Caroline Sehberger

LEBENSAUTOBAHN


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war sie da, die Sehnsucht nach Thomas, der Liebe meines Lebens. Die Erinnerungen ergriffen das Gemüt, die Seele und das Herz. Der Kloß im Hals wuchs und ich weinte kurz, völlig in Gedanken versunken an ihn. Nach einer Weile hörte ich, dass jemand mit mir sprach. Es war Helga, die mich aus meiner Lethargie holte. Ich wischte mir die Tränen fort und war wieder bei ihr im Hier und Jetzt. „Los, lass uns wie die Liebenden den Blick von der obersten Plattform über Paris genießen“, sagte Helga und zog mich gen Eingang. Dort angekommen, wurde aus der kleinen Schlange der Ferne eine riesige Menschenmenge, die sich hier drängelte, nur um den heißbegehrten Ausblick auf Paris zu erhaschen. Der Aufzug fuhr zwar 2 m pro Sekunde, andererseits war uns die lange Wartezeit hier zu kostbar. „Eines schönen Tages werde ich diesen Blick über Paris mit einem mich liebenden Mann erleben! Den hebe ich mir auf und wer weiß, wer der Glückliche sein wird.“ Sagte ich zu Helga. Das Herz sprach in diesem Moment von Thomas! Bevor ich in meine tiefsten Wünsche eintauchte, stupste sie mich an und sagte: „Lass uns los. Der Hunger ruft Nahrungsaufnahme.“ Sie grinste dabei und wir schlenderten weg vom Eingang, über die nach frisch gemähtem Gras duftende Rasenfläche hinaus auf die Straße. Wir begaben uns stattdessen auf den Heimweg ins Hotel. Helga redete fast ununterbrochen. Das lenkte mich enorm ab. Der Rückmarsch an dem Abend zur Unterkunft war nicht wesentlich kürzer, trotz einer Fahrt mit der U-Bahn. Meine Füße schmerzten nicht mehr, im Gegenteil, ich merkte sie kaum. Das war garantiert das Zeichen unmittelbar vor dem Absterben. Wenn mir das jemand erzählt hätte, ich hätte es für bare Münze genommen. In Sichtweite entdeckten wir unser kleines Hotel. Ein Speiselokal, das gemütlich aussah, preislich in das Budget passte, lag ein paar Meter vor dem Absteigequartier. Es lachte uns an und so kehrten wir ein – der HUNGER! Spaghetti in Paris schmecken doppelt so gut, wenn man ausgehungert ist. Der Wein fehlte ebenfalls nicht zum typisch italienischen Essen. Der war im Gegensatz zur Speisenwahl, ein fruchtiger französischer Rotwein. Mittlerweile merkte ich die Füße gar nicht mehr. Ich schob es auf den Alkohol. Sattgegessen und getrunken rollten wir die letzten Schritte in die winzige Eingangshalle des Hotels, fragten nach dem Zimmerschlüssel und hielten kurz inne, schauten uns an und hatten beide das Gleiche entdeckt. Was sahen unsere lieblichen Augen? Champagner Flaschen. Veuve Clicquot, ein Must-have, oder? „Das gönnen wir uns heute vom „Schmerzensgeld-Taschengeld. Unsere Belohnung die erste. So ein blöder Kerl,“ sagte Helga. Bewusst wahrgenommen hatte ich diese Sätze, in Anbetracht der sich wieder in Erinnerung bringenden, schmerzenden, absterbenden Füße, nicht. Helga orderte eine erste Flasche und mit ihr zusammen fuhren wir mit dem Lift auf die 3. Etage. Hinein ins Zimmer und den einzigen Wunsch, den ich hatte, war: Schuhe aus! Nie wieder mit neuer Fußbekleidung, hörte ich meine Füße schreien. Champagner war Nebensache. Helga öffnete die Flasche. Holte zwei Gläser aus dem Schrank über dem Bett und füllte das Getränk perlend hinein. Der erste