Dagmar Isabell Schmidbauer

Todesfalle Campus


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scheint, Bücher sind seine große Leidenschaft. Er ist übrigens Volkskundler … ja und normalerweise wird der Raum nur selten genutzt …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern.

      „Okay! Wo muss ich hin?“

      „Immer dem Rundweg folgen, dann findest du es.“

      „Ist der Chef auch schon da?“

      „Ja, er hat die Uni-Präsidentin aus dem Bett geklingelt“, berichtete Obermüller sachlich. „Und dein Lieblings-Notarzt schaut sich das Opfer gerade an. Vielleicht kann er dir ja schon mehr sagen.“

      Franziska nickte. „Der gute Dr. Buchner!“ Sie musste lächeln. Obwohl sie sich nur an Tatorten trafen, war zwischen dem gütigen Mediziner, der seine ruhige Art auch bei heftigen Fällen niemals ablegte, und ihr so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Auch wenn er sich nie zu vorschnellen Aussagen verleiten ließ, konnte sie ihm meist etwas entlocken. Aber noch wichtiger war, dass sie ihm vertraute, weil er wusste, wie wichtig seine erste Einschätzung war.

      Als sie das grüne Gittertor erreicht hatte, warf sie einen letzten Blick in den abendlichen und fast wolkenlosen Himmel, holte tief Luft und ging hinein. Die Tür zum Dublettenmagazin stand weit offen und gab den Blick auf einen Raum mit grauen, schäbigen Metallregalen und einem eben solchen PVC-Bodenbelag frei. In den Regalen lagerten die von Obermüller beschriebenen Bücher und Zeitschriften. In einer Ecke standen ein paar kaputte Stühle, platzsparend aufgestapelt. Aufgeschlitzte Kissen lagen auf einem Tisch. Die Oberkommissarin entdeckte Schachteln mit undefinierbarem Inhalt, kaputte Plakataufsteller, verbogene Buchstützen und über all dem strahlten Neonröhren, von denen die Spinnweben herunter hingen.

      Franziska blickte zu Dr. Buchner in seinem roten Anorak. Der Notarzt untersuchte eine junge Frau, deren schlanker Körper mit einigen schwarzen Stofffetzen eher umwickelt als bekleidet war. „Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten“, erklärte er gerade, woraufhin die Kommissarin näher trat und sich über den Hals und das arg zugerichtete Gesicht des Opfers beugte, das von unzähligen Wunden entstellt war. Franziska hatte schon einiges gesehen, dennoch sog sie scharf die Luft ein, als sie auf die junge Frau hinunter blickte. Die blutunterlaufene Haut und die zugeschwollenen Augen zeugten ebenso wie die Wunden, Striemen und Blutergüsse, mit denen ihr gesamter Körper überzogen war, von einem schlimmen Martyrium.

      Die Tote lag auf der linken Seite, der Kopf ein wenig überstreckt in einer Blutlache, die langen blutgetränkten Haare nach oben gezogen, als ob sie daran festgehalten worden wäre. Ihre Arme lagen vor ihrem Körper, die Handgelenke wiesen dunkle Vertrocknungsspuren auf, was darauf hindeutete, dass sie vor ihrem Tod über einen langen Zeitraum gefesselt gewesen sein mussten. Die Beine lagen ausgestreckt auf dem staubigen Boden. An den Fußgelenken befanden sich die gleichen vertrockneten Fesselspuren wie an den Handgelenken.

      Annemarie Michel, die Leiterin der Kriminaltechnik, stand neben Buchner und reichte Franziska ein Paar Latexhandschuhe für den Fall, dass sie die Tote inspizieren wollte.

      „Hat sie versucht sich zu wehren?“, fragte die Oberkommissarin ihre ältere Kollegin, denn sie war sich sicher, dass Annemarie bereits alles in Augenschein genommen hatte.

      Die Chefin der KTU beugte sich hinunter und ergriff die rechte Hand der Toten. „Entweder kam sie nicht mehr dazu, bevor sie gefesselt wurde“, Annemarie blickte Franziska nachdenklich an, „oder sie wollte sich gar nicht wehren. Fingernägel und Zähne sind jedenfalls intakt.“

      „Du denkst an einvernehmlichen Sex? Prostitution oder ein ausuferndes Liebesspiel?“

      Annemarie zuckte mit den Schultern. „Seit scheinbar alle Welt Gefallen an Sado-Maso-Spielchen entdeckt hat … wer weiß?“

      „Ja gut“, räumte Franziska ein und dachte kurz an ihre eigene Vorstellung von Liebesspielen. „Aber solche Spiele haben doch ihre Grenzen, da gibt es feste Regeln und an die hat man sich zu halten. Und bestimmt gehört dazu nicht, sich ohne Gegenwehr die Kehle durchschneiden zu lassen.“

