Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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Mutter gern durch ein weißes ersetzen würde, weil das den Raum ihrer Ansicht nach heiterer erscheinen lassen würde. Sie hatte ihre Idee aber noch nicht umgesetzt, weil sie sich nicht zwischen diversen Möbelangeboten entscheiden konnte.

      Erwartungsvoll sah ich meinen Vater an, der mir eine Hand auf die Schulter legte. „Constantin“, sagte er schließlich, „ich weiß nicht, wie es dir am besten beibringen soll. Aber Melissa ... wird nicht zurückkehren.“

      „Wird ... nicht zurückkehren?“, fragte ich verwirrt.

      Mein Vater nickte. „Sie ... wurde gestern an einer Landstraße angefahren. Kein Mensch weiß, was sie da verloren hatte. Der Autofahrer ... hat ihr nach dem Unfall nicht geholfen.“

      „Was?“, rief ich entsetzt. „Heißt das etwa, Melissa ist tot?“

      Mein Vater antwortete nicht. Das musste er auch nicht. Sein versteinerter Gesichtsausdruck war Antwort genug.

      2. Kapitel

      Meine Schwester hatte sich am See kurz nach meinem Aufbruch mit ihren Freundinnen gestritten und ihn daraufhin ebenfalls allein auf ihrem Fahrrad verlassen. Diese Informationen kamen in den darauffolgenden Tagen nach und nach ans Licht, und die Polizei fügte sie wie Puzzleteile zusammen, um zu rekonstruieren, was meiner Schwester genau zugestoßen war. Bei dem Streit war es darum gegangen, dass Melissa unbedingt Walderdbeeren hatte sammeln und meine Eltern und mich damit hatte überraschen wollen. Auslöser für dieses Vorhaben war vermutlich ein schwedischer Kinderfilm gewesen, den Melissa kürzlich zusammen mit mir gesehen hatte und in dem Kinder Walderdbeeren genascht hatten, sowie die Tatsache, dass Melissa einige Tage zuvor Frau Hubertus dabei geholfen hatte, aus Erdbeeren, die diese selbst in einem Erdbeerfeld gepflückt hatte, Marmelade für unsere Familie zu kochen und in Gläser zu füllen. Die gesammelten Beeren hatte Melissa in ihrer „Prinzessinnentasche“ transportieren wollen, die sie sowieso meistens inhaltslos mit sich geführt hatte. Melissas Freundinnen waren jedoch der Ansicht gewesen, dass es in unserer Gegend keine Walderdbeeren gebe, und hatten meine Schwester daher nicht begleiten wollen. Deshalb war Melissa auf ihrem Fahrrad allein losgezogen, hatte sich weiter von unserem Wohnort entfernt und war eine nicht viel befahrene Landstraße, die durch ein Waldgebiet führte, entlanggeradelt, was zwei Radfahrer, die die Polizei glücklicherweise ausfindig machen konnte, bestätigten. Vermutlich war der Autofahrer, der Melissa erfasst hatte, während sie am Straßenrand stehend Ausschau nach Walderdbeeren gehalten hatte, mit viel zu hoher Geschwindigkeit in Richtung auf unseren Ort unterwegs gewesen. Vielleicht hatte meine Schwester in dem Moment, als das Auto auf sie zugekommen war, auch gerade die Straße überquert. Melissa hatte dunkle Kleidung getragen und war im Schatten der Bäume sicher nicht leicht zu erkennen gewesen. Meine Schwester war jedenfalls durch den Aufprall schwer verletzt worden, hatte aber wahrscheinlich noch gelebt. Der Autofahrer musste ausgestiegen sein, jedoch nicht, um Melissa zu helfen, sondern um sie und ihr Fahrrad am Waldrand in einen ausgetrockneten Graben zu legen, wo sie fast ganz von Büschen verdeckt war. Dies war der Grund, weshalb sie erst am darauffolgenden Tag von einem älteren Ehepaar, das dort mit seinem Hund spazieren gegangen war, gefunden worden war.

      Meine Mutter erlitt einen Zusammenbruch, als sie die Einzelheiten, die zum Tod meiner Schwester geführt hatten, erfuhr. Sie verbrachte die Tage bis zur Beerdigung, ruhiggestellt durch Medikamente, in ihrem Bett.

      Mein Vater hingegen machte zumindest nach außen hin einen gefassten Eindruck. Er übernahm alles Organisatorische, hatte sogar meine tote Schwester gleich nach dem Besuch der beiden Polizisten in der Gerichtsmedizin identifiziert. Er stornierte unsere Frankreich-Reise und kümmerte sich um die Vorbereitung der Beisetzung, deren Termin jedoch erst festgelegt werden konnte, nachdem der Leichnam meiner Schwester durch die Gerichtsmedizin freigegeben worden war.