Schluck des gekühlten Schampus fühlte sich an wie Schmetterlinge im Bauch. Gott war das lecker! „Uns geht es bestens“, hörte ich Helga reden. Wir setzten uns auf das Doppelbett, weil außer einem winzigen Tischchen, kein Platz in dem Zimmer war. Das dazugehörige Bad war ebenfalls so klein, dass es mit einer Person der Überfüllung nahe war. So endete unser erster Tag in Paris quietschvergnügt mit Champagne und ohne, dass es für mich ein Alptraumtag war! Mein Dank an Helga und dem Universum. Beschwipst schliefen wir spät ein. Am kommenden, zweiten Tag hatten wir uns den Jardin de Tuileries, den Notre Dame und die Sacre Coeur Kirche vorgenommen. Im Tuleriengarten gab es einen kleinen Laden, der Lichterfahrten am Abend auf der Seine anbot. Paris bei Nacht – ein genialer Gedanke! Wir waren so begeistert, dass Helga umgehend loszog und sofort zwei Karten orderte. Das Schiff legte um 20:00 Uhr vom Steg an der Seine ab. Das war zwar spät, aber Nachtfahrten bei Tageslicht ergeben logischerweise keinen Sinn. Es schien den ganzen Tag die Sonne. Der Himmel war stahlblau, ohne eine einzige Wolke. Das Wetter war recht sommerlich, genaugenommen Spätsommerwetter. „Wenn Engel reisen“, sagte ich nur. Schweißperlen treibend kamen wir am Notre Dame an. Dem Zuhause vom Glöckner, Quasimodo. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen es in diese Kirche hineintreibt. Die Schlangen waren, wie schon beim Eiffelturm, enorm riesig. Lange anstehen bei dem superben Wetter, war uns zu mühselig und kostbare Zeitverschwendung. Am morgigen Tag hieß es ja Abschied nehmen von Paris. Ergo blieben uns nur zwei ganze Tage, um genügend Eindrücke bis zur Abreise aufzunehmen. Folglich zogen wir weiter zur für mich schönsten aller Kirchen, die ich bis dato besichtigte, geschweige denn, in natura gesehen hatte. Sacré Coeur. Ein Traum aus Chateau-Landon-Steinen. Ein frostresistenter Travertin aus dem gleichnamigen Ort im heutigen Département Seine-et-Marne, der durch die Witterung Calcit abgibt. Hierdurch nimmt er mit der Zeit ein kreideartiges Weiß an. Das Bauwerk thront auf einem Hügel, hoch oberhalb der Stadt, im Kulturviertel Montmartré. Sacré Coeur heißt bei uns übersetzt: Herz Jesu. Der Ausblick über Paris von den davorliegenden Stufen der Kirche ist umwerfend malerisch. Riesige Weiten. Alles, was das Auge bis zum Horizont erfasst, heißt: Paris. Gott hatte verstanden, warum er diese Kirche hier bauen ließ. Ich stand heute auf der höchsten Stufe und genoss den Anblick der Stadt, war sprachlos und hatte für einen Moment wieder ein Glücksgefühl in mir. Empfand die Nähe von Thomas. Ich genoss diese Leichtigkeit, das pulsierende Herz der Pariser Lebensart am beliebten Treffpunkt von Jung und Alt. Ein amerikanischer, rosafarbener Cadillac schwenkte auf den Vorplatz der Kirche ein und stellte sich direkt vor den Eingang auf das untere Plateau. Es war ein Cabrio. Darin saßen der Chauffeur und ein junges Brautpaar. Ein Anblick bei strahlend blauem Himmel, wie aus einem Hollywoodfilm. Eine Trauung an unserem Tag, in der für mich schönsten Kirche der Welt, göttlich. Tief in mir beneidete ich das Paar. Die Gedanken beim Anblick der Verliebten schweiften ab zu Thomas. Er sagte vor nicht allzu langer Zeit: „For Eternty:“ Hochzeit, Kinder