      „Natürlich nicht!“ Annemarie erhob sich und gab damit den Blick auf den Boden rund um die Beine der Toten frei. „Aber siehst du die Staubschicht? Sie hat noch nicht einmal gezappelt, als er das Messer ansetzte.“

      „Dann war sie vielleicht schon tot, als er ihr die Kehle durchschnitt?“

      „Nein!“ Energisch mischte sich Buchner in die Spekulationen ein und lenkte damit den Blick wieder auf den Kopf der Toten. „Um so viel Blut aus dem Körper zu befördern, muss das Herz schon noch tüchtig pumpen. Und dass es den Körper noch ordentlich leergepumpt hat, zeigt sich wiederum an den nur sehr spärlich vorhandenen Leichenflecken.“

      Franziska nickte. „Ja klar. Mein Fehler.“

      Buchner schenkte ihr ein Lächeln. „Ich will mich nicht festlegen, das …“

      „… können die Kollegen in München besser beurteilen!“ Auch Franziska lächelte über diese Routineaussagen.

      „Sie könnte zu diesem Zeitpunkt einfach aufgegeben haben. Ich meine, so wie sie zugerichtet ist, war das keine Sache von fünf Minuten.“

      „Wurde sie vergewaltigt?“

      „Genau kann ich das nicht sagen. Fakt ist, dass sie im Genitalbereich schwer verletzt wurde. Ob nur äußerlich oder auch innerlich …“ Der Mediziner zuckte mit den Schultern.

      „Aber dann muss sie doch wenigstens am Anfang geschrien haben. Und das muss doch jemand gehört haben. Draußen führt ein Weg direkt an der Tür vorbei. Da könnten Spaziergänger entlanggegangen sein …“ Franziska warf einen ratlosen Blick zu Hannes, der gerade neben ihr aufgetaucht war. Doch außer einem begrüßenden Nicken trug der nichts zum Gespräch bei.

      „Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Franziska vorsichtig, denn sie wusste, wie ungern sich der Notarzt solchen Spekulationen hingab.

      „Na ja, ich denke jetzt mal laut nach. Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Das ist in der Regel und vor allem bei den gerade herrschenden Temperaturen nach etwa acht bis zehn Stunden der Fall. Die Lösung sollte nach etwa vierundzwanzig Stunden beginnen. Das ist so, weil sich das Muskeleiweiß dann selbst verdaut, was anschließend in die Fäulnis übergeht. So weit ist es aber scheinbar noch nicht.“ Buchner blickte kurz die Kommissare an, sprach dann über die Tote gebeugt in seinem Vortragston weiter. „Die Leichenabkühlung erfolgt in drei Phasen. In den ersten zwei bis drei Stunden bleibt die Temperatur erhalten, die zum Todeszeitpunkt herrschte, danach geht sie pro Stunde etwa ein Grad runter, bis die Umgebungstemperatur erreicht ist.“

      Der Mediziner blickte erst auf seine Uhr und dann auf die Thermometer, die er gerade ablas. „Jetzt haben wir 20 Uhr 50, sagen wir 21 Uhr. Die Umgebungstemperatur in diesem Raum beträgt 18 Grad. Die Mastdarmtemperatur unserer Leiche zeigt 19 Grad an. Sie ist also noch in der Auskühlungsphase. Wenn wir davon ausgehen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes 37 Grad Körpertemperatur hatte, ergibt sich eine Differenz von 18 Grad beziehungsweise 18 Stunden, plus zwei bis drei Stunden. Macht 20 bis 21 Stunden oder eine geschätzte Todeszeit von 22 bis 23 Uhr am gestrigen Abend.“

      Franziska nickte zufrieden. Sie wusste, dass sich Dr. Buchner auf diesen Zeitpunkt nicht festnageln lassen würde. Sie wusste aber auch, dass sie jetzt einen soliden Anhaltspunkt hatten.

      „Gut, dann müssten wir jetzt nur noch wissen, wie lange sie hier zuvor festgehalten wurde.“

      „Dazu kann vielleicht der Bibliothekar Georg Brummer etwas sagen“, mischte sich Hannes nun doch ein. „Ich habe ihn befragt, aber er musste zurück in den Lesesaal.“

      „Was hat er ausgesagt?“

      „Nur dass er sie aus Zufall gefunden hat. Er habe gestern Abend schon einige dieser“, Obermüller zuckte mit den Schultern, „Schätze geholt und wollte sich heute weitere holen, um sie sich in seiner Spätschicht vorzunehmen. Dabei hat er sie gefunden.“

      „Wann gestern Abend?“

      „Er meinte so um fünf. Da habe er seinen Spätdienst angetreten und da war der Raum leer.“

      „Spätdienst!