Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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und wandte sich an meine Großmutter. „Untersteh dich, hier neue Sitten einzuführen.“

      „Das hatte ich keineswegs vor“, erwiderte meine Großmutter ruhig.

      „Ich weiß nicht, wie es euch geht“, sagte mein Vater und ging auf die Bar zu, die sich hinter einer der Schranktüren befand, „aber ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und brauche jetzt erst einmal einen Drink. Und dann will ich mir im Fernsehen gleich eine politische Diskussion ansehen, die mich sehr interessiert. Falls das bei euch nicht der Fall ist, schlage ich vor, dass ihr euch woanders weiterunterhaltet.“

      „Wir leisten dir gern Gesellschaft“, antwortete meine Großmutter freundlich, während es meiner Mutter angesichts dieser Unhöflichkeit offenbar die Sprache verschlagen hatte. „Und stoßen mit dir auf deine Erfolge an.“

      „Wie ihr meint, obwohl ich nicht weiß, wie gut sich das mit den Tabletten verträgt, die Marianne konsumiert. Und du, Annemarie, nimmst doch sicher auch regelmäßig Medikamente ein. Würde mich in Anbetracht deines Alters jedenfalls wundern, wenn es nicht so wäre.“ Mein Vater goss seelenruhig etwas von einem bernsteinfarbenen alkoholischen Getränk in drei Gläser, während sich meine Großmutter und meine Mutter nur fassungslos ansahen. „Wie kommt es eigentlich“, fragte er, als er meiner Mutter und meiner Großmutter jeweils ein Glas reichte, „dass Constantin im Flur herumsteht, während ihr es euch in unserem abgedunkelten Wohnzimmer gemütlich macht?“ Mein Vater hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe und konnte es förmlich wittern, wenn etwas auch nur ansatzweise verdächtig war.

      Wieder antwortete meine Großmutter anstelle meiner Mutter. „Constantin war oben in seinem Zimmer und kam wohl gerade herunter, als du ihn im Flur antrafst.“

      „Stimmt das?“, wandte sich mein Vater an mich.

      Ich nickte aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

      „Nun gut. Belassen wir es dabei, obwohl ich weiß, dass ihr lügt. Ihr werdet schon eure Gründe dafür haben.“ Mein Vater stellte sein Glas auf dem Couchtisch ab und schaltete den Fernseher an, in dem bereits die politische Diskussionsrunde lief.

      „Aber Konrad“, sprach nun endlich meine Mutter. „Wir lügen dich doch nicht ...“

      Mein Vater hob abwehrend die Hand. „Ich habe gesagt, ich will mir das hier in Ruhe ansehen, Marianne. Hör jetzt also bitte mit dem Gerede auf.“

      Meine Mutter presste beschämt die Lippen aufeinander.

      „Komm, wir gehen in die Küche“, schlug ihr meine Großmutter flüsternd vor.

      Ich zog es vor, bei meinem Vater zu bleiben, der konzentriert das Streitgespräch auf dem Bildschirm verfolgte. Obwohl ich nicht wusste, ob es ihn überhaupt interessierte, tat ich so, als fände ich die Diskussion ebenfalls sehr spannend. Dabei dachte ich die ganze Zeit darüber nach, was mein Vater dazu sagen würde, wenn ich ihm von Dodo und Bruno Buhr erzählen würde.

      Am nächsten Morgen nahm mein Vater sein Frühstück demonstrativ allein im Esszimmer ein, während ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter am Küchentisch saß. Ich fand es seltsam, dass meine Großmutter schon so früh aufstand, wo sie doch hätte ausschlafen können, aber sie erklärte mir mit einem Seitenblick auf meine Mutter, dass ältere Menschen nicht mehr so viel Schlaf benötigten und der frühe Vogel den Wurm fange.

      Im Gegensatz zu sonst freute ich mich sehr auf meinen ersten Schultag nach den Ferien. Endlich würde ich wieder unter Menschen sein und mit meinen Freunden auf dem Schulhof spielen können. Große Hoffnung, dass mir meine Mutter demnächst wieder erlauben würde, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, machte ich mir angesichts ihrer seltsamen Sorge um Bruno Buhr derzeit nicht. Doch damit, dass mich meine Mutter an diesem Morgen sogar zur Bushaltestelle begleiten wollte, wie sie während des Frühstücks ankündigte, statt mir nur von unserem Grundstück aus hinterherzusehen, hätte ich nie und nimmer gerechnet.

