Tobias Fischer

Veyron Swift und der Orden der Medusa


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oder zurück zur Schule?

      »Stopp! Da ist ein Fahrrad an dem Haus da drüben, silbergrau mit rotem Lenker. Siehst du es? Schnapp es dir«, gab ihm Veyron neue Anweisungen.

      Tom entdeckte das Fahrrad, ein altes Mountainbike. »Das ist Diebstahl«, schnappte er keuchend.

      »Unfug! Das Rad habe ich dort abstellen lassen. Los jetzt, tritt in die Pedale! Du überquerst die Straße und fährst in die entgegengesetzte Richtung.«

      Tom packte besagtes Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und tat wie Veyron ihm geheißen. Ohne nachzudenken oder hinzuschauen, jagte er quer über die Straße, wurde vom Kühlergrill seiner Verfolger nur knapp verfehlt. So schnell er konnte, radelte er die Straße zurück, wieder in Richtung Schule.

      »Bieg links ab, dann die Waldron Road runter, bis zur nächsten Kreuzung.«

      Tom musste eine Vollbremsung hinlegen, um die Kurve noch zu schaffen, seine Verfolger fuhren hinter ihm geradeaus weiter. Er hörte Reifen quietschen. Schon sauste er die Straße entlang, vorbei an eng geparkten Autos und Motorrollern. Obwohl er selbstmörderisch schnell war, trat er weiter mit aller Kraft in die Pedale. Er hörte wie sein Atem vor Anstrengung rasselte. Seine Kidnapper waren wieder dicht hinter ihm.

      »Auf den Bürgersteig, Tom, schnell!«, dröhnte Veyrons Anweisung in den Ohrstöpseln.

      Tom riss das Fahrrad zur Seite, mit einem Satz war er auf dem Bürgersteig, raste weiter die Straße entlang – vorbei an den direkt angrenzenden Hausfassaden und empörten Einwohnern, die im letzten Moment zur Seite sprangen.

      »Gleich kommt ein großes Tor, es steht offen. Dort siehst du Mr. Puttner, ein älterer Mann mit Glatze. Fahr dort hinein und auf der anderen Seite wieder raus. Wenn du ihn siehst, winke ihm mal kurz.«

      Tom glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er radelte hier um sein Leben und Veyron war zu Späßen aufgelegt? Ohne dem alten Mann, der dort tatsächlich stand, zu winken, schoss er in die große Hofeinfahrt. Im Nu befand er sich auf der anderen Seite des Grundstücks, wo ein weiteres, kleines Tor wieder auf die Straße führte. Auch dieses stand offen. Seine Verfolger schien er abgehängt zu haben.

      »Du hättest ihm wirklich winken sollen. Das war sehr unhöflich von dir«, beschwerte sich Veyrons Stimme. Tom stieß einen lauten Fluch aus.

      »Schön, dann eben nicht. Du bist jetzt in der Crown Street, fahr sie rauf bis zum Kreisverkehr, wo sie mit der Weststreet zusammentrifft. Sie sind wieder hinter dir! Gib Gas!«

      Tom warf einen Blick zurück. Schon tauchte der schwarze Jaguar in seinem Blickfeld auf und beschleunigte. Tom stieg in die Pedale, spürte wie sich all seine Muskeln zu verkrampfen begannen. Er fürchtete schon, er würde jeden Moment zusammenbrechen. Aber die Furcht um sein Leben, verlieh ihm schier übermenschliche Kräfte. Wie eine Rakete jagte er die Straße entlang, selbst ein Rennradprofi wäre beeindruckt gewesen.

      Tom achtete gar nicht auf die Menschen, die ihm auf dem Bürgersteig hinterher starrten. Er ignorierte auch die alte Lady, die vor ihm mit ihrem Rollator am Straßenrand stand. Es war ein altes, krummes Hausmütterchen mit Kopftuch und selbstgestrickter Jacke. Gerade wollte sie die Straße überqueren. Erschrocken sprang sie mit einem gellenden Aufschrei zurück – in letzter Sekunde. Tom wäre fast mit ihr zusammengeprallt.

      »Ihr jungen Rowdies!«, hörte er sie wütend schimpfen. Tom wollte sie gerade verfluchen und drehte leicht den Kopf nach hinten. Die Alte schob ihren Rollator auf die Straße. Er hielt die Luft an. Der schwarze Jaguar kam mit brüllendem Motor herangeschossen. Reifen quietschten, ein gellender Aufschrei folgte.

      Der Aufprall war entsetzlich, ein Knall wie bei einer Explosion. Der Rollator, oder besser gesagt, seine Einzelteile, flogen in alle Richtungen davon. Der Jaguar kam zwanzig Meter weiter zum Stehen, der linke Scheinwerfer kaputt, der Kotflügel eingedrückt, die Windschutzscheibe gesprungen. Von der alten Lady war nichts mehr zu sehen.

      »Mein Gott, sie haben sie umgebracht! Sie haben sie einfach über den Haufen gefahren«, schrie Tom schockiert.

