Nikolai Ostrowski

Wie der Stahl gehärtet wurde


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außer Atem.

      »Lassen Sie mich los, es tut ja weh«, wehrte sich Tonja. Sie standen beide keuchend da, mit pochendem Herzen, und die vom schnellen Lauf erschöpfte Tonja schmiegte sich leicht an Pawel. Wie nahe war sie ihm jetzt! Das währte nur einen Augenblick, prägte sich ihm aber tief ins Gedächtnis ein.

      »Mich hat noch niemand einholen können«, sagte sie und befreite sich aus seinen Händen.

      Dann trennten sie sich sogleich. Pawel schwenkte zum Abschied seine Mütze und lief in die Stadt.

      Als er die Tür zum Kesselraum öffnete, war der Heizer Danilo bereits mit der Feuerung beschäftigt. Ärgerlich drehte er sich um.

      »Später konntest du wohl nicht kommen? Soll ich etwa für dich heizen, was?«

      Aber Pawel klopfte dem Heizer in bester Laune auf die Schulter und sagte besänftigend: »Gleich wird der Ofen brennen, Alterchen.« Daraufhin machte er sich an den Holzstapeln zu schaffen. Um Mitternacht, als Danilo laut schnarchend auf den Holzscheiten lag, holte Pawel, nachdem er den ganzen Motor aufs gründlichste geölt und dann die Hände so gut wie möglich mit Werg gesäubert hatte, die zweiundsechzigste Fortsetzung von »Guiseppe Garibaldi« aus der Kiste hervor und vertiefte sich in den spannenden Roman über die Abenteuer Garibaldis, des legendären Führers der neapolitanischen »Rothemden«.

      »Mit ihren wunderschönen blauen Augen blickte sie den Herzog an …«

      Sie hatte auch blaue Augen, erinnerte sich Pawel. Und ist auch etwas ganz Besonderes. Gar nicht wie sonst die Kinder reicher Leute, dachte er. Und rennen kann sie wie der Blitz.

      Ganz in seine Gedanken an das Erlebnis des vergangenen Tages vertieft, hatte Pawel das verstärkte Sausen des Motors überhört, der vor Überbelastung zitterte. Das riesige Schwungrad drehte sich mit rasender Geschwindigkeit, und die betonierte Plattform, auf der der Motor stand, bebte.

      Als Pawel einen Blick auf das Manometer warf, stand der Zeiger bereits mehrere Teilstriche über der roten Linie.

      »Verdammt noch mal!« rief Pawel, sprang von der Kiste auf, stürzte zum Dampfhebel und drehte ihn zweimal herum. Der aus der Abflussröhre strömende Dampf zischte hinter der Wand des Heizraumes auf. Den Hebel nach unten drückend, schob Pawel den Schwungriemen auf das Rad, das die Pumpe in Gang setzte.

      Pawel blickte auf Danilo, doch der schlief sorglos, mit weitgeöffnetem Mund, und stieß schaurige Töne aus.

      Nach einer halben Minute war der Zeiger des Manometers wieder auf seinem alten Stand.

      Als sich Tonja von Pawel getrennt hatte, ging sie nach Hause. Sie sann über die neuerliche Begegnung mit diesem schwarzäugigen Jungen nach, und ohne sich dessen bewusst zu werden, freute sie sich darüber.

      Wie lebhaft und hartnäckig er ist! Und er ist gar nicht so ein Grobian, wie mir erst schien. Auf jeden Fall ist er allen diesen affigen Gymnasiasten gar nicht ähnlich …

      Er war aus anderem Holz geschnitzt, stammte aus einem Milieu, mit dem Tonja bis jetzt nie in Berührung gekommen war.

      Man kann ihn zähmen, dachte sie, und das wird eine interessante Freundschaft werden.

      Als sich Tonja dem Elternhaus näherte, sah sie Lisa Sucharko, Nelly und Viktor Leszczynski im Garten sitzen. Viktor las. Sicherlich warteten die drei auf sie.

      Tonja begrüßte alle und setzte sich dann auf die Bank. Während der Unterhaltung rückte Viktor Leszczynski näher zu Tonja heran und fragte leise:

      »Haben Sie den Roman gelesen?«

      »Ach ja, den Roman!« besann sich Tonja.

      »Und ich hab ihn doch …« Sie hätte beinah herausgeplappert, dass sie das Buch vorhin am Seeufer hatte liegenlassen.

