Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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des geflüchteten Fahrers im Dunkeln tappte, war in unserem Ort kein Geheimnis. Die lokale Zeitung brachte sogar hin und wieder einen kurzen Artikel über den Unfall, der keine Neuigkeiten enthielt. Um das Sommerloch zu füllen, wie meine Mutter verbittert feststellte. Wer das getötete Mädchen gewesen war, war ebenfalls weitläufig bekannt.

      Am letzten Ferientag, als ich mir den Nachmittag damit vertrieb, vor dem Haus allein ein wenig Fußball zu spielen - meine Mutter konnte die Anwesenheit und das Gelächter anderer Kinder zurzeit nicht ertragen -, sah ich eine kleine dicke Frau, eindeutig älter als meine Mutter, mit schwarzem kinnlangem Haar, die ein rotes, zeltartiges Kleid trug, an der Gartenpforte stehen und klingeln. Ich war mit meiner Mutter allein zu Hause. Frau Hubertus war unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, und mein Vater flüchtete sich schon seit einer Weile wieder in seine Arbeit. Wie zuvor verbrachte er viel Zeit in seinem Büro und hatte spätabends auch noch Termine wahrzunehmen. Vielleicht war das seine Art, um Melissa zu trauern.

      Ich wusste, dass meine Mutter draußen auf der Terrasse saß und sich mit der Auswahl des Grabsteins befasste. Das Beerdigungsinstitut hatte ihr hierzu kürzlich mehrere Prospekte zukommen lassen. Daher ging ich an die Pforte.

      „Hallo“, sprach die Frau mich an. Ihre Stimme klang heiser, als wäre sie erkältet oder starke Raucherin. „Sind deine Eltern da?“

      „Nur meine Mutter“, gab ich zurück.

      „Ob ich die mal sprechen könnte?“

      Meine Eltern hatten mir von klein auf eingebläut, mich nicht von Fremden einlullen zu lassen. „Wer sind Sie denn?“, fragte ich daher etwas misstrauisch.

      „Ich möchte deinen Eltern helfen“, lautete die ausweichende Antwort der Frau.

      „Moment bitte.“ Ich trottete hinter das Haus zur Terrasse. Meine Mutter, die wie die Frau an der Pforte ein rotes Kleid trug - allerdings in einer viel kleineren und vermutlich um einiges teureren Variante -, saß auf einem der weißen Korbstühle mit gelbem Stoffpolster und war in die Prospekte vertieft, die sie auf dem ebenfalls weißen Holztisch für einen besseren Vergleich der verschiedenen Ausführungen vor sich ausgebreitet hatte.

      „Da steht eine Frau an der Pforte. Sie sagt, sie will dir und Papa helfen“, machte ich mich bemerkbar.

      Meine Mutter hob ihren Kopf und sah mich an. Ihr Gesicht hatte zum Glück wieder etwas mehr Farbe als in den ersten Tagen nach Melissas Tod, wenn es für meinen Geschmack auch nach wie vor zu hager war. „Dann sei doch so nett und bringe die Frau her. Hören wir uns gemeinsam an, was sie möchte.“

      Es machte mich schon etwas stolz, dass meine Mutter mich in das Gespräch anstelle meines abwesenden Vaters mit einbeziehen wollte, und ich rannte zurück zur Pforte, um sie von innen zu öffnen. „Kommen Sie bitte mit“, lud ich die Frau ein, mir zu folgen. „Meine Mutter erwartet Sie hinter dem Haus.“

      „Ihr habt aber einen schönen großen Garten“, stellte die Frau fest, während wir zur Terrasse gingen. „Wie herrlich hier alles blüht und gedeiht. Und alles ist so gepflegt. Macht das nicht eine Menge Arbeit?“

      Ich fand es etwas merkwürdig, dass die Frau davon ausging, ich als Neunjähriger könnte mich näher mit dem Arbeitsaufwand, den unser Garten erforderte, auskennen. „Darum kümmert sich der Gärtner“, erwiderte ich nur.

      „Verstehe.“

      Meine Mutter, die die Prospekte offenbar ins Haus gebracht hatte, kam unserem Gast entgegen. „Marianne Hart. Guten Tag.“ Sie gab der Frau die Hand.

