Serena S. Murray

Lost Spirit


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Damit hatte er nicht gerechnet. Sie humpelte und da sie ihm das Leben gerettet hatte, folgte er ihr unwillig. Während sie sich einige Meter weiter verwandelte und die Kleidung anzog, die zuvor achtlos auf den feuchten Boden geworfen wurde, wandte Flynn das Gesicht ab. Den Wandlern machte es nichts aus, wenn man sie nackt sah, doch als Mensch siegte sein Anstandsgefühl. Erst, als er kein Geräusch mehr hörte, sah er wieder zur Wölfin hin. Überrascht riss er die Augen auf.

      „Maddie?“ Das Mädchen, das nur zwei Jahre jünger war als er, saß auf dem Boden, während sie auf ihre Beine starrte. Blut sickerte aus der Wunde und verfärbte den Jeansstoff rot.

      „Woher kennst du meinen Namen?“ Noch immer sah sie nicht auf und Flynn bekam das Gefühl, dass sie unter Schock stand. Da er ein Mann der Tat war, ging er zu seinem versteckten Beet zurück, zupfte einige Kräuter und kam zu dem Mädchen zurück, das sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Langsam, um sie nicht zu erschrecken, hockte er sich vor sie hin. Versuchsweise zog er das Messer aus seinem Stiefel. Er war bereit, jederzeit nach hinten auszuweichen, sollte sie ihn als Gefahr ansehen und angreifen.

      „Wir sind auf der gleichen Schule. Ich bin zwei Stufen über dir, aber im Prinzip kennt dich wohl jeder auf der Schule. Pete versucht schon seit Monaten, dich zu seiner Partnerin zu machen. Mein Name ist Flynn.“ Endlich hob sie den Kopf.

      „Wer ist Pete?“ Verwirrt schüttelte Flynn den Kopf. Hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, oder hatte sie eine Kopfverletzung, die ihr Verhalten erklärte? Aber letztendlich war das egal. Sie hatte sich verwandelt, vor seinen Augen. Das war eigentlich völlig unmöglich.

      „Pete ist der Sohn des Alphas.“

      „Vom Daemon Rudel?“ Flynn nickte, während er konzentriert ihre Jeans aufriss. Es wäre leichter gewesen, wenn sie sie einfach ausgezogen hätte. Aber in ihrem Zustand würde sie wohl auf solch eine Bitte erst gar nicht reagieren. Als er endlich ihre Beine freigelegt hatte, steckte er die Kräuter in den Mund. Er kaute so lange, bis sie ihre volle Wirkung entfaltet hatten. Dann spuckte er sie auf seine Hand. Ohne mit der Wimper zu zucken ließ Maddie sich die Kräuter auf die Bisswunden legen.

      „Versteck die Wunden am besten vor deiner Mutter. Sie bekommt sonst einen Anfall.“

      „Du kennst meine Mutter?“ Wieder ein Nicken.

      „Ja, sie näht meiner Mutter ab und zu mal ein paar Sachen, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Als Hausfrau und alleinerziehende Mutter einer Tochter, die Kleidung und Nahrung braucht, hat sie es eben nicht leicht.“ Als Maddie zusammenzuckte, biss er sich auf die Zunge. Was hatte er sich nur gedacht? Schnell lenkte er das Thema wieder auf ihre Wunden.

      „Ich muss die Kräuter verstärken, sonst wird die Wunde zu langsam heilen. Bist du damit einverstanden?“ Maddie zuckte mit den Schultern, also nahm er das als Zusage. Sanft legte er beide Hände über ihre Beine. Mit geschlossenen Augen murmelte er etwas vor sich hin, dass sie nicht verstehen konnte. Die Kräuter verströmten einen intensiven Duft und damit war seine Arbeit getan. Erschöpft ließ er sich schließlich neben sie auf den Boden sinken. Überlegend musterte er das Mädchen vor sich.

      „Verrätst du mir, warum du dich mit einem Mal verwandeln kannst?“

      „Ich konnte mich schon immer verwandeln.“ Flynn schüttelte den Kopf.

      „Nein, das wüsste ich.“

      Endlich schien Maddie aus ihrer starren Haltung zu erwachen. Sie schaute ihn an, musterte sein kantiges Gesicht, die kurzen blonden Haare und die hellblauen Augen, in denen sich das Licht des Mondes wiederspiegelte.

