Dagmar Isabell Schmidbauer

Todesfalle Campus


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vergangenen Nacht mit so viel Brutalität ihr Leben ausgelöscht hatte, tatsächlich gekannt?

      In ihrer Wohnung gab es absolut keine Hinweise auf eine Beziehung, weder eine bestehende noch eine vergangene. War sie einfach nicht der Typ gewesen, der die Trophäen vergangener Eroberungen hortete? Oder hatte sie ihr Liebesleben den Prinzipien unserer modernen Wegwerfgesellschaft angepasst: vorbei und weg damit?

      Vanessa war ein hübsches Mädchen gewesen, die Haare lang, die Fußnägel lackiert, die Scham rasiert. Eine Frau, die Männern gefallen, von ihnen begehrt und nicht misshandelt werden wollte. Die Wäsche in ihrer Wohnung war weder bieder noch besonders aufreizend. Warum zeigte sie sich dann ausgerechnet an einem Ort wie dem Dublettenmagazin der Zentralbibliothek in einem derart gewagten Outfit?

      Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Der Täter musste sie dazu animiert haben, musste die Sachen mitgebracht und sie ihr gegeben haben. Und ihrer Einschätzung nach musste sie sie auch freiwillig angezogen haben. Und dann? Was war dann passiert? Warum war dieses Rendezvous tödlich ausgegangen? Konnte sie wirklich so leichtsinnig gewesen sein, sich mit einem Mann das erste Mal auf diese spezielle Weise zu treffen und keinerlei Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen?

      In einer Zeit, in der scheinbar alle auf einer verherrlichenden Sado-Maso-Welle ritten und kritiklos den Kick in der Hingabe ohne Absicherung suchten, war ja vielleicht sogar das möglich. Aber gehörte zu diesem Kick dann auch ein Platz zwischen staubigen alten Büchern und der Möglichkeit, entdeckt zu werden?

      Franziska blickte nach links. Der Radweg entlang des Inns führte in dieser Richtung bis zur Ortsspitze, um sie herum und dann an der Donau entlang weiter. Sie wandte den Kopf und schaute nach rechts. In die entgegengesetzte Richtung konnte man bis nach St. Moritz durchradeln. Wobei der Inn mit seinem grünen Gebirgswasser noch etwas höher gelegen im Malojapass entspringt und dann mehr als fünfhundert Kilometer zurücklegt, bis er an der Ortsspitze in die Donau mündet.

      Das alles hatte mit der Tat und mit ihrem Fall wenig zu tun, außer dass es zeigte, wie einfach der Täter den Tatort verlassen haben konnte. Wobei er genauso gut zu Fuß über die großangelegten Wiesenflächen, zwischen grillenden und feiernden Studenten oder mit dem Auto über die Innstraße entschwunden sein konnte. Letztlich sogar mit einem Boot.

      Denn tatsächlich führten die Rasenflächen bis zum Fluss und wurden immer wieder für spontane Partys genutzt, so wie in der vergangenen Nacht, um das Studentenleben aufzulockern. Hinter ihr wuchsen große Büsche; sie sorgten bei Tag, wenn die Sonne unbarmherzig schien, für Schatten. In der Nacht konnte sich aber auch problemlos jemand dahinter verbergen. Jemand, der ein leichtes Opfer suchte und dieses dann ausgerechnet in den Keller der Zentralbibliothek entführte? Nein, nein, nein, dachte Franziska, nie und nimmer! Und dann begann sie doch ein wenig zu frösteln.

      Im Grunde fürchtete sie sich nie oder zumindest nicht auf einer nächtlichen Parkbank auf dem Universitätsgelände. Und auch jetzt, trotz allem, konnte sie sich immer noch nicht vorstellen, dass Vanessa ihren Mörder nicht gekannt haben sollte. Vanessa – sie versuchte der Toten in ihren Gedanken das Gesicht wiederzugeben, ein Gesicht, das der Täter ihr mit Tritten oder Schlägen genommen hatte. Übertötung nennt man das, wusste die Kommissarin und auch, dass dahinter oft der Wunsch des Täters steckte, dem Opfer nicht nur das Leben, sondern auch die Identität zu rauben. Hatte Vanessa diesen Mann aus ihrem Leben verbannt und hatte er sie dann genauso zerstören wollen, wie sie ihre Beziehung zu ihm?

      Es blieb ihr nichts anderes übrig, als mehr über Vanessa Auerbach herauszufinden. Was ja eigentlich nicht so schwer sein durfte. In einer Zeit der allgemeinen Vernetzung und Verlinkung sollte sie doch Menschen finden, die die lebende Vanessa gekannt hatten und etwas über sie und ihre Bekanntschaften sagen konnten.

