Nadja Christin

Samuel, der Tod


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schon gut«, meint Alice sanft. »Er ist längst weg.«

      Liam wirft ihr einen Blick zu, atmet erleichtert aus.

      »So ein Glück«, sagt er keuchend.

      Die Werwölfin zerrt ihn hoch, er stütz sich an der Theke ab, als überkommt ihn ein Schwindelanfall.

      »Was zum Teufel war hier los?«, fragt Alice. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Liam mit dem gut aussehenden Kerl in Streit geraten ist.

      »Ich … weiß es nicht«, erwidert Liam und versucht krampfhaft, sich zu beruhigen. In seinem ganzen Dasein kam er der ewigen Verdammnis noch niemals so nah, wie eben, als der Tod ihn einen Blick in die Hölle werfen ließ. Es war ein scheußliches Gefühl, und wenn Alice nicht dazwischen gekommen wäre, so hätte er sich ergeben um mitten unter den Kreaturen des Abgrundes sein weiteres Dasein zu fristen.

      »Was wollte der Kerl denn von dir?«

      Der Vampir zuckt mit den Schultern.

      »Er wollte mich töten, was denn sonst. Immerhin war das der Tod.«

      »Aber…« Alice denkt einen Moment nach.

      Sie wusste sofort, dass er ein Sensenmann ist, aber dennoch kam er ihr so vertraut und liebenswürdig vor. Nichts war an ihm, vor dem sie sich fürchten müsste. Vor allem nicht diese herrlichen, blauen Augen, die wie tiefe Seen wirken, in die man gefahrenlos hinab tauchen kann.

      »Ich verstehe das nicht«, beendet sie ihren Satz nachdenklich.

      Liam schnaubt abfällig. »Ich auch nicht. Dennoch haben wir den verdammten Tod gegenüber wohnen. Und ich denke, er wird wiederkommen. Wir müssen von hier verschwinden.«

      »Was?«, ruft Alice aufgeregt. »Niemals werde ich mein Geschäft im Stich lassen. Nicht in hundert Jahren.«

      Der Vampir fletscht die Zähne.

      »Er wird auch dich holen, immerhin bist du auch ein Anderswesen.«

      Energisch schüttelt die kleine Wölfin mit dem Kopf, ihre langen Haare fliegen um sie herum.

      »Nein, Liam. Er war nur hinter dir her. Du kannst ja gehen, aber ich bleibe hier. Schluss. Aus. Ende. Ich bleibe.«

      Unmöglich kann der Vampir seine Freundin alleine lassen. Er hat zwar Angst vor dem Sensenmann, aber noch größer ist seine Furcht, dass Alice etwas zustoßen könnte. So springt er ein weiteres Mal über seinen Schatten, nickt kleinlaut und meint:

      »Du hast ja recht, Alice. In Ordnung … ich bleibe.«

      »Gut«, sagt sie schlicht und geht hinter die Theke.

      »Ich bin nur zurückgekommen, weil ich etwas vergessen habe.«

      Sie schließt eine der unteren Schubladen mit einem kleinen Schlüssel auf und entnimmt einen winzigen Flacon. Rasch lässt sie das Fläschchen in ihrer Handtasche verschwinden. Liam hat es dennoch gesehen.

      »Ah, du belieferst also auch schon tagsüber deine Junkies?«

      Ohne ein Wort zu sagen, zuckt Alice mit den Schultern und geht zur Türe.

      »Ich bin bald wieder zurück«, sagt sie. »Versuche bitte, dich in der Zeit nicht umbringen zu lassen.«

      »Ja, ja.« Der Vampir winkt ab.

      Kaum ist das helle Klingeln verstummt, begibt er sich hinter die Theke um sich ein großes Glas mit Blut aufzuwärmen.

      Das brauche ich jetzt, denkt er, und dann werde ich überlegen, wie ich diesen verdammten Jäger loswerde.

      *

      Charlie kommt mit großen Papiertüten beladen nach Hause.

      Pfeifend schließt er die Wohnungstüre auf, zieht sich umständlich die Turnschuhe aus, indem er jeweils auf die Ferse des anderen tritt. Die Jacke behält er an, weil er sonst die Tüten abstellen müsste, jedoch befürchtet, dass sie dann reißen könnten.

