Isabella Kniest

Lavanda


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verkneife ich mir meinen Kaffee mit Schlagsahne und leere keine ganze Chipspackung, sondern belasse es bei meiner Hauptspeise.

      Du wirst schon sehen, spätestens mit dreißig wirst auch du dick!

      Dies stellte die wunderbare Äußerung einer neidigen alternden mit ihrem Leben nicht zurechtkommenden Drecksfotze dar – geradewegs an eine achtzehnjährige Lavanda gerichtet.

      Einige Jahre hatte Lavanda sich deshalb gesorgt und vermutet, dann erst recht von Männern und der Gesellschaft im Allgemeinen ignoriert oder belächelt zu werden.

      Tja, meine Gute, dachte sie bissig. Nun bin ich jenseits der dreißig und noch immer schlank und wohlproportioniert wie zu meinem zwanzigsten Geburtstag.

      Und pass erst einmal auf, hallte es ihr besserwisserisch durch den Verstand, wenn du dein erstes Kind bekommen hast.

      Lavanda lächelte grimmig.

      Wenn sich durchvögelnde Frauen unbedingt quengelnde, ressourcenfressende, egomanische Monster in diese ohnehin überbevölkerte Welt setzen wollten, durften sie sich über Hängebrüste, wabbelige Hintern und Bäuche, welche an aufgeschwemmte Holzpilze erinnerten, nicht beschweren. Besonders dann nicht, wenn Mütter in ihrer Schwangerschaft eifrig »für zwei« aßen. Nicht jeder besaß gute Veranlagung. Aber exakt diese half beim Abnehmen oder Gewichthalten enorm.

      Wem beispielsweise die Veranlagung für ein Sixpack fehlte, konnte täglich hundert Kilometer rennen und Gewichte stemmen – Muskeln würden sich nicht entwickeln. Nicht zuletzt deshalb fand Lavanda es fürchterlich, was Werbung durch jahrzehntelange Suggestion angerichtet hatte: Frauen mussten schlank, mittelgroß und mit einem üppigen Vorbau glänzen, gänzlich enthaart und logischerweise schneeweiße Zähne besitzen. Natürlich aussehende Kunstnägel waren genauso wenig verkehrt wie eine ganzjährige gesunde Bräune und blondes, volles Haar. Und letztendlich durften Markenartikel niemals fehlen: Fendi-Sonnenbrillen, Dolce&Gabbana Handtaschen, Kleider von Versace oder Chanel – und teure Designerdüfte gleichnamiger Marken.

      Das daraus irgendwann Mobbing gegen ›hässlichere‹ Menschen resultierte, war lediglich eine Frage der Zeit.

      Jetzt, unzählige Selbstmorde später, wurde auf Political Correctness gesetzt, und alles, was abstoßend und dezidiert andersartig war, wurde in die Modebranche gezwängt. Ob Frauen mit Pigmentstörungen, Verkrüppelungen, immensem Übergewicht oder anderen Besonderheiten der Natur – alles war gern gesehen, und Toleranz wurde erwartet.

      Was hingegen niemand bemerkte: Der normale Durchschnittsmensch wurde weiterhin in die Ecke gedrängt.

      Normal war langweilig. Normal war öde. Normal war unbedeutend.

      Eigenartigerweise wurde aber ein jeder sich etwas auffälliger kleidende Mensch schief angeblickt …

      Die verschrobenen Ansichten der modernen Gesellschaft würde Lavanda niemals begreifen. Umso dankbarer war sie, die Buchhaltung und Fakturierung abarbeiten zu dürfen, erforderten diese Tätigkeiten nämlich größere Konzentration, womit ihre Gedanken zumindest für die nächsten drei Stunden etwas Ruhe gaben.

      Etwas – da es ihr partout nicht gelingen wollte, diesen verdorbenen Geschmack der Nutzlosigkeit abzuschütteln oder überhaupt einen rechten Sinn in ihrem Leben zu entdecken.

      Es wurde ihr zu viel.

      Zu viel Hektik, zu viel Lärm, zu viel Verantwortung, zu viel Verpflichtung, zu viel Arbeit, zu viel Einsamkeit.

      Wozu lebte sie?

      Um zu arbeiten? Zu lernen? Schmerzen zu erdulden? Missverstanden und eiskalt ignoriert zu werden, sich blöde Sprüche anzuhören –

      Ein das Büro betretender Kunde schob ihren inneren Disput zur Seite.

      Es handelte sich um einen ausgesprochen attraktiven Kerl ihres Alter.

      Ein wenig abgehetzt und ruhelos blickte er sich um.

      Anscheinend hatte er sie noch nicht bemerkt.

