Dagmar Isabell Schmidbauer

Marionette des Teufels


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bin ich mir nicht ganz sicher.“

      „Und wie oft kam er?“

      „Also, das muss im Sommer gewesen sein. Ich meine, ich überwache ja nachts nicht das Treppenhaus. Aber im August war es so heiß und da konnte ich nicht schlafen, und eines Nachts hörte ich auf der Treppe Schritte und hab dann vorsichtig den Vorhang an der Wohnungstür zur Seite geschoben um zu sehen, wer draußen ist.“

      „Würden Sie den Mann wiedererkennen?“ Hannes begann weiter zu hoffen.

      „Nein, nein, ich glaube nicht. Er ging ja im Dunklen hinauf und irgendwie sah er zur Wand.“ Agnes Neumüller stutzte. „Meinen Sie, er hat gewusst, dass ich ihn sehe, und hat deshalb zur Wand gesehen?“ Hannes zuckte die Schultern.

      „Meinen Sie, das war ihr Mörder?“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich beide Hände aufs Herz legte. Es dauerte eine Weile, bis sie und ihr Atem sich wieder beruhigt hatten.

      „Auf jeden Fall hat er sich gut im Haus ausgekannt.“

      „Und Frau Weberknecht hat ihn erwartet?“

      „Zumindest hatte er einen Schlüssel.“

      „Das ist ja interessant.“

      „Hilft Ihnen das weiter?“

      Hannes überlegte. Nein, eigentlich nicht, nicht wenn sie ihm keine Beschreibung geben konnte. Aber immerhin wusste er jetzt, dass jemand einen Schlüssel zu Sophias Wohnung hatte und häufiger in der Nacht zu Besuch kam. Vielleicht tatsächlich der Mörder?

      „Ja, wenn Ihnen doch noch etwas zu diesem Besuch einfällt, würden Sie mich dann bitte anrufen?“ Er legte eine Karte mit seiner Durchwahl auf ihren Kaffeetisch. Sie war druckfrisch.

      „Aber natürlich, Herr Kommissar, das mach ich doch gerne.“

      „Na, dann will ich mal unten mein Glück versuchen, bei …“, er schaute auf seinen Block.

      „Der Herr Brandner ist verreist. Schon die ganze Woche.“

      „Wissen Sie, wann er wieder kommt?“

      „Das weiß man bei ihm nie. Er fährt immer wieder für längere Zeit zu seinen Kindern und Enkeln. Aber ich kann Sie ja anrufen, wenn er wieder da ist?“

      „Das wäre sehr nett von Ihnen.“

      ***

      Sichtlich verlegen stand Hauptkommissar Berthold Brauser vor der Wäschekommode im Schlafzimmer der Toten. Er hatte die oberste Schublade geöffnet und hielt nun zarte, viel zu klein wirkende Wäscheteilchen in seinen rauen Händen. Sie waren schwarz, grau, lila und champagnerfarben. Die Spitze war weich, der Satin kühl und glatt, die Seide voller Leben.

      Kurz sah er zum Bett, aber die Tote war inzwischen auf dem Weg in die Rechtsmedizin nach München.

      Während er nun so da stand, dachte er an Maria. Solange er mit ihr zusammen war, trug sie weiße Baumwollschlüpfer. Achtunddreißig Jahre lang. Und es war immer schön gewesen, wenn er sie ihr ausgezogen hatte. Früher und auch später noch.

      Nun hielt er diese Teilchen in den Händen und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit so etwas ausgesehen hätte, damals, mit den langen blonden Haaren, ihrem strahlenden Lächeln, als man sie für alles hatte begeistern können. Brauser überkam in Erinnerung ein sanftes, längst vergessenes Gefühl einer heiß brennenden Liebe. Ach, seine Maria!

      Was hatten sie nicht alles erlebt. Sie beide und die Vespa, mit der sie durch die Landschaft gefahren waren. Gemeinsam hatten sie ihre Jugend genossen und alles, was neu und schön war. Maria trug duftige Blumenkleider und er hatte die Haare zurückgekämmt. Schwarz wie das Gummi der Reifen waren sie gewesen. Mit einer schnellen Bewegung fuhr er sich durchs Haar und stöhnte. Sein Kopf schmerzte.

      Für einen Moment schloss er die Augen und legte dann die Sachen zurück in die Schublade, um als Nächstes den Kleiderschrank zu öffnen. Dunkle Hosen, weiße Blusen, edle Kaschmirpullis, ein braunes Kleid mit geometrischen Motiven und einem braunen Satingürtel. Brauser nahm es heraus und sah es lange an, bevor er es zurückhängte. Am Boden standen sauber geputzte Schuhe mit hohen Absätzen und zierlichen Riemchen für den Sommer und einige Paar Stiefel für den Winter. Er ging ins Wohnzimmer. Annemarie und ihre Truppe waren gegangen und sie hatten noch immer nichts gefunden, deshalb würden sie wiederkommen müssen. Brauser trug jetzt brav seine Latexhandschuhe. Er brauchte in seinem Zustand nicht noch einen Rüffel von Annemarie.