      „Du bist ein Orakel. Ich finde es im Moment einfach zu anstrengend, alles zu erklären. Zumal ich es selbst noch nicht begriffen habe.“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. Zögernd griff er danach. Sie war zart und die Haut fasste sich nicht so weich an, wie er vermutetet hatte. Ohne zu zögern öffnete sie sich ihm. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass sie mit einem Orakel arbeitete. Das machte Flynn schließlich nur noch neugieriger. Also öffnete er seinen Geist und nahm die Information auf, die Maddie ihm überlassen wollte. Sobald die Gestalt im Nebel vor seinen Augen auftauchte, sog er scharf die Luft ein. Mit klopfendem Herzen beobachtete er, wie Maddies Wunsch erfüllt wurde. Als es vorbei war und die Magie in ihm wieder abgeklungen war, sagte Maddie tonlos: „Ich habe meiner Mutter stundenlang versucht zu erklären, dass alles hier falsch ist. Sie hat mir nicht geglaubt und meine Behauptungen einfach weggelacht. So kenne ich sie nicht. Sie war immer stark. Eine Anführerin. Jetzt ist sie eine Hausfrau und eine Mutter, die sich aufopferungsvoll um mich kümmert.“ Maddie stockte. „Und meine Geschwister sind weg.“ Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter.

      „Zuerst dachte ich, dass auch meine Wölfin verschwunden ist, aber sobald es Mitternacht wurde, musste ich raus. Ich hörte ihren Ruf. Und ich weiß einfach nicht, was hier los ist.“

      „Und dann hast du mich vor dem Wolf gerettet, obwohl du keine Dominanz in dir trägst.“

      Maddie legte den Kopf schräg und sah ihm endlich in die Augen. Fahrig fuhr sie sich durch die gefärbten Haare.

      „Wenn du das so einfach siehst, dann ist es wohl aussichtslos. Ich war noch nie dominant und das vorhin war definitiv ein Spiel mit dem Feuer.“ Flynn schwieg, tief in Gedanken versunken. Er schaute nach oben und sah die Sterne an, die ihm nachts oft Trost gaben. Doch noch nie hatten sie auf seine Fragen geantwortet. Schließlich stand er auf und reichte Maddie die Hand. „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Die Wandlerin sah ihn misstrauisch an, doch dann beschloss sie wohl, dass sie nichts zu verlieren hatte. Sie nahm seine Hand und zusammen liefen sie durch den Wald. Wobei Flynn immer auf der Hut war, denn es konnte durchaus passieren, dass sie einem Wandler aus dem Daemon Rudel begegneten. Wenn man Maddie hier erwischte, dann würde man sie ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.

      „Was machen die Orakel in der Welt, aus der du kommst?“ Zuerst zuckte sie mit den Schultern, doch nach einem Seitenblick und beharrlichem Schweigen antwortete sie: „Sie sind die Hüter der Magie. Sie greifen die Fäden auf, die für andere unsichtbar sind und verknüpfen sie so, dass Blicke in die Zukunft und die Vergangenheit möglich sind. Sie verhindern, dass die Magie zu wild wird und den Lebenden schadet.“

      Flynn nickte, während er zielstrebig durch die Dunkelheit lief.

      „Außerdem besitzen sie besondere Heilkräfte. In der Gemeinschaft einer Stadt regiert das stärkste Orakel. Ihm obliegt die Sicherheit aller, sodass er das Gleichgewicht wahren muss.“

      Erstaunt blieb Flynn stehen. Maddie sprang gerade über einen umgestürzten Baumstamm, als sie seinen seltsamen Blick sah.

      „Ich nehme an, hier ist das anders?“

      Flynn wählte seine folgenden Worte mit Bedacht: „Ja. Es gibt keine Gemeinschaft, denn das Rudel führt mit eiserner Hand. Die Orakel werden bestraft, sobald sie sich zusammenschließen. Die letzte Todesstrafe gab es vor zehn Jahren, aber die Angst vor der Unberechenbarkeit hält den Käfig zusammen, in dem wir leben. Wenn sich ein Orakel gegen solch ein Leben entscheidet, wandert es aus. Doch die Familie ist meist durch Verträge an das Rudel gebunden. Sollte ein Orakel verschwinden, muss die Familie einen Blutzoll in Geld zahlen. Und das ist so viel, dass niemand den Zoll aufbringen kann. Dazu kommt, dass die Rudel weltweit vernetzt sind. Keine andere Stadt würde dem Orakel Arbeit geben. Es wäre dazu verdammt, durch kleinere Dörfer zu ziehen und von Tagelöhnen zu leben.“

      „Aber ohne eine Gemeinschaft werden die Orakel verrückt. Zumindest habe ich das in der Schule gelernt“, antwortete Maddie erstaunt.

      Flynn zuckte mit den Schultern und fuhr sich nervös durch die Haare.

      „Sind wir jetzt an dem Ort angekommen, den du mir zeigen möchtest?“ Endlich war die Lethargie aus ihrem Gesicht verschwunden, aber Flynn war sich nicht sicher, ob er die Neugierde besser fand. Noch konnte er abbrechen. Doch ein Blick in Maddies große Augen sagte ihm, dass er das nicht tun konnte. Sie hatte sein Leben gerettet und es gab einen geheimen Kodex, nachdem er ihr etwas schuldig war. So forderte es die Magie. Und hätte er durch ihre Verbindung von vorhin nicht gesehen, was sie erlebt hatte, würde er ihren Worten wohl nicht glauben. Nein, stattdessen würde er sie für verrückt halten.