Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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die Einladung mit den Worten, dass sie das nicht ertrage, abgelehnt hatte, beobachtete die Szene von einer diskreten Entfernung aus. Die Eltern meines Vaters waren nicht anwesend, da sie schon vor meiner Geburt mit ihm zerstritten waren. Den Grund dafür kannte ich nicht. Ich vermutete, dass mein Vater seine Eltern nicht einmal telefonisch über Melissas Tod informiert, sondern ihnen nur eine Traueranzeige geschickt hatte. Er konnte in diesen Dingen sehr hart und unnachgiebig sein.

      „Sollen wir hineingehen?“, fragte Erich schließlich. „Es wird Zeit.“

      Dem finsteren Gesichtsausdruck meines Vaters sah ich an, dass er diese Äußerung alles andere als passend fand, da Erich schließlich nicht zur Familie gehörte. Ohne zu antworten, umfasste mein Vater meine Mutter und ging mit ihr an seiner rechten Seite und mir an seiner linken auf den Eingang der Kapelle zu. Hinter uns folgten meine Großmutter und Erich, ganz zum Schluss Frau Hubertus.

      Melissas weißer Sarg, der im hinteren Bereich inmitten von zahlreichen brennenden weißen Kerzen stand und mit vielen rosa und weißen Rosen geschmückt war, war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bei dem Anblick und der Vorstellung, dass Melissa darin lag, bildete sich ein schmerzhafter Kloß in meinem Hals. Ich kannte Särge nur aus Filmen, und dort hatte ich bisher nur erlebt, dass Erwachsene zu Grabe getragen wurden. Der Pfarrer, ein schlanker Mann mit Brille, der trotz seines noch nicht fortgeschrittenen Alters bereits eine Halbglatze hatte, hielt sich bereits auf uns wartend vor den Sitzbänken auf. Bei unserem Näherkommen nickte er uns ernst und feierlich zugleich zu. Meine Eltern und ich nahmen in der vordersten Reihe Platz, meine Großmutter und Erich ebenfalls, allerdings auf der anderen Seite des schmalen Gangs. Frau Hubertus wählte einen Platz in der Reihe hinter meinen Eltern und mir. Der Organist begann, ein trauriges Stück zu spielen, und ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, während mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen stiegen.

      „Wir haben uns heute hier versammelt, um von Melissa Hart Abschied zu nehmen, die uns im Alter von nur acht Jahren verlassen hat“, begann der Pfarrer anschließend seine Predigt.

      Bei diesen Worten begann meine Großmutter geräuschvoll zu weinen. Ich warf unauffällig einen Blick auf meine Eltern neben mir, deren Gesichter keine Regung zeigten.

      „Die Wege des Herrn sind für uns unergründlich, und doch müssen wir ihnen vertrauen. Was Gott tut, das ist wohlgetan, so schwer es auch mitunter für uns sein mag, dies nachzuvollziehen.“ Daraufhin erzählte der Pfarrer von einem finsteren Tal, von Prüfungen, die Gott uns auferlegte und von noch mehr seltsamen Dingen, die für mich nur schwer begreiflich waren und nicht einmal so recht Sinn ergaben. „Melissa war der Sonnenschein der Familie“, schloss der Pfarrer, begleitet vom Schniefen meiner Großmutter, seine Rede. „Sie war ein fröhliches, lebhaftes Mädchen, eine vorbildliche Tochter und Enkelin sowie eine liebevolle jüngere Schwester. So werden wir sie in Erinnerung behalten. Melissa wird in unserer aller Herzen eine schmerzhafte Lücke hinterlassen.“ Anschließend forderte der Pfarrer uns zum Singen eines für den Anlass passenden Liedes auf. Seine durchdringende, melodische Stimme übertönte dabei alle anderen.

      Dann traten die Sargträger durch eine Seitentür in die Kapelle und trugen den Sarg meiner Schwester hinaus zum offenen Grab. Meine Eltern und ich folgten dem Sarg hinter dem Pfarrer, hinter uns gingen meine Großmutter und Erich und zum Schluss Frau Hubertus, die äußerst mitgenommen wirkte.

      Nachdem Melissas Sarg langsam in das Erdloch hinuntergelassen worden war, neben dem unzählige Blumengestecke und Kränze als Beileidsbekundungen lagen, las der Pfarrer am offenen Grab noch ein paar passende Verse aus der Bibel, und wir sprachen zusammen das Vater Unser. Die fürsorgliche Frau Hubertus hatte mir den Gebetstext in weiser Voraussicht am Vortag extra beigebracht, damit ich während des Trauergottesdienstes einen guten Eindruck machen würde. Nach Beendigung des Gebets nahm der Pfarrer eine kleine Handschaufel voll von der Erde, die neben dem Grab in einem Behälter bereitgestellt war, und ließ sie auf Melissas Sarg rieseln. Mit einer einladenden Geste forderte er uns auf, es ihm gleichzutun. Meine weinende Großmutter hielt meine Mutter fest, während diese etwas Erde in das Grab schüttete. Zwar war das Gesicht meiner Mutter dabei von einer seltsamen Ruhe, doch hatte es den Anschein, als würden sie ihre Beine nicht mehr lange tragen. Ich wartete bewusst ganz bis zum Schluss. Dann warf ich nach dem bisschen Erde die kleine türkisfarbene Tasche, deren bunte Glasverzierungen im Licht der Sonne funkelten, in das Grab meiner Schwester. „Tschüss Melissa“, sagte ich leise und spürte Erichs tröstende Hand auf meiner Schulter.