      Neben unzähligen Büchern und CDs saßen Engel im Regal: Unschuldsengel, Weihnachtsengel, Schutzengel? Lieblich, kitschig, fromm und am Ende erfolglos, dachte er, nachdem er einen nach dem anderen in die Hand genommen und wieder an seinen Platz gestellt hatte. Im unteren Bereich stand eine aus verschiedenen Bausteinen ordentlich aufeinandergesetzte Stereoanlage und daneben, in einem Ständer aus Chrom, Opern aller Art, Klassik, aber auch Jazz. In zwei Ecken die dazugehörenden Lautsprecher, für den Geschmack des Kommissars ziemlich dominant. Der zierliche Sekretär im Fenstererker war ordentlich aufgeräumt. Neben mehreren Stapeln Notenmaterials befanden sich in einer Ablage ein paar Rechnungen. Brauser blätterte sie durch: Kleidung, Lebensmittel, Tankrechnungen – nichts Besonderes. Ein Notizblock, ein örtliches Telefonbuch, eine Zeitung von Mittwoch und ein paar Stifte; nichts, was ihn interessierte.

      Er spürte, wie der brennende Schmerz in seinen Fußballen zunahm. Zu viel Harnsäure, hatte ihm der Arzt erklärt. Das komme vom Alkohol. Brauser wusste, dass es bald schlimmer wurde. Er brauchte dringend einen Schnaps.

      Viel Auswahl gab es hier nicht, nur etwas süßen Schoko-Sahne-Likör, einen halbvollen Williams Christ und einen Kräuterschnaps, den er dann schließlich wählte. Einen kleinen nur, denn noch war er im Dienst. Aber es gab Einsätze, bei denen musste man auf die Regeln pfeifen und im Grunde, was sollte ihm jetzt noch passieren? In sechs Wochen ging er in Pension. Danach war es ohnehin vorbei mit den Regeln und allem, was seinem Leben einen Sinn und Rahmen gegeben hatte. Oder war es nicht jetzt schon vorbei? Neben dem Regal stand ein Holzständer mit einer Geige. Ein sehr schönes Instrument, das wunderbar in der Hand lag. Er nahm den Bogen in die rechte Hand und tat so, als könne er spielen. Schade, er hatte nie Zeit gefunden, ein Instrument zu lernen und für so etwas Teures hatte man bei Brausers auch kein Geld gehabt. Seine Eltern hatten viele Mäuler zu stopfen, denn sie waren zu Hause zu acht gewesen.

      Vorsichtig, wie es sich für einen Laien gehörte, legte er alles wieder an seinen Platz zurück.

      Nach einem zweiten Schnaps nahm er eines der Fotoalben aus dem Regal, setzte sich auf die vordere Sofakante und begann die Seiten durchzublättern. Sophia an der Ballettstange mit Haarknoten und mit Zahnlücke beim schüchternen Lächeln zwischen Mama und Papa sitzend. Er im dunklen Anzug, sie im Kostüm. Alles sehr schick, sehr gediegen, sehr stolz. Ein Mädchen aus gutem Hause also. Prost! Brauser stand vom Sofa auf, trank einen dritten und allerletzten Schnaps und stellte Flasche und Album ins Regal zurück. An der Wand hingen gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigten die Sängerin in ihren verschiedenen Rollen: als Heldin, Geliebte, Göttin. Ein Engel im Licht der Scheinwerfer, festgehalten in einem Augenblick, gemacht für die Ewigkeit.

      Der Kommissar hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen, sodass er den Alkohol spürte, der ihn ein wenig versöhnlich stimmte und den Schmerz in seinen Füßen betäubte. Doch vor seinem inneren Auge war alles längst zu einem grauen, bleischweren Nebel geworden. Es gab keine Facetten mehr, keine Farbe und kaum Licht. Es gab nur noch diesen Schatten, der alles verschlang und auf einmal fragte er sich, was er hier überhaupt machte. Das hier konnte nicht sein Fall werden! Wie sollte er ihn auch lösen? Ihm blieb einfach nicht mehr genug Zeit dafür. Der Kommissar drehte eine letzte Runde durch die Wohnung. Er hätte gerne noch einen Schnaps getrunken, aber das kam nicht infrage. Energisch schaltete er das Licht aus. Es war höchste Zeit für ihn.

      ***

      „Berthold, jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ Oberstaatsanwalt Dr. Dieter Schwertfeger schlug nach Brausers Bericht einen freundschaftlich strengen Ton an. „Wer außer dir kann den Fall denn lösen?“

      „Das überlasse ich dir!“ Brauser lehnte sich in dem gemütlichen