      Alles sprach für eine Beziehungstat. Für eine gescheiterte oder zumindest für eine aus dem Ruder gelaufene Beziehung. Solche Fälle hatte sie schon des Öfteren erlebt. Eine totgeschlagene Ehefrau, die zur letzten Aussprache gegangen war, ohne begriffen zu haben, dass ihr Mann, wenn er sagte, er könne ohne sie nicht leben, das auch wortwörtlich meinte. Ihre letzte Aussprache war dann wirklich das letzte, was sie erlebte. Manchmal nahm sich der Mann dann ebenfalls das Leben, warf sich vor einen Zug oder knallte mit dem Auto gegen einen Baum. Sie konnte sich an zwei Fälle erinnern, wo es genauso abgelaufen war. Beim dritten hatte dem Mann der Mut gefehlt, es auch für sich selbst zu Ende zu bringen. Alle drei hatten Abschiedsbriefe geschrieben, worin sie mehr oder weniger flüssig beschrieben, was in ihnen vorgegangen war und warum sie so und nicht anders gehandelt hatten.

      Diese Männer hatten ihre Frauen geschlagen, gewürgt und dann getötet. Wenn schon nicht auf Erden, dann zumindest im Himmel vereint, lautete die Botschaft. Eine Liebe, die nicht sterben durfte. Eine unendliche Liebe, die mit brutaler Gewalt gegen die Frauen erzwungen wurde. Unvorstellbar für einen rational denkenden Menschen, für die Täter aber allem Anschein nach der einzige Ausweg aus ihrem ganz persönlichen Dilemma. Eine der Frauen war damals ziemlich heftig vergewaltigt worden. Wobei sie alle drei in der gemeinsamen Wohnung oder dem gemeinsamen Haus gestorben waren und sich keine der Frauen extra aufreizend angezogen hatte.

      Vielleicht würde sich ja auch im Fall Vanessa Auerbach ein solcher Abschiedsbrief finden, hoffte die Kommissarin, auch wenn nach dem aktuellen Ermittlungsstand nichts zu einer letzten Aussprache passte.

      Franziska wandte sich um und blickte hinauf zu dem hell gestrichenen Bau der Zentralbibliothek, wo noch immer Licht brannte. Es war kurz vor elf. Der Bibliothekar leiste noch seinen ganz persönlichen Spätdienst, hatte Hannes gesagt. Franziska öffnete ihre Tasche und holte ihr grünes Notizbuch heraus. Darin lag der Zettel mit der Handynummer des Bibliothekars. Ich hoffe, du bist auch heute noch im Dienst und hast es nach allem, was passiert ist, nicht vorgezogen nach Hause zu fahren, dachte sie kurz. Dann tippte sie die Nummer ein und wartete darauf, dass ihr Anruf entgegengenommen wurde. Wenn sie an diesem Abend schon nichts über Vanessa in Erfahrung bringen konnte, dann konnte sie ja vielleicht die Frage klären, wie Opfer und Täter ins Dublettenmagazin gelangt waren.

      Aufrecht saß er auf seinem schmalen Bett und beobachtete eine dunkelbraune Hausspinne, die über den Boden lief. Im Schutz der Dunkelheit war sie unter dem Schrank hervorgekommen und suchte jetzt nach einem geeigneten Platz, wo sie ihr Netz spinnen und darin ihre Beute fangen konnte. In seinem Zimmer gab es viele Spinnen. Er liebte sie, sie waren so konsequent, so gnadenlos. Sie sponnen ihr Netz und fraßen das, was sich darin fangen ließ. Wenn sie ihr Opfer erst einmal eingewickelt hatten, gab es kein Entrinnen mehr.

      Um sie beobachten zu können, brauchte er kein Licht anzumachen, ihm reichte das wenige Licht der Straßenlaterne, das durch das Fenster hereindrang. Ruckartig lehnte er sich zurück und schlug ein paar Mal hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand, bis sich alles um ihn herum drehte. Dann sprang er auf und schrie so laut er konnte.

      Doch die Benommenheit in seinem Kopf ließ nicht nach. Wie ein Zug rauschte sie durch ihn hindurch. Ein Zug mit Hunderten von Güterwagen, die einer nach dem anderen durch seinen Kopf ratterten.

      Dabei hatte er es doch getan.

      Ratatat, ratatat, ratatat. Endlos fuhren die Waggons, weiter und immer weiter. Er legte seine Hände an die Ohren, doch das Rattern nahm noch zu. Ratatat, ratatat, ratatat! Er wollte, dass es aufhört, aber je mehr er sich das wünschte, desto schneller fuhr der Zug.

      Die Spinnen töteten, um zu überleben und er machte jemand kalt, um seinen Schmerz weiter zu geben. Bis er es getan hatte, hatte er gar nicht gewusst, dass das die Lösung für sein Problem sein könnte und auch jetzt schien es irgendwie noch nicht stimmig zu sein. Eigentlich hätte er sich danach gut fühlen sollen, aber das Gegenteil war der Fall. Im Moment fühlte er sich wie früher, wenn er sich ganz schrecklich auf Weihnachten gefreut und dann doch wieder nur Dresche gekriegt hatte.

      Für einen Moment hielt er inne. Irgendwie wollte ihm der Vergleich nicht so recht gefallen. Letztlich hatte er sich doch selbst beschenkt. Hatte sich genommen, was er haben wollte. Es war gut gewesen, oh ja. Aber eben nicht so gut, wie er gehofft hatte.

      Vielleicht weil er sich das alles viel einfacher vorgestellt hatte. Nicht so chaotisch.