Nadja Christin

Samuel, der Tod


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er sich den Namen auf der Zunge zergehen. Verträumt starrt er ins Leere, dann nimmt er noch einen kräftigen Schluck und sagt zu Charlie:

      »Ja. Sie gleicht ihr bis aufs Haar, wie man so schön sagt. Sie könnten Zwillingsschwestern sein.«

      Sein Freund schüttelt den Kopf, nimmt sich eine Zigarette aus dem Päckchen und zündet sie sich an.

      »Wie kommt das nur?«, fragt er und stößt eine Qualmwolke in die Luft.

      »Ich weiß es nicht, Charlie.«

      Auch Samuel nimmt sich eine der bereitliegenden Zigaretten. »Ich hätte noch nicht einmal eine Vermutung. Außer, dass sie vielleicht aus einer Vererbungslinie stammen könnten, oder …« Nachdenklich tippt er sich mit dem Filter der Zigarette gegen die Lippen.

      »Ach, das ist alles völliger Blödsinn«, sagt er nach ein paar Sekunden aufbrausend und zündet sich endlich die Zigarette an.

      Eine Frage brennt Charlie bereits seit einigen Minuten unter den Nägeln, erst jetzt ist er bereit sie laut auszusprechen.

      »Ist sie denn auch ein … Anderswesen? Oder ein Mensch?«

      Sachte schüttelt der Tod den Kopf.

      »Auch diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Junge. Ich wollte nur eines, so rasch wie möglich dort weg.« Samuel nimmt sich erneut sein Glas, schwenkt die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam umher.

      »Es ist nicht meine Art, mich mit nacktem Oberkörper, fremden Frauen zu präsentieren.«

      Charlie legt den Kopf in den Nacken und beginnt lauthals zu lachen. Er kann gar nicht mehr aufhören, erst als dicke Tränen seine Wangen herunterlaufen und er einen Schluckauf bekommt, ebbt der Lachanfall langsam wieder ab.

      Schief lächelnd, den Kopf mit einer Hand abgestützt, betrachtet Samuel ihn.

      »Entschuldige bitte«, meint Charlie immer noch kichernd. »Aber diese Vorstellung vor meinem geistigen Auge… das … das war einfach zu komisch.« Ein weiterer Lachanfall bahnt sich an.

      Samuel wirft einen Blick auf die Wanduhr.

      »Hattest du nicht eine Verabredung heute?«

      Charlies Kopf ruckt herum, er starrt auf die Uhr.

      »Ja, verdammt. Ich muss mich beeilen.«

      Er springt von seinem Stuhl hoch, rennt in sein eigenes Zimmer.

      Innerlich zählt Samuel die Sekunden, bis sein Freund wieder raus kommt.

      Er ist erst bei fünf angekommen, als Charlie bereits, mit einem Arm voller Klamotten, in Richtung Badezimmer sprintet.

      »Hey, neuer Rekord«, ruft Samuel sarkastisch. »Fünf Sekunden nur. Das Mädchen scheint ja hübsch zu sein.«

      »Ja, ist sie«, brüllt Charlie aus dem Badezimmer. »Das ist unser erstes Date … ich darf nicht zu spät…«

      Der Rest geht im lauten Prasseln der Dusche unter.

      Geh nur, überlegt Samuel, es ist besser, wenn du heute Nacht nicht hier bist. Ich werde diesem widerlichen Vampir nochmals einen Besuch abstatten, und nicht nur ihm, der ganze Laden wird vor Anderswesen nur so wimmeln. Das wird ein Fest werden. Er erhebt sich und stellt sich an seine gewohnte Position, neben dem Fenster, den Vorhang ein wenig beiseitegeschoben und blickt auf das Geschäft herab. In dieser Nacht werden unzählige Dämonen den Tod finden und der Tod selbst, wird sich an ihren Schreien erfreuen.

      Es ist bereits seit Jahrhunderten so, dass sich Sensenmänner nicht nur für Menschen interessieren, wann immer sie auf Anderswesen treffen, versuchen sie auch diese zu erledigen.

