit einem Eis?“, fragte Angelina ihren Sohn und strich ihm über das Haar.
Guido nickte nur. Er war nicht sehr gesprächig, wie ich bereits festgestellt hatte.
„Möchtest du mitkommen, Constantin?“, fragte mich Angelina zu meiner großen Freude. „Wir wohnen gleich da drüben.“ Sie zeigte zu einem Mehrfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Ich habe noch Eis zu Hause. Wir können es auf dem Balkon essen.“
„Ja, sehr gern!“, nahm ich das Angebot hastig an.
„Dann komm.“ Angelina legte einen Arm um Guido. Als ich den beiden folgen wollte, wies sie mich auf mein Fahrrad hin, das ich auf dem Parkplatz vor dem Friseursalon abgestellt hatte und beinahe vergessen hätte. „Das solltest du besser mitnehmen, Constantin.“
Ich Idiot! Schnell ging ich zu meinem Rad und schob es hinter Angelina und Guido her.
Wir erreichten das vierstöckige Backsteinhaus, in dem Angelina und ihr Sohn wohnten. Beim Näherkommen fiel mir auf, wie schäbig es aussah. Der Garten bestand lediglich aus einer kleinen Rasenfläche, die, soweit ich sehen konnte, das Haus umgab und stark von Moos und Löwenzahn durchwuchert war. An den vormals weißen Fensterrahmen des Hauses blätterte die Farbe ab, und die breite braune Eingangstür, in die mehrere Buchstaben und sonstige Zeichen geritzt waren, hätte ebenfalls einen neuen Anstrich vertragen können. Im stickigen Treppenhaus roch es widerlich, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Bratfett und Urin. Wir fuhren mit dem klapprigen Aufzug, dessen Innenwände mit Graffiti verziert waren und in den mein Fahrrad gerade mit hineinpasste, nach oben in den vierten Stock.
„Du kannst dein Fahrrad ruhig hier im Hausflur stehen lassen“, teilte mir Angelina mit. „Auf dieser Etage wohnen nur anständige Leute. Ich habe alle, als Guido und ich eingezogen sind, zu einer kleinen Feier in unsere Wohnung eingeladen.“
Ich hoffte, dass Angelina Recht mit ihrer Einschätzung hatte, ließ mein Fahrrad samt Badetasche neben der Wohnungstür stehend zurück, ohne es abzuschließen, um Angelina nicht durch mein Misstrauen zu verärgern. Dann folgte ich ihr und Guido in den engen, dunklen Flur der Wohnung, der mit einem flauschigen weinroten Teppich ausgelegt war. Angelina schaltete die Deckenlampe