      Ich kam mir während dieser Tage völlig verloren und wie in einem bösen Traum vor. Außerdem plagten mich schwere Schuldgefühle. Schließlich hatte ich meine Schwester alleingelassen. Wären wir zusammengeblieben, würde sie jetzt noch leben. Die Frage „Wieso hast du Melissa alleingelassen?“, hing wie ein Damoklesschwert über mir, wenn sie auch niemand laut aussprach. Frau Hubertus, der Melissas Tod ebenfalls sehr naheging, versuchte, mir so gut es ging beizustehen, und machte freiwillig Überstunden, um meine Familie in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Obwohl ich ihre Bemühungen zu schätzen wusste, konnte ich ihre ständige Anwesenheit und ihre Versuche, mir die Schuld am Tod meiner Schwester auszureden, kaum ertragen. Wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, zog ich mich in Melissas Zimmer zurück, wo ich mich meiner Schwester am nächsten fühlte. Jedesmal, wenn ich den Raum betrat, rechnete ich so sehr damit, Melissa darin vorzufinden, die auf mich zustürmte und mich fragte, ob wir „Prinzessin und Aristokrat“ spielen wollten. Und immer wieder war ich enttäuscht, wenn sie nicht da war, sondern nur Leere. Nur Leere. Wie gern hätte ich für Melissa den verliebten Aristokraten dargestellt, und obwohl sie nicht mehr da war, zog ich mehr als einmal die Wildlederweste über und setzte dazu den Cowboyhut auf in der Hoffnung, sie könne meinen guten Willen doch von irgendwo aus sehen.

      Die Trauerfeier für meine Schwester fand bei sonnigem Wetter, das einen absurden Gegensatz zu dem traurigen Anlass bildete, in engstem Familienkreis statt. Das hatte mein Vater, nicht zuletzt wegen des besorgniserregenden Zustands meiner Mutter, entschieden. In ihrem schwarzen Kleid wirkte das blasse Gesicht meiner Mutter, die auf jegliches Make-up verzichtet hatte, umso kränklicher, und es schien mir, dass sie seit Melissas Tod an Gewicht verloren hatte. Ich hatte meine Mutter in den Tagen zuvor kaum zu Gesicht bekommen. Erst am Tag der Beerdigung fühlte sie sich in der Lage, ihr Bett länger als für ein paar Minuten zu verlassen. Sicher stand sie noch unter dem Einfluss von Medikamenten, denn ihre Augen wirkten seltsam leer. Wie mein Vater trug ich einen schwarzen Anzug, den Frau Hubertus am Vortrag noch sorgfältig gebügelt hatte, obwohl er meiner Ansicht nach bereits makellos aussah. Ferner nahm ich Melissas „Prinzessinnentasche“, die wir ironischerweise völlig unversehrt von der Polizei zurückerhalten hatten, mit zur Trauerfeier. Meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst und ihren Sorgen beschäftigt, um ihre Verwunderung darüber zu äußern oder mich nach dem Grund zu fragen.

      Vor der Kapelle, in der die Trauerfeier stattfinden sollte, trafen meine Eltern und ich auf meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, und deren Lebensgefährten. Ich bekam meine Großmutter nicht oft zu Gesicht, da es, obwohl sie nicht weit entfernt in der Stadt lebte, nur selten gegenseitige Besuche gab. Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater dafür die Ursache war, weil er des Öfteren spitze Bemerkungen über seine Schwiegermutter fallen ließ, womit er meine Mutter jedesmal sehr traf. Auch von dem betuchten Lebensgefährten meiner Großmutter hielt mein Vater nicht viel, weil dieser nach Ansicht meines Vaters sein Vermögen nur geerbt und selbst im Leben nichts erreicht habe. Dafür hatte mein Vater schon mehr als einmal in sarkastischem Tonfall tiefe Bewunderung geäußert. Meine Großmutter war ungefähr einen Kopf kleiner als meine Mutter und recht füllig. Ihre kurzen dauergewellten Haare waren kupferrot gefärbt. An den Fingern trug sie mehrere goldene Ringe, und ihre Fingernägel waren rot lackiert, wie mir auffiel, als sie mich an sich drückte. Meinen Großvater hatte ich nie kennengelernt. Er war vor langer Zeit spurlos verschwunden, wie meine Mutter mir einmal auf meine Nachfrage hin erzählt hatte. Anschließend sprach sie nie wieder über das Thema. Meine Großmutter hatte vor einigen Jahren beim Bingo, ihrer großen Leidenschaft, einen wohlsituierten Herrn in ihrem Alter kennengelernt, mit dem sie nun ihr Leben teilte. Dieser Mann besaß ein Ferienhaus auf Teneriffa, wo er zusammen mit meiner Großmutter die Monate verbrachte, in denen es in Deutschland kalt und trist war.

      „Wie groß du geworden bist, Constantin“, sagte meine in dunkles Grau gekleidete Großmutter zu mir. Sie hatte Tränen in den Augen, und ich fragte mich, wie es noch werden solle, wenn erst der Trauergottesdienst beginnen würde, vor dem mir insgeheim graute. „Erich kennst du doch noch, oder?“ Sie wies auf den glatzköpfigen, sonnengebräunten Mann in einem dunkelgrauen Anzug neben sich, der einen ausladenden Bauch hatte. „Tag, Constantin“, begrüßte mich Erich freundlich.

      „Hallo“, erwiderte ich und gab ihm die Hand.

      Mein Vater begrüßte die beiden ebenfalls mit Handschlag. Dann warf sich meine Mutter in die Arme meiner Großmutter und hielt sie fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen, während