      „Es ist sicherer, wenn ich mitkomme“, erklärte sie, während ich mir im Flur meinen Schulranzen auf den Rücken schnallte, obwohl sie das während des Frühstücks sicher schon dreimal gesagt hatte, ohne Widerworte zuzulassen. „Ich will nicht, dass dir etwas so Schlimmes passiert wie Melissa. Das könnte ich nicht ertragen.“

      „Mama ...“, versuchte ich ein letztes Mal, missmutig einzuwenden. „Ich werde demnächst zehn! Die anderen lachen mich doch aus, wenn du mit zur Bushaltestelle kommst.“

      „So, tun sie das?“, gab meine Mutter spitz zurück. „Dann erzähle ihnen doch mal, was deiner Schwester zugestoßen ist! Dass sie ein Verrückter überfahren und anschließend wie Müll in einen Graben geworfen hat! Dann vergeht ihnen vielleicht das Lachen!“

      „Was ist hier schon wieder los?“, fragte mein Vater in der Esszimmertür stehend.

      „Ich begleite Constantin zur Bushaltestelle“, erwiderte meine Mutter entschlossen. „Das ist alles. Kein Grund für dich, dich da einzumischen.“

      „Und ob das ein Grund für mich ist. Du lässt den Jungen gefälligst allein zur Bushaltestelle gehen! Und das morgendliche Hinterherschauen hört jetzt auch auf! Du machst uns alle noch zum Gespött der Leute mit deinem Geglucke!“

      Einerseits tat es richtig gut, diese Worte, die ich meiner Mutter gern gesagt hätte, aus dem Mund meines Vaters zu hören. Andererseits lag nun schon wieder ein Streit in der Luft, nachdem sich beide während der letzten Zeit zusammengerissen hatten.

      „Du kannst mir nicht verbieten, meinen Sohn zu beschützen!“, widersprach meine Mutter.

      „Du kannst ihn nicht vor allem beschützen! Und er muss selbständig werden, Gefahren allein erkennen! Das kannst du ihm nicht abnehmen!“

      „Und wenn er auch überfahren wird, Konrad? Was dann? Dann haben wir beide Kinder verloren!“ Meine Mutter begann zu weinen. „Ich will nicht, dass er da draußen allein ist. Außerdem muss ich gleich erst einmal nachsehen, ob jemand in unserem Garten ist!“

      „Wie bitte?“ Mein Vater runzelte verständnislos die Stirn. „Wer soll denn in unserem Garten sein?“

      „Weiß nicht“, antwortete meine Mutter ausweichend. „Irgendein ... Spinner eben.“

      „Irgendein Spinner, soso. Das muss dann aber ein fliegender Spinner sein, oder wie soll er über den Zaun kommen?“

      „Es gibt Leitern“, gab meine Mutter in würdevollem Tonfall zurück.

      „Leitern. Aha. Marianne, wir haben in unserem Garten unnötigerweise mehrere Überwachungskameras, falls ich dich daran erinnern darf. Weil du es damals unbedingt so wolltest. Niemand schleicht ungesehen in unserem Garten herum.“

      „Doch“, widersprach meine Mutter. „Gestern war da jemand. Deshalb habe ich auch die Vorhänge zugezogen.“

      „Wusste ich doch, dass irgendwas faul war. Ich sehe mir heute Abend die Bilder der Überwachungskameras an. Dann werden wir Mister X ja durchs Bild huschen sehen.“ Sarkastisch fügte mein Vater hinzu: „Vielleicht hat er ja Flügel.“

      „Ich glaube, mein Schulbus ist gleich weg“, traute ich mich, mich vorsichtig in das Gespräch einzumischen.

      „Da siehst du mal wieder, wie viel kostbare Zeit uns deine hysterischen Anfälle kosten, Marianne. Herzlichen Glückwunsch.“ Lächelnd sah mich mein Vater an. „Weißt du, Constantin, ich habe mich schon länger gefragt, weshalb du bei dem schönen Wetter nicht mit dem Fahrrad fährst. Die Schule liegt doch nur einen Katzensprung entfernt.“

      „Nein, Konrad, bitte nicht“, wimmerte meine Mutter.

      „Doch. Komm, Constantin, nimm dein Fahrrad, und los geht‛s. Du hast lange genug darauf verzichtet. Und geholfen hat es anscheinend überhaupt nichts.“

      „Nein ... nein.“ Meine Mutter hielt sich weinend beide Hände vor das Gesicht und schüttelte langsam ihren Kopf. „Bitte tu mir das nicht an, Konrad.“

      Meine Großmutter erschien mit besorgtem Gesicht in der Küchentür.

      „Du