Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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sah ich zu meiner Mutter.

      „Du sollst dich beeilen, habe ich gesagt“, wiederholte mein Vater im Kommandoton. „Wird‛s bald.“

      „Tschüss, Mama.“ Ich ging auf meine Mutter zu, um sie zu umarmen, doch sie wich zurück, drängte sich an meiner Großmutter vorbei und verschwand in der Küche.

      „Was bist du nur für ein Mensch, Konrad“, sagte meine Großmutter leise, bevor sie zu meiner Mutter eilte, um sie zu trösten.

      Glücklicherweise schaffte ich es, rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde, in der Guido unserer Klasse von unserer Klassenlehrerin als neuer Mitschüler vorgestellt wurde, in der Schule zu sein. Die Tische in unserem Klassenzimmer waren in einer U-Form angeordnet. Ich forderte einige Klassenkameraden auf, jeweils einen Stuhl zur Seite zu rücken, damit Guido neben mir sitzen könne. Seltsamerweise kamen alle meiner Bitte ohne Widerworte sofort nach. Das lag sicher daran, dass sie wussten, was Melissa zugestoßen war, und sie deshalb besonders nett zu mir sein wollten. Alle wussten, dass Melissa tot war, dass ich in den Sommerferien meine kleine Schwester verloren hatte.

      „Das ist aber sehr nett von dir, Constantin“, lobte mich meine Klassenlehrerin, Frau Jäger, die noch recht jung war und sehr krauses blondes Haar hatte, das ihr bis zu den Schultern reichte.

      „Guido und ich kennen uns schon. Wir sind Freunde“, erwiderte ich nur.

      Meine Klassenlehrerin nickte, und ihre Augen glänzten dabei seltsam feucht hinter den Gläsern ihrer Brille. Anschließend sollten alle der Reihe nach von ihren Erlebnissen während der Sommerferien erzählen. Guido berichtete von den Tagen, die er mit seinem Vater verbracht hatte, und sagte anschließend, da Frau Jäger aufgrund seines Namens vermutete, dass er italienische Wurzeln habe, zu ihrem Entzücken noch ein paar melodische Worte in der Muttersprache seiner Mutter. Ich persönlich hätte es viel interessanter gefunden, wenn ich etwas über Angelina selbst erfahren hätte.

      Als ich nach Guido an der Reihe gewesen wäre zu berichten, was ich Schönes während der Sommerferien gemacht hatte, überging Frau Jäger mich einfach und rief stattdessen den Jungen auf, der zu meiner anderen Seite saß. Sicher wollte sie es mir ersparen, den anderen zu schildern, wie es war, seine Schwester durch einen leichtsinnigen Raser, der auch noch Fahrerflucht begangen hatte, zu verlieren.

      Den ganzen Vormittag wich ich nicht von Guidos Seite, der anscheinend froh war, nicht auf sich allein gestellt zu sein, und nichts dagegen hatte, dass ich ihm alles zeigte und in den Pausen mit ihm über den Schulhof rannte.

      „Wollen wir uns nachher zum Spielen treffen?“, fragte er mich, als wir nach dem Unterricht auf die Fahrradständer zugingen. Da erst fiel mir wieder die Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern vom Morgen ein. Glücklicherweise hatten mich der Schulalltag und Guido so abgelenkt, dass ich gar nicht mehr daran gedacht hatte.

      „Ich weiß nicht, ob ich darf“, gab ich mich zögerlich, obwohl ich liebend gern zugesagt hätte, schon allein wegen der Chance, so Angelina wiederzubegegnen.

      „Ist es ... wegen dem, was mit deiner Schwester passiert ist?“, wollte Guido vorsichtig wissen. Natürlich wusste auch er davon. Alle wussten davon. Doch niemand hatte mir gegenüber heute in der Schule auch nur ein Wort darüber verloren.

      „Ja“, antwortete ich nur. Es fiel mir schwer, die für mich nicht nachvollziehbaren Ängste meiner Mutter in Worte zu fassen.

      „Ich bin jedenfalls nachher mit meinen Murmeln vor dem Friseursalon“, ließ mich Guido wissen.

      „Und wo isst du dein Mittagessen?“, erkundigte ich mich neugierig.

      „Meine Mutter kocht was während ihrer Mittagspause“, erklärte Guido. „Obwohl sie nicht gut kochen kann.“

      „Nicht?“ Das erstaunte mich. Ich hatte geglaubt, alle Italiener würden ständig Pizza backen und Pasta mit Tomatensauce kochen wie in dem italienischen Restaurant, das ich mit meinen Eltern und Melissa manchmal besucht hatte.