      Wie immer ist sein Einkauf viel zu üppig ausgefallen, wie meistens konnte er sich nicht beherrschen. Charlie ist ein leichtes Opfer für jeden halbwegs geschickten Verkäufer.

      Der junge Mann ist für beinahe alles zu begeistern, nur zu gerne probiert er neue Sachen aus, kostet den allerneusten Käse, nimmt den hippen Energie Drink mit, ist mit Begeisterung der erste Kunde, der genau diese Salami testen muss. Der Kühlschrank und seine eigenen Schränke quellen über vor lauter neuem Zeug. Das meiste braucht er gar nicht und das wenige, das er essen würde, will er nicht. Auch heute wieder hat sein Einkauf viel länger gedauert, als er geplant hat, somit fiel der Besuch im Fitnessstudio auch seiner Shoppinglust zum Opfer.

      Schwer atmend stellt er die Tüten ab, genau in diesem Moment reißt das minderwertige Papier und eine Flut von Lebensmittel ergießt sich über die Arbeitsplatte und den Fußboden.

      »Verdammt!«, flucht er vor sich hin und versucht, die Orangen aufzuhalten, die der Schwerkraft folgen wollten.

      »Ich hoffe für dich, dass der Whisky überlebt hat«, sagt Samuel düster vom Esstisch aus.

      Charlie zuckt erschrocken zusammen, er hat seinen Freund nicht bemerkt.

      Die Orangen haben den Kampf gegen die Schwerkraft verloren, rollen um Charlies Hüften herum und platschen auf dem Fussboden auf. Nur eine Frucht hüpft wie ein Ping-Pong-Ball zurück, bevor auch sie still liegen bleibt.

      Samuel verdreht die Augen und erhebt sich.

      Charlie schiebt die zerstörte Tüte mit den Einkäufen zurück, weit entfernt vom drohenden Abgrund und der unweigerlichen Zerstörung der Lebensmittel.

      »Nur keine Sorge«, meint Charlie. »Der Schnaps ist bestimmt noch heil geblieben.«

      »Glück für dich.« Charlie sieht seinen Freund neugierig an. Er erscheint ihm noch übler gelaunt, als sonst, irgendetwas muss mit ihm geschehen sein, in der Zeit als er seine Einkäufe tätigte.

      »Was ist los mit dir?«, fragt er neugierig und beginnt die Lebensmittel vom Boden aufzuheben.

      Samuel kramt in den restlichen Papiertüten.

      »Wo hast du ihn denn…« Etwas klirrt laut gegeneinander.

      »Ah, ich dachte schon, du hättest ihn vergessen.« Er zieht eine rechteckige Flasche heraus und hält sie gegen das Licht. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit verwandelt das simple Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt, in ein Feuermeer, beinahe so, als hielte der Tod einen Klumpen Sonnengold in den Händen.

      »Wie kannst du nur so etwas denken«, murrt Charlie und wirft einen zerstörten Joghurtbecher in den Abfall. Samuel grinst ihn an und geht, mit seiner frischen Flasche, ins Esszimmer. Dort füllt er sein Glas beinahe bis zum Rand. Staunend sieht Charlie ihm dabei zu, wie er die Flasche sorgsam verschließt, vorsichtig das Glas nimmt und erst daran riecht, bevor er es in einem gewaltigen Schluck bis zur Hälfte leert.

      Kopfschüttelnd wendet Charlie sich ab, wenn er es nicht besser wüsste, müsste er zwangsläufig vermuten, dass sein alter Freund das typische Verhalten eines Alkoholikers zeigt.

      »Ah«, stößt Samuel aus und wischt sich mit der Hand über den Mund. »Jetzt geht es mir schon um Längen besser.«

      Munter hilft er Charlie die Einkäufe zu verstauen.

      Erst als auch Charlie mit einem Glas Whisky am Tisch sitzt, erzählt Samuel ihm die ganze Geschichte.

      Als er damit fertig ist, schüttet er sich bereits das dritte Glas ein.

      »Entschuldige«, beginnt Charlie nachdenklich. »Ich wusste gar nicht, dass du mal ein Mädchen hattest. Niemals hast du auch nur ein Wort über sie verloren.«

      Der Tod zuckt mit den Schultern.

      »Es ist nichts, was ich herausschreien möchte. Eher wollte ich diese Sache vergessen … sie vergessen.«

      »Und du meinst wirklich, die Kleine von dem Laden sieht genauso aus wie deine …