Janina Hoffmann

Sie war meine Königin


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während ich Frau Hubertus in den geräumigen Flur folgte: „Ist Melissa denn noch nicht zu Hause?“

      „Nein. Ich dachte, ihr wärt zusammen unterwegs. So sagte es mir jedenfalls deine Mutter. Na ja, vielleicht habe ich da auch etwas falsch verstanden.“

      „Nein“, widersprach ich hastig. „Melissa und ich waren zusammen unterwegs. Aber sie wollte lieber bei ihren Freundinnen am See bleiben, und ich ... hatte keine Lust mehr zum Baden.“

      „Ach, dann wird Melissa wohl bei einer ihrer Freundinnen sein“, meinte Frau Hubertus unbekümmert. „Dann hast du das Essen gleich für dich allein.“

      Während ich kurz darauf allein am Esstisch sitzend auf dem Hackkloß herumkaute, den Frau Hubertus zusammen mit Kartoffelpüree und Erbsen serviert hatte, dachte ich darüber nach, dass das gar nicht Melissas Art war, einfach so mit zu einer Freundin zu fahren, ohne zu Hause Bescheid zu sagen. Sie wusste doch, wie schnell sich unsere Mutter ängstigte, und dass alleinige Unternehmungen nach so einer Aktion verboten werden könnten, konnte sie sich wohl auch denken. Ich ließ meinen noch halb vollen Teller zurück und ging in die Küche, in der Frau Hubertus noch mit Putzen und Aufräumen beschäftigt war. Wahrscheinlich hatten meine Eltern sie gebeten, länger zu bleiben, damit Melissa und ich nicht allein wären. „Frau Hubertus“, sprach ich die Frau an, die so in das Scheuern der Arbeitsplatte vertieft war, dass sie mein Eintreten gar nicht bemerkt hatte.

      „Constantin. Was ist los? Willst du noch einen Hackkloß haben? Oder lieber noch etwas von dem Kartoffelpüree?“

      Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Frau Hubertus. Aber wir müssen herausfinden, wo Melissa steckt.“

      In einer Kommode im Flur lag ein Heft, in dem meine Mutter unter anderem die Telefonnummern von Melissas und meinen Klassenkameraden notiert hatte. Ich überredete Frau Hubertus, bei Melissas Freundinnen anzurufen und sich zu erkundigen, ob sich meine Schwester dort aufhielt. Die Haushälterin, die nun einen leicht beunruhigten Eindruck machte, kam meiner Bitte nach und wählte vom Telefon im Flur aus nacheinander fünf Nummern, um immer wieder dasselbe in Erfahrung zu bringen: Melissa wurde zuletzt am Badesee gesehen.

      „Jetzt mache ich mir langsam Sorgen“, murmelte Frau Hubertus, als sie den Hörer nach dem fünften Telefonat auf die Gabel legte. „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich deine Eltern verständige.“

      Meine Eltern pflegten für die Haushälterin oder die Babysitterin, die Melissa und mich manchmal abends betreute, immer eine Telefonnummer zu hinterlassen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Frau Hubertus wählte die Nummer des Restaurants, das meine Eltern an diesem Abend besuchen wollten, und ließ meinen Vater ans Telefon kommen. Sie fasste für ihn die Situation zusammen. Dann legte sie auf. „Deine Eltern kommen sofort nach Hause“, teilte sie mir mit.

      Als ich einen Wagen in der Auffahrt zur Garage hörte, zog sich mein Magen unangenehm zusammen. Das Donnerwetter, das nun folgen würde, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Kurz darauf betraten mein Vater und meine Mutter den Flur. Meine Mutter trug ein grünes kurzes Kleid, das ihre schlanke Figur sehr gut zur Geltung brachte, und mein Vater eine helle Stoffhose, dazu ein Jackett in derselben Farbe über einem hellblauen Oberhemd. „Was ist mit Melissa?“, fragte er mich ruhig, während meine Mutter den Eindruck machte, als werde sie gleich in Ohnmacht fallen, und sich kraftlos auf einen Stuhl im Flur fallen ließ.

      „Ich weiß es nicht“, gab ich zu. „Sie wollte nicht mit mir fahren.“ Ich verschwieg, dass es schon Stunden zurücklag, dass sie mir das mitgeteilt hatte. „Ich konnte sie nicht überreden mitzukommen und dachte, sie würde gleich mit ihren Freundinnen fahren. Ich habe auf dem Rückweg noch kurz angehalten und mich mit Guido, dem Sohn der Friseurin, unterhalten.“

      „Und bei ihren Freundinnen ist sie nicht?“

      „Nein, Herr Hart“, antwortete nun Frau Hubertus. „Dort habe ich schon angerufen.“

      „Sagen Sie mir genau, wen Sie angerufen haben“, verlangte mein Vater und ließ es sich von Frau Hubertus in dem Heft, in dem diverse Telefonnummern notiert waren, zeigen.