und ein Leben mit ihm. Das war seit dem Versprechen unser Traum. Leider blieb es ein Traum. Musik riss mich aus den Gedanken. Auf der Treppe hatte sich eine Männergruppe versammelt, die auf ihren hölzernen Panflöten eine romantische Melodie spielten. Wie herzergreifend. Die stimmungsvolle Vertonung entführte mich in den vergangenen Liebessommer mit Thomas. Eine unendliche Traurigkeit legte sich auf meine Stimmung. Gleichzeitig überkam mich eine zurückhaltende Freude. Ein eigenartiges Gefühlsgemisch. Er war erneut in meinem Kopf, im Herzen und der Seele. Es schmerzte unaufhaltsam. Der ganze Traum, unser Zukunftstraum, lief wieder wie ein Film ab, nur mit dem jungen Brautpaar. Wir, das Paar des Jahrhunderts, mit Kindern, einem Haus von Thomas gebaut, einem Hund. Leben pur. Genau den Lebenstraum gab es vor kurzer Zeit. Dann brachte er mit einer Lebenslüge dieses Glück wie eine Seifenblase zum Platzen. Schmerz, Trauer, Wut und eine große Leere hatte er in mir hinterlassen. Was für eine Ironie! Den bezaubernden Anblick, ohne ihn selbst zu erleben, fiel mir schwer. Helga klopfte auf meine Schulter, riss mich wie immer aus den düsteren Gedanken, holte eine trauernde Frau zurück in das pulsierende Paris. Sie hatte immerzu ein sensibles Gespür dafür, wann sie mich aus der Lethargie herausholte. Das Brautpaar zog in die Kirche ein. Wir folgten. Die Besichtigung der Innenräume war nur eingeschränkt möglich, da dort Umbauarbeiten im Gange waren. Daher war die Besichtigungsrunde relativ schnell zu Ende. Im Anschluss schlenderten wir durch eines der schönsten Viertel in Paris zum Künstlerviertel, dem Place du Tretre. Cafés luden zum Verweilen ein, was wir dann umsetzten. Unsere Füße erholten sich langsam vom gestrigen Marathonmarsch. Café au Lait mit Eau Minerale Perrier, dazu Stangenbrot und den typischen, französischen Weichkäse. Ein Leben wie Gott in Frankreich war das. Lecker. Die Sonne sorgte mit der nötigen Wärme für unser Wohlgefühl. Es herrschte ein reges Treiben um uns herum. Gestärkt zogen wir weiter. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir in Ruhe im Tuilerienpark. Genug Zeit für Sonne und einen kleinen Snack. Pünktlich stiegen wir an Bord des Sightseeingschiffes auf der Seine. Die gewünschte Dunkelheit stellte sich langsam ein und losging`s. Wir erhielten kleine Kopfhörer und stöpselten diese dann beim Ablegen in die hierfür vorgesehenen Stecker an den Sitzplätzen. Die eigene Landessprache wurde von den Fahrgästen gewählt, da nicht jedermann an Bord Französisch verstand. Paris bei Nacht – Stadt der tausend Lichter. Die La Fracasse legte ab. Unsere Fahrt führte vorbei am Cartier Latin, dem Studentenviertel. Eine Menge junger Menschen und unzählige verliebte Pärchen säumten den Uferrand und winkten den vorbeifahrenden Ausflugsschiffen zu. Untermalt wurden die Erzählungen des Herrn aus dem Kopfhörer mit romantischer, klassischer Musik. Ich meinte mich an Chopin zu erinnern. Diese Klaviermusik weckten erneut die Erinnerungen und Gedanken an Thomas. Sie fragten nicht, sie nahmen mich geradewegs in Besitz. Ich hörte gar nicht mehr, was die nette, männliche Stimme im Kopfhörer alles so über die Pariser Stadt und ihre Geschichte erzählte. Ich war in Gedanken weit weg, bei ihm, Thomas. Ich sah