      Die menschlichen Seelen, die sie den Sterbenden nehmen, nähren die Sensenmänner nur wenig, sie erledigen ihre Arbeit, weil sie dazu auserkoren wurden. Niemand von ihnen hat sich je freiwillig für diese Drecksarbeit gemeldet, es wurde ihnen befohlen, ohne eine Chance sich dem zu widersetzten. Jeder der vielen hundert Sensenmänner, die auf der gesamten Erde verstreut sind, ist bereits seit unendlichen Jahrhunderten dabei, und sie werden ihre Arbeit wohl noch verrichten, wenn die Welt mit einem Seufzer und einem lauten Knall einfach verpufft. Auch Samuel ist seit Anbeginn der Zeit dabei, niemals hat er seine Arbeit in Frage gestellt oder sich dagegen gewehrt, erst in der letzten Zeit, da scheint es ihm, als könne er dem Schicksal ein wenig nachhelfen. Er begann Menschen zu verschonen, denen, die es in seinen Augen verdient haben, ein wenig Aufschub zu gewähren. Zehn lausige Jahre, was ist das schon? Ein Nichts, im Dasein eines Sensenmannes ein Fingerschnippen lang, ein Lidschlag, ein Atemzug. Nichts, womit man etwas anfangen könnte.

      Dennoch waren die Menschen ihm dankbar und, wie er bis jetzt sieht, lohnt es sich für die menschliche Rasse. Wenn sie genau wissen, wann sie der Tod ereilt, ist ihre restliche Zeit auf Erden eine produktive, bessere und liebevollere.

      Samuel ist kein Narr, er weiß genau, dass er sich auf etwas Verbotenes einlässt.

      Keiner der Sensenmänner darf sich in das Schicksal einmischen, oder gar einen Totgeweihten laufen lassen und sei es auch nur für läppische zehn Jahre.

      Die Obersten, sie werden Superior genannt, bestehen aus noch älteren und weiseren Sensenmännern. Sie würden Samuel zur Rechenschaft ziehen, ihn bestrafen und vielleicht sogar töten lassen. Aber bis heute ist sein kleines Geheimnis scheinbar noch nicht zu ihnen durchgedrungen.

      Bis jetzt ist der Tod sicher.

      Kapitel Vier

      Pfarrer Francesco schließt aufatmend die schwere Kirchentüre. Er lechzt nach einem Whisky. Gedanklich sitzt er bereits in seinem bequemen Sessel, mit einem randvoll gefüllten Glas in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand.

      Seit Samuel vor zwei Tagen hier war, hat Francesco sich jeden Abend betrunken. Nur um nicht über den Tod und seine merkwürdigen Machenschaften nach denken zu müssen. Der Pfarrer wünscht sich sehnlichst, dass der Tod nicht Jahr für Jahr zur Beichte ausgerechnet zu ihm kommt. Am liebsten hätte er Samuel niemals kennengelernt.

      Die Furcht kriecht ihm noch heute den Rücken hinauf, wenn er an seine erste Begegnung mit dem Leibhaftigen denkt. Francesco wusste sofort, dass mit Samuel etwas nicht stimmt, dazu musste dieser noch nicht mal einen Fuß in die Kirche setzen. Der Pfarrer brauchte keinen Blick in diese feurigen, alles verschlingenden Augen zu werfen, er wusste es einfach instinktiv. Jeder, der Samuel genauer ansieht, weiß sofort, dass er kein Mensch ist. Man kann es riechen, fühlen, vielleicht sogar schmecken.

      Die Eingeweide ziehen sich zusammen, das Herz verkrampft sich, ganz so, als lege sich eine eiserne Hand darum und drücke unbarmherzig, das verzweifelt schlagende Organ, zusammen. Man schnappt nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen, versucht zu flüchten, nur weg von diesem Dämon, seine eigene Haut retten.

      Aber wenn der Tod dich ausgewählt hat, gibt es kein Entrinnen, du hast noch Zeit für einen letzten Atemzug, aber dann ist es rasch vorbei mit deinem Dasein.

      Nur ungern erinnert sich Francesco daran, wie er um sein Leben winselte, wie er den Tod anflehte, ihn doch zu verschonen, und an das erstaunte Gesicht von Samuel und sein hämisches Lachen.

      »Ich will nichts von dir, alter Mann«, meinte der Tod. »Du sollst mir nur die Beichte abnehmen. Mehr nicht.«

      Noch niemals zuvor in seinem Leben war der Pfarrer so erleichtert, wie in diesem Augenblick. Er ließ Samuel seine Fehler gestehen, betete mit ihm und entließ ihn frei von Sünde, mit einem reinen Gewissen.

      Das war der erste Abend, an dem Francesco sich sinnlos betrank. Er erwachte erst am nächsten Morgen, auf dem Boden liegend, umgeben von Erbrochenem, die Hosen voller Urin und die Bibel fest in seiner Hand. Es folgten noch einige Abende dieser Art. Aber irgendwann gewöhnte sich der Pfarrer an die Tatsache, dass der Tod persönlich, jedes Jahr seine kleine Kirche heimsuchte.

      Seit vierzig Jahren betritt Samuel pünktlich im November den Beichtstuhl. Doch so unheimlich, wie bei seinem letzten Besuch, war dem Pfarrer noch nie zumute.