      »Nun, wie hat Ihnen das Buch gefallen?« Viktor sah sie aufmerksam an. Tonja dachte nach, hob, indem sie mit der Spitze ihres Halbschuhs irgendeine verschnörkelte Figur in den Sand zeichnete, langsam den Kopf und blickte ihn an.

      »Nein, ich habe einen anderen Roman angefangen, einen interessanteren als den, den Sie mir gebracht haben.«

      »Ach so …«, meinte Viktor gedehnt.

      »Und wer ist der Verfasser?« Tonja blickte ihn mit spöttisch funkelnden Augen an.

      »Niemand …«

      »Tonja, bitte die Gäste herein, der Tee wartet auf euch«, rief Tonjas Mutter von der Veranda aus.

      Tonja fasste die beiden Mädchen unter und ging mit ihnen ins Haus. Und Viktor, der hinterdreinschritt, zerbrach sich den Kopf über Tonjas Worte, ohne deren Sinn erfassen zu können.

      Das neue, noch unbewusste Gefühl, das sich unmerklich in das Leben des jungen Heizers eingeschlichen hatte, erregte und beunruhigte den verwegenen und wilden Burschen.

      Tonja war die Tochter des Oberförsters, und ein Oberförster war für ihn das gleiche wie der Rechtsanwalt Leszczynski.

      Pawel, der in Not und Entbehrung aufgewachsen war, hatte für alle, die nach seinem Begriff reich waren, nichts als Feindseligkeit übrig. Auch Tonja gegenüber war Pawel vorsichtig und misstrauisch. Bei ihr war für ihn nicht alles einfach und verständlich, wie zum Beispiel bei Galotschka, der Tochter des Steinmetzen; Tonja war keine aus seinem Kreis. Mit großer Vorsicht nahm er alles auf, was von Tonja kam, stets bereit, den geringsten Spott und Hochmut dieses schönen und gebildeten Mädchens, ihm, dem Heizer, gegenüber aufs schärfste zu bekämpfen.

      Eine ganze Woche lang hatte Pawel das Mädchen nicht gesehen; heute wollte er zum See gehen. In der Hoffnung, sie zu treffen, nahm er absichtlich den Weg an ihrem Haus vorüber. Am Zaun des Gartens entlangschlendernd, erblickte er an seinem äußersten Ende die wohlbekannte Matrosenbluse. Er bückte sich nach einem Tannenzapfen, der am Boden lag, und zielte damit nach der weißen Bluse.

      Tonja wandte sich rasch um. Als sie Pawel erblickte, lief sie schnell zum Zaun und gab dem Jungen fröhlich lachend die Hand.

      »Endlich lassen Sie sich sehen«, sagte sie erfreut. »Wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt? Ich war am See, hatte dort mein Buch vergessen und dachte, dass ich Sie dort treffen würde. Kommen Sie doch herein in den Garten.«

      Pawel schüttelte den Kopf.

      »Nein, das geht nicht.«

      »Warum denn nicht?« Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

      »Ihr Vater wird sicher schimpfen. Sie können dafür noch etwas abbekommen. ›Wozu hast du diesen Vagabunden hergeschleppt‹, wird er sagen.«

      »Sie reden aber Unsinn zusammen, Pawel.« Tonja wurde böse. »Kommen Sie sofort herein. Mein Vater sagt niemals so etwas, Sie werden sich selbst davon überzeugen. Kommen Sie!«

      Sie öffnete eilig die Gartentür. Pawel folgte ihr etwas unsicher.

      »Lesen Sie gern?« fragte sie, als sie sich an den runden Gartentisch gesetzt hatten.

      »Sehr gern«, erwiderte Pawel lebhaft.

      »Welches ist Ihr Lieblingsbuch?«

      Pawel dachte einen Augenblick nach und antwortete: »Guiseppa Garibaldi.«

      »Guiseppe Garibaldi«, korrigierte Tonja.

      »Dies Buch lieben Sie also?«

      »Ja, sehr. Ich habe schon achtundsechzig Fortsetzungen davon gelesen. Jeden Lohntag kauf ich mir fünf Stück. Das war ein fabelhafter Mensch, dieser Garibaldi!« rief Pawel begeistert aus.

      »Was für ein Held! Der war richtig! Wie musste er sich mit seinen Feinden herumschlagen und blieb doch immer Sieger! Wie viele Länder hat er durchzogen! Ach, wenn der heute lebte, ich würde mich ihm sofort anschließen. Und all seine Leute waren einfache Arbeiter, und immer hat er für die Armen gekämpft.«

      »Wollen Sie, dass ich Ihnen unsere Bibliothek zeige?« fragte Tonja und nahm ihn bei der Hand.