      „Ich werde noch einige weitere anrufen“, entschied mein Vater. Dann sah er zu meiner Mutter. „Marianne, vielleicht ist es das Beste, wenn du dich etwas hinlegst.“

      Meine Mutter nickte. Sie wollte sich vom Stuhl erheben, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Mein Vater beachtete sie nicht weiter, während sie auf Frau Hubertus gestützt den Flur verließ.

      Mein Vater führte noch einige Telefonate, durch die er den Aufenthaltsort meiner Schwester ebenfalls nicht in Erfahrung brachte. Mit jedem Gespräch wurde mir mulmiger zumute. Dann wandte er sich an mich. „Wie spät war es, als du Melissa zum letzten Mal gesehen hast?“

      „Kurz bevor ich nach Hause gefahren bin“, log ich aus Angst, damit bestraft zu werden, nicht mehr allein mit dem Fahrrad unterwegs sein zu dürfen.

      „Also etwa um halb sechs?“, wollte mein Vater wissen.

      Ich nickte.

      Er nickte verstehend. Die Nummer, die er dann wählte, war die der Polizei.

      Die nächsten Stunden waren die schlimmsten meines Lebens. Frau Hubertus wurde gebeten, am Telefon zu wachen, während sich mein Vater erneut mit seinem Wagen auf den Weg machte, um die Gegend nach Melissa abzusuchen. Meine Mutter hatte auf Drängen meines Vaters ein Beruhigungsmittel genommen und war zu Bett gegangen.

      Voller Unruhe saß ich in meinem Zimmer, ohne etwas Gescheites mit mir anfangen zu können. Wie gern würde ich für Melissa jetzt den verliebten Aristokraten spielen, wenn sie nur wohlbehalten zurückkäme. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ging hinaus in den Flur und öffnete leise die Tür von Melissas Zimmer, das auf ihren Wunsch hin vorrangig in Rosa und Weiß gehalten war. Wie oft hatte ich sie wegen der Farbwahl geneckt und es ein Babyzimmer genannt. Was würde ich dafür geben, wenn meine Schwester jetzt zur Tür hereinkäme und mich wütend beschimpfte, weil ich sie am See allein zurückgelassen hatte. Ich setzte mich auf den rosafarbenen Stuhl, der meiner Schwester als Thron diente, wenn sie die Prinzessin spielte, um deren Gunst ich als Aristokrat warb. Lange saß ich ganz still. Das Einzige, was ich wahrnahm, war das leise Ticken der rosafarbenen Kinderuhr an der Wand und das ängstliche Klopfen meines Herzens.

      Ich saß noch auf dem kleinen rosa Stuhl in Melissas Zimmer, als ich Schritte die Treppe nach oben kommen hörte. Inzwischen war es draußen stockdunkel, doch hatte ich kein Licht eingeschaltet. Ich erhob mich und ging hinaus in den Flur, wo ich meinem Vater begegnete. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass seine Suche nach Melissa erfolglos geblieben war. Ich musste einen sehr verstörten Eindruck gemacht haben, denn mein Vater kam schweigend auf mich zu und drückte mich an sich, was er normalerweise nie tat. „Die Polizei wird Melissa schon finden“, sagte er schließlich leise. „Geh jetzt schlafen. Wir sollten alle versuchen, uns etwas auszuruhen.“

      Die Stimmung während des üppigen Frühstücks am nächsten Morgen, das wir im Esszimmer statt in der Küche zu uns nahmen und im Gegensatz zu sonst nicht von meiner Mutter, sondern auf Wunsch meines Vaters von Frau Bäumler, unserer zweiten Haushälterin, zubereitet worden war, die dafür extra zu uns gekommen war, denn normalerweise arbeitete sonntags weder sie noch Frau Hubertus, war genauso gedrückt wie am Vorabend, die quälende Ungewissheit fast unerträglich. Noch immer gab es kein Lebenszeichen von meiner Schwester, keinen Hinweis, wo sie sich aufhielt. Das hatte die Polizei meinem Vater auf seine telefonische Nachfrage hin mitgeteilt, bevor er sich zu mir setzte. Meine Mutter war nur kurz aufgestanden, um sich einen Tee zuzubereiten, und hatte sich anschließend wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen. So saß ich mit meinem Vater allein am reichlich gedeckten Esstisch. Frau Bäumler hatte es wirklich gut mit uns gemeint und anscheinend alles aufgetischt, was sie im Kühlschrank vorgefunden hatte. Mein Vater hatte die Sonntagsausgabe einer Zeitung neben sein Gedeck gelegt, doch las er nicht darin. Stattdessen starrte er grübelnd ins Leere und rührte gedankenversunken in seinem Kaffee. Er reagierte nicht einmal, als ich ihn fragte, ob ich nach dem Frühstück draußen ein wenig mit meinem Fahrrad umherfahren dürfe. Ich hatte nämlich den Entschluss gefasst, meine Schwester zu suchen und auch zu finden, wenn es die Polizei schon nicht konnte. Als