      „Gesine Knop. Sehr erfreut.“ Die Frau sah sich um. „Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

      „Ich habe vor meinem Sohn keine Geheimnisse“, stellte meine Mutter klar. „Und sonst ist hier niemand. Setzen Sie sich doch bitte.“

      Die Frau setzte sich auf einen der Korbstühle – bei ihrer Leibesfülle musste sie sich regelrecht zwischen die Armlehnen zwängen - und faltete ihre Hände über ihrem wuchtigen Bauch. Ihre Finger sahen aus wie kleine Würste. Meine Mutter und ich nahmen ebenfalls Platz. Auf der umfangreichen Brust der Frau lag an einer langen goldenen Kette ein großer runder Anhänger, der die Erde darstellte. An mehreren Stellen auf den Kontinenten befanden sich kleine rote Steine, die wie Rubine aussahen, vielleicht aber auch nur aus Glas waren wie die Steine auf Melissas „Prinzessinnentasche“.

      „Das sind die bedeutendsten Energiepunkte der Erde“, erklärte die Frau, der mein neugieriger Blick nicht entgangen war, und berührte mit ihrer rechten Hand den Anhänger. „Ich habe sie bereits alle mindestens einmal besucht.“

      Mit der Aussage konnte ich nichts anfangen und hielt es daher für besser zu schweigen.

      „Was führt Sie denn zu uns?“, wechselte meine Mutter das Thema, und zum ersten Mal seit Melissas Tod lag Interesse in ihrer Stimme.

      „Ich habe davon erfahren, was Ihrer Tochter Schreckliches passiert ist“, erklärte die Frau. „Mein herzliches Beileid.“

      Meine Mutter nahm die Beileidsbekundung mit einem ernsten Nicken zur Kenntnis.

      „Dass der Täter immer noch frei herumläuft, muss für Sie unerträglich sein“, sprach die Frau weiter. „Ich möchte helfen, dass die Person, die das getan hat, zur Rechenschaft gezogen wird und Sie und Ihre Familie Ihren inneren Frieden wiederfinden. Soweit dies nach einem solchen Verlust überhaupt möglich ist.“

      „Sind Sie eine Zeugin?“, wollte meine Mutter verwundert wissen.

      „Ja, in gewisser Hinsicht. Ich arbeite als Medium und bin spezialisiert auf die Kontaktherstellung mit dem Jenseits, denn die Toten sind die besten Zeugen.“

      Ich erwartete, dass meine Mutter die Frau angesichts dieses Unsinns hinauswerfen werde, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, Frau Knop hatte die volle Aufmerksamkeit meiner Mutter. „Sie meinen, ...“ Meine Mutter suchte nach Worten. „Sie meinen, Sie wollen Kontakt zu Melissa aufnehmen?“

      Frau Knop nickte. „So ist es. Ich könnte Ihre Tochter nach dem Tathergang und dem Autokennzeichen des Unfallfahrers befragen. In einer Trance würde ich alles, was Melissa beschreibt, vor mir sehen, inklusive des Menschen, der am Steuer saß.“

      Meine Mutter atmete tief durch. „Das wäre ... Wenn Sie wüssten, was für eine Erleichterung es für uns wäre, diesen Menschen hinter Gittern zu sehen!“

      „Ich weiß“, erwiderte Frau Knop sachlich. „Deshalb bin ich hier.“

      „Und ... könnten Sie Melissa auch andere Fragen stellen?“, fragte meine Mutter begierig. „Wie ... es ihr dort, wo sie jetzt ist, geht, zum Beispiel?“

      „Sicher. Das ist kein Problem. Sie können mir die Fragen an Ihre Tochter geben, und ich werde die Antworten für Sie in Erfahrung bringen.“

      „Das wäre ...“ Die Augen meiner Mutter glänzten feucht. Leise sprach sie weiter. „Wenn Sie wüssten, was uns das bedeuten würde.“

      Die Frau nickte nur wissend.

      „Wann ... können Sie denn anfangen?“

      „Im Grunde genommen sofort. Nachdem wir uns über mein Honorar einig geworden sind.“

      „Über Ihr ... Honorar.“

      „Ja. Schließlich kostet mich die Kontaktaufnahme mit dem Jenseits immense Energie und schwächt regelrecht meinen Körper. Das merke ich noch Tage später und muss dafür schon um eine Entschädigung bitten.“

      Ich fragte mich, ob die Frau deshalb als vorbeugende Maßnahme so viel aß, um dem Energieentzug entgegenzuwirken, hütete mich aber davor, die Vermutung laut auszusprechen.

      „Und dann habe ich natürlich auch Spesen“, fuhr Frau Knop fort. „Allein die Anfahrts- und Hotelkosten. Und von etwas leben muss ich ja auch noch.“

      „Verstehe“, erwiderte meine Mutter nachdenklich.

      „Aber nicht, dass Sie jetzt denken, dass ich Ihre Situation ausnutzen will“, stellte Frau Knop hastig