      Kein Wunder, bei den vielen verstaubten Geräten um sie herum und den sich hochtürmenden Papierstapeln …

      Heute zumindest war ihr dieser chaotische und zumeist nervige Umstand zu etwas nütze. Dadurch war es ihr nämlich möglich, diesen Feschak etwas länger und genauer zu betrachten.

      Was ihr zuallererst auffiel, war seine himmlische Frisur.

      Zugegeben, ehe sie einem Kerl auf den Hintern blickte – was sie ohnehin nur äußerst selten tat –, waren ihr Gesicht und Haarpracht wichtiger. Was half ein knackiger Po, wenn die Vorderseite nicht ansprach?

      Nun, in diesem Fall brachte des Mannes welliger bis gelockter, brünetter Undercut ihr Herz ungewollt auf Trab – wenn man den Schnitt derart bezeichnen durfte, fiel das Deckhaar doch relativ lang und füllig aus und die üblicherweise kürzer geschnittenen Stellen waren kaum zu erkennen.

      Lag es an den angedeuteten Locken? Nach genauerem Betrachten schien der Stufenschnitt eigentlich gar nicht vorhanden zu sein. Das seitliche weniger dicht ausfallende Haar erweckte einen solchen jugendlich-frischen Eindruck des Friseurhandwerks. Stattdessen hatte der Kunde die für einen Mann mittellange Haarpracht offenbar bloß mit den Händen und minimalem Einsatz von Gel locker nach hinten gestreift.

      Das Ergebnis: Eine luftige, schnell zu bewerkstelligende Frisur, welche diesem Kerl eine nahezu verboten sexy-verruchte Aura verpasste und Frauen höchstwahrscheinlich anzog wie … Fliegen vergammeltes Hühnerfleisch.

      Sie fragte sich, wie sein Haar in der Sonne anmuten mochte. Wahrscheinlich schimmerte es bronzen- und kupferfarben – ähnlich wie das ihre. Ihr Deckhaar zeigte sich im strahlenden Licht golden bis Dunkelblond, die unteren Schichten warteten mit einem Kupferstich und Bronzentönen auf. Fatalerweise hatte sie im Laufe der letzten zehn Jahre beinahe zwei Drittel ihre Fülle einbüßen müssen.

      Er hingegen zeigte exakt das Haarvolumen, welches sie einst besessen hatte: nicht zu füllig – wie ein dunkler Typ –, dafür reichlich feines Haar, welches sich fröhlich-verspielt manchmal mehr und manchmal weniger lockte.

      Sie selbst besaß ebenfalls leicht lockiges Haar. Einige Jahre lang waren diese sogar sehr ausgeprägt, an anderen wiederum gänzlich verschwunden gewesen.

      Einen ähnlichen Umstand vermutete sie in seinem Fall. Und erheblich mehr fragte sie sich, weshalb sie sich derart viele Gedanken um die Mähne eines wildfremden Mannes machte …

      Offenbar haderte sie mit ihrem sich seit fünf Jahren schleichend ergrauenden und schütter werdenden Kopfschmuck.

      Es waren vereinzelte schneeweiße Haare, welche sich da vermehrten. Allerdings wollte Lavanda diese nicht färben. Grundsätzlich wäre es ihr sogar recht zu ergrauen. Schneeweißes, langes Haar hatte seinen Reiz. In ihrem Fall jedoch hing dieser unausweichliche Alterungsprozess mit einer anderen, schmerzhaften Tatsache zusammen: zu ergrauen – und nach wie vor ungeküsst zu sein.

      Des Öfteren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich einen Escortservice zu bestellen – einen halbwegs ansehnlichen Typ mit Erfahrung und Einfühlungsvermögen, welcher mit ihr schlief und sie danach noch etwas in den Armen hielt … ihr für wenige Stunden ihren Freund vorspielte.

      Sogar Mehrkosten würde sie dafür in Kauf nehmen.

      Dann, wenn der Mann seinen Job getan hätte, würde sie sich in die Badewanne legen und sich die Pulsadern aufschneiden.

      Sie verdrängte die Traurigkeit, verdrängte die Übelkeit, verdrängte die Tränen und konzentrierte sich auf das Jetzt.

      »Guten Tag.«

      Des Traumhaar-Verschnitt-Kerls Haupt schnellte in ihre Richtung – und ein heißkalter, beinahe nicht wahrnehmbarer Schauer huschte über Lavandas Haut.

      Seine dunkelblauen Augen – waren sie dies eigentlich? Mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen – muteten an, ihr bis ins Herz und in ihre schmerzende Seele zu blicken.

      Einbildung, dachte sie über sich selbst erbost, alsbald sie bemerkte, wie dieser Beau ihr sympathisch wurde.

      Das