      „Nee.“ Guido schüttelte den Kopf. „Was meine Mutter kocht, schmeckt überhaupt nicht, und sonst kriegt sie im Haushalt auch nicht viel hin.“

      „Meine Mutter auch nicht“, versuchte ich, Guido zu trösten, obwohl mich seine harten Worte über Angelina schon etwas trafen. „Deshalb erledigen bei uns fast alles Frau Hubertus und Frau Bäumler. Das sind unsere Haushälterinnen, wobei ich Frau Hubertus lieber mag. Frau Bäumler hasst Kinder, glaube ich.“

      „Bei uns zu Hause muss ich alles machen“, vertraute mir Guido an, ohne auf meinen Bericht einzugehen.

      „Wie: Du musst alles machen? Was meinst du damit?“

      „Na, waschen, putzen und so weiter. Seit Kurzem auch noch bügeln. Meine Mutter kümmert sich um gar nichts.“

      „Was?“ Ich konnte es nicht fassen. Meine Mutter bestand ab und zu darauf, dass ich mein Zimmer aufräumte, damit ich Ordnung lernte. Das war aber auch alles, was ich an Arbeiten erledigen musste, wenn man das überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nicht bei allen Kindern so war.

      „Ja. Wirklich. Meine Mutter hat nur ihren Salon und ihre Freunde im Kopf.“

      „Was denn für Freunde?“, erkundigte ich mich verdutzt. „Sabrina und Emily?“

      „Nein, nicht Sabrina und Emily. Du kapierst aber auch gar nichts“, warf mir Guido mit leicht verärgerter Stimme vor. „Männer. Meine Mutter trifft sich ständig mit irgendwelchen Männern.“

      Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Schon, dass es diesen Harry mit Ferienhaus am Meer und eigenem Boot gab, war für mich schwer zu ertragen. Und das sollte noch nicht einmal der Einzige sein? Das durfte nicht wahr sein. „Das glaube ich nicht“, war alles, was mir als Erwiderung einfiel.

      „Es stimmt aber“, bekräftigte Guido unbeeindruckt. „Meine Mutter mag Männer mit viel Geld. Weil sie selbst nicht viel hat und die Männer ihr viel schenken. Darum hat uns auch mein Vater verlassen. Wegen der anderen Männer. Er konnte es nicht mehr ertragen.“

      „Echt?“

      „Kannst du mir ruhig glauben. Und ich muss den Haushalt machen, während sie unterwegs ist. Und wehe, es ist nicht alles tipptopp, wenn sie zurück ist. Dann gibt‛s richtig Ärger.“

      „Aber heute Nachmittag ... hättest du Zeit zum Spielen?“, wollte ich wissen.

      „Ja, wenn schönes Wetter ist, darf ich raus. Dafür muss ich dann heute Abend putzen. Sonst gibt‛s ein Donnerwetter.“

      „Okay, ich werde sehen, dass ich nachher zum Salon kommen kann“, lenkte ich hastig ein, um das mir äußerst unangenehme Thema zu beenden. „Kann ich aber nicht versprechen.“

      „Ist schon in Ordnung.“ Guido lächelte mich an und zeigte dabei seine Zahnspange. „Ich finde es toll, dass du überhaupt was mit mir zu tun haben willst. An meiner alten Schule war ich ganz allein.“

      Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach, was mir Guido soeben anvertraut hatte. Ich konnte das nicht glauben. Das durfte einfach nicht wahr sein. Angelina war so eine nette, freundliche Frau. Eine bezaubernde Frau, um genau zu sein. Die bezauberndste Frau, der ich je begegnet war. Jemand wie sie behandelte ihr Kind doch nicht wie einen Sklaven. So etwas hatte ich von überhaupt noch niemandem gehört. Guido musste sich das ausgedacht oder im Fernsehen gesehen haben. Mein Vater hatte mich schon oft darauf aufmerksam gemacht, dass im Fernsehen viel Blödsinn gezeigt werde, was die meisten auch noch glaubten, weil sie zu dumm seien zu erkennen, dass alles gelogen sei. Er hatte mir geraten, höchstens zehn Prozent von dem zu glauben, was ich im Fernsehen sah. Wobei ich nicht wusste, was zehn Prozent waren, was ich meinem Vater gegenüber aber nicht zugegeben hatte. Vielleicht nahm Guido es auch einfach mit der Wahrheit nicht so genau wie einige andere meiner Freunde, die zum Beispiel unglaubliche Geschichten über ihre Väter erzählten, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass ihre Väter längst nicht so viel Geld verdienten wie mein Vater.

      An unserem Grundstück angekommen, klingelte ich an