      Dies wurde wohl gerade auch den beiden Fahrern bewusst. Er sah sie fluchend und wild gestikulierend streiten. Dann öffnete der Fahrer die Tür, um auszusteigen. Tom glaubte zu sehen, wie er unter sein schwarzes Sakko griff – zweifellos um dort eine Pistole herauszuziehen.

      Auf einmal stand die alte Lady in der Tür, in der Hand eine Spraydose. Noch ehe der verblüffte Fahrer reagieren konnte, verpasste sie ihm eine Ladung Reizgas mitten ins Gesicht. Das schmerzerfüllte Gebrüll des Mannes ließ Tom regelrecht zusammenfahren. Der Typ krallte sich mit beiden Händen ins Gesicht, warf sich heulend hin und her, stürzte aus dem Fahrzeug. Der Beifahrer zog fluchend seine Waffe, doch die Lady war schon wieder verschwunden.

      Tom wollte sich die Augen reiben, er verstand nicht, was da überhaupt geschah. Plötzlich war die alte Schachtel wieder da, diesmal auf der anderen Seite des Wagens. Sie riss die Tür auf, packte den Waffenarm des Beifahrers, drehte ihn mit einem schaurigen Knacken herum, entwand dem Mann die Waffe. Sie zog den brüllenden Mistkerl aus dem Wagen und hieb ihm den Kopf heftig gegen das Wagendach. Ohne weiteren Widerstand brach der Mann zusammen. Wie aus dem Nichts hielt die Lady plötzlich zwei Handschellen in der Hand, fesselte dem Mann die Arme an seine Beinknöchel; überkreuz. Danach huschte sie blitzschnell um das Auto herum und verfuhr mit dem Boden liegenden, vor Schmerz heulenden Fahrer genauso. Sie zog den Mann hoch und stieß ihn hinüber zu seinem bewusstlosen Kameraden.

      Tom hörte bereits Polizeisirenen und das prägnante Heulen eines Krankenwagen. Die alte Lady, die gerade zwei gemeingefährliche Verbrecher ausgeschaltet hatte, kümmerte das nicht weiter. Sie setzte sich hinter das Steuer des Jaguars, machte die Türen zu und fuhr los. War das zu fassen? Die Alte klaute gerade das Auto der Schurken!

      »Ich glaub, ich bin im falschen Film«, japste Tom fassungslos.

      Der Wagen hielt neben ihm, die Lady öffnete die Beifahrertür.

      »Einsteigen, junger Mann, sonst gibt’s den Hosenboden voll!«, krächzte sie ihn herrisch an. Tom fielen fast die Augen aus dem Kopf.

      Unter dem albernen, violetten Lidschatten und dem knallroten Lippenstift, weiß geschminkt, übersät mit Altersflecken und der zottligen grauen Perücke, hätte er sie fast gar nicht erkannt.

      Die wehrhafte Dame war niemand anderes als sein Patenonkel, Veyron Swift!

      Tom sprang sofort ins Auto, schnallte sich an und Veyron fuhr los.

      »Was ist da eben passiert? Was soll das alles? Warum sind Sie als Großmutter verkleidet«, fragte Tom. »Was wollten diese Typen überhaupt von mir?«

      »Von dir? Gar nichts. Sie wollten etwas von mir. Wegen Prinzessin Iulia. Ich sagte ja bereits, dass sich die junge Dame in Gefahr befindet. Ich fürchte, wir wurden in diese Sache gegen unseren Willen hineingezogen. Aber ich habe alles genauestes geplant«, erklärte Veyron. Tom schaute durch die Heckscheibe hinaus. Zahlreiche Passanten hatten sich nun um die ausgeschalteten Kidnapper versammelt, Polizei und Krankenwagen waren auch schon da. Veyron bog in eine Seitenstraße ab.

      »Gregsons Männer. Zum ersten Mal pünktlich. Der Mann macht sich noch«, sagte er und beschleunigte.

      »Wo wollen Sie überhaupt hin?«, wollte Tom wissen.

      »Nach Elderwelt. Aber jetzt müssen wir erst einmal Willkins abholen. Die Sache ist noch nicht gänzlich ausgestanden, Tom.«

      Zwanzig Minuten später hielten sie vor 270b Reigate Street. Tom und Veyron stiegen aus und klingelten. Willkins ließ die beiden ein. Mit dem Lift fuhren sie hoch in den vierten Stock, wo Jane sie bereits erwartete. Sie trug wieder nur Jeans und Bluse, an den Füßen Turnschuhe. Neben ihr stand ein mächtig bepackter Rucksack, an dem ein Paar Bergschuhe und eine dicke Jacke baumelten. Jane fiel die Kinnlade nach unten, als sie Veyron in seinem Großmutter-Aufzug erkannte. Sie begann zu lachen, wundervoll hell und befreit.

      »Wollen Sie kleine Kinder erschrecken? Halloween ist doch erst in drei Wochen«, kicherte sie.

      Veyron zog sich die staubige Perücke vom Kopf, warf sie ihr entgegen. Sie fing sie auf und