      Mein Vater hatte in einer Gastwirtschaft einen Imbiss für die Trauernden bestellt und auch den Pfarrer dazugeladen, der das Angebot dankend annahm. Zunächst war die Stimmung während des Essens noch sehr gedrückt, doch dann begann ausgerechnet meine Mutter, von lustigen Begebenheiten mit Melissa zu erzählen. Daraufhin fiel auch meiner Großmutter eine Geschichte ein, und Frau Hubertus erlaubte sich, von der Herstellung der Erdbeermarmelade zu berichten, bei der ihr Melissa so vorbildlich geholfen habe. Der Pfarrer brach als Erster auf, nachdem er sich bei allen mit Händedruck und Segenswünschen verabschiedet hatte. Anschließend fühlte sich auch Frau Hubertus veranlasst, die trauernde Familie nun allein zu lassen. Meine Eltern dankten ihr herzlich für ihr Kommen und die wertvolle Unterstützung während der vergangenen Tage. Nachdem die Haushälterin gegangen war, entstand eine etwas peinliche Gesprächspause, die meine Großmutter schließlich mit der Frage unterbrach, ob sie noch etwas für uns tun könne. Mein Vater lehnte dankend ab, bevor meine Mutter den Mund aufmachen konnte. „Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst, Anni“, wandte sich meine Großmutter an meine Mutter, als hätte sie die Worte meines Vaters nicht gehört. „Ich komme sofort zu dir. Du musst das nicht allein durchstehen. Erich und ich sind für dich da, wann immer du willst. Ich möchte, dass du das weißt.“

      „Danke, Mami“, erwiderte meine Mutter leise.

      „Tja, wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen“, schlug Erich vor und erhob sich.

      Meine Großmutter tat es ihm gleich. Zum Abschied gaben sie und ihr Lebensgefährte meinen Eltern und mir die Hand. „Ruf mich unbedingt an, wenn es Neuigkeiten über den ... Unfallverursacher gibt“, bat meine Großmutter noch an meine Mutter gewandt, bevor sie den Raum an der Seite von Erich verließ.

      Leider gab es auch in den nächsten Tagen keine Neuigkeiten über Melissas Mörder. Denn so nannte ich den Mann - für mich stand fest, dass es ein Mann war - insgeheim. Er hatte meine Schwester angefahren und schwer verletzt. Dann hatte er sie einfach wie Müll in einem Graben abgelegt. Die Vorstellung allein ließ mich vor Wut kochen. Die Polizei hatte in der Zeitung gleich nach dem Auffinden meiner Schwester einen Zeugenaufruf geschaltet, doch bis auf die beiden Radfahrer, die Melissa zuletzt lebend an der Landstraße gesehen hatten, hatte sich niemand gemeldet. Es gab keinen einzigen Hinweis auf den Unfallwagen. Keine Werkstatt hatte verdächtige Schäden an einem Auto gemeldet. Der Wagen, der doch Spuren des Aufpralls aufweisen musste, war wie vom Erdboden verschluckt. Es waren nach wie vor Sommerferien. Meine Mutter hatte ihren Konsum von Beruhigungsmitteln offensichtlich reduziert. Sie stand nun wieder zur gewohnten Uhrzeit auf und versuchte, in einen geregelten Tagesablauf hineinzufinden. Manchmal fand ich sie aber im Wohnzimmer oder auf der Terrasse sitzend vor. Sie las wieder und wieder die vielen Beileidskarten, die wir erhalten hatten, und weinte dabei still vor sich hin. Ob Angelina uns auch eine Karte geschrieben hatte? Ich traute mich nicht, meine Mutter, die auf die Friseurin nicht gut zu sprechen war, danach zu fragen. Stattdessen versuchte ich, so gut es ging, meine Mutter zu trösten. Dabei war für mich selbst durch Melissas Tod eine Welt zusammengebrochen, und ich wusste nicht, wie ich dauerhaft ohne meine Schwester zurechtkommen sollte. Weiterhin suchte ich täglich ihr Zimmer auf. Ich hatte mir inzwischen angewöhnt, mich dort hinter geschlossener Tür leise mit ihr zu unterhalten und ihr zu berichten, was vor sich ging, seit sie nicht mehr da war. Ich war davon überzeugt, dass sie mir zuhörte. Meine Mutter hatte mir strengstens untersagt, Ausflüge auf meinem Fahrrad zu unternehmen. Sie wollte, dass ich mich auf unserem Grundstück aufhielt, da sie in panischer Angst lebte, auch noch mich an einen Raser zu verlieren. Dabei wäre ich so gern zu Angelina gefahren und hätte ihr mein Herz ausgeschüttet oder zum Spielen zu einem meiner Freunde, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sprach mit meinem Vater in der Hoffnung, er werde meiner Mutter das Verbot ausreden. Stattdessen bat er mich, mich bis auf Weiteres daran zu halten, bis sich die Situation beruhigt