Hans-Jürgen Kampe

Vatter - es passt schon


Скачать книгу

sondern sich erdreistet hatte, zu bremsen, sodass der Wissenschaftler ebenfalls nicht mehr über die Ampel, sondern vier Minuten zu spät zum Mittagessen nach Hause kam, konnte ein Lied von der Tobsucht des Strafrechtlers singen. Sie rettete in letzter Sekunde der Verschlussknopf an der Tür ihres „Käfers“, die der Erzürnte aufreißen wollte, um die „total unfähige“ Fahrerin vom Lenkrad zu entfernen. Der prügelnde Welfenprinz Ernst August war dagegen ein Musterknabe an selbstbeherrschter Zurückhaltung.

      Deswegen schaute Anton sehr betreten nach unten, als er an der Lehrkraft vorbei auf einen der hinteren, noch freien Plätze schlich. Im Vorlesungssaal nahm Anton wieder den betäubenden Geruch nach Bohnerwachs, abgestandener Luft und saurem Angstschweiß vor Professor Fuchs wahr. Er hatte sowieso keinen guten Stand bei Professor Fuchs, denn die Ergebnisse seiner letzten Strafrechtsklausur waren „serbisch“, sehr beschissen.

      Wie jeden Morgen holte der Professor seine Taschenuhr aus der Westentasche, schaute missmutig auf das Ziffernblatt und verschloss um Punkt neun Uhr fünfzehn, cum tempore, die Tür des Vorlesungssaales. Kein/e Student/in kam ab jetzt mehr in den Saal und keiner kam mehr raus. Auch die Fenster mussten geschlossen bleiben. Nichts durfte die geistigen Ergüsse des Professors stören. Lutscher grinste seinen Freund fünf Reihen unterhalb wissend an. Anton musste jetzt schon austreten.

      2

      „Salve Studiosi“, begrüßte Wotan Fuchs wie üblich die fast zweihundert Studenten vom Katheder, die teils mit über­müdeten Augen auf ihren Laptop oder auf den Bildschirm hinter dem Professor starrten. In der ersten Reihe saßen die üblichen „Verdächtigen“, die „Speichellecker“, die mög­lichst nah bei der Lehrkraft ein Gesichtsbad nehmen wollten. In der Mitte, nur zwei Meter vom Pult entfernt, hatten Olaf, das „Fressbrett“ und Berti, der „Käse“, ihren Stammplatz belegt. Beide hatten bereits schon gegen halb neun vor der grauen Doppeltür des L 100 rumgelungert, um dem Strafrechtler möglichst nahe zu kommen.

      Olaf wurde von den meisten Kommilitonen nur als „Fressbrett“ bezeichnet, weil seine Unterlippe unnatürlich groß war und sehr weit nach vorne hing. Und Bertis Teint und sein Körpergeruch erinnerten alle an einen überreifen französischen Brie. Beide hätten als Bekannte bei Anton und Lutscher niemals landen können, wenn sie nicht Mitglied in einer der wenigen Verbindungen gewesen wären, die Anton und sein Freund noch nicht zum kostenlosen Abendessen beehrt hatten.

      Für heute Abend hatte Olaf die beiden zu einer fröhlichen „Kneipe“ mit Offizium und Inoffizium eingeladen. Will heißen, nach dem Abendessen sollte sich höchst akade­misch zugedröhnt werden.

      Während Herr Fuchs alle nur denkbaren Straftaten bei Vorsatz, bedingtem Vorsatz, Fahrlässigkeit und Unterlassen erläuterte, ruhte sein Blick wohlwollend auf dem „Fressbrett“.

      Denn Wotan Fuchs war „Alter Herr“ in Olafs und Bertis schlagender Verbindung „Rheumania“ und bemerkte mitfühlend und begeistert das große Pflaster auf Olafs linker Wange. Gestern Abend war „Mensur“ Nacht. Ein Fechten von Studenten aus unterschiedlichen Verbindungen mit messerscharf geschliffenen Klingen. Der Höhepunkt von Olafs und Bertis monatelangen Paukübungen mit stumpfen Waffen.

      Obwohl die Probanden an Körper, Hals und Kopf ge­schützt waren, blieb doch sehr bewusst der Wangenbereich frei, um den Klingen wenigstens eine kleine Möglichkeit zu eröffnen, den Gegner mit einem gekonnten Nachfedern des Schlägers im Gesicht zu zeichnen. Berti hatte sehr viel Pech und überstand alle zwanzig Gänge der Mensur leider unverletzt. Ein schöner breiter Schmiss, möglichst tiefrot durchblutet, hätte seinem quarkähnlichem Aussehen erst die richtige Note gegeben. Berti hatte sich deshalb gleich für die nächste „Mensur“ Nacht eintragen lassen.

      Olaf befürchtete schon, dass ihn das gleiche herbe Schicksal wie Berti ereilen würde und er ohne akademische Aus­zeichnung das Lokal verlassen müsste. Gott sei Dank senkte Olaf bei der letzten Quart der zwanzig Fechtgänge etwas zu früh den Schläger, sodass die Spitze der gegnerischen Waffe tief in Olafs Wange drang. Sofort sprangen die beiden Sekundanten dazwischen. Nach einem kurzen Moment hatte Olaf den ersten Schock schnell überwunden und bemerkte stolz, wie sein Blut in den Kragen sickerte. Um den anderen Burschenschaftlern eine kleine Freude zu machen, drückte der Gezeichnete seine Zunge durch die offene Wunde und winkte mit der Zungen­spitze durch die Wange. Herzlicher Applaus und allseits Begeisterung für diese gelungene Einlage. „Das gibt einen richtig schönen Schmiss“, motivierte ihn der Paukarzt.

      Olaf wurde zu einem Schemel geführt, und der Paukarzt holte seinen Koffer. Berti organisierte etwas neidisch eine Flasche Cognac und goss seinem Freund ein Wasserglas ein. Ex und hopp, und schon hielten die beiden Sekundanten den Gezeichneten ganz fest. Ohne Betäubung zog der Arzt dem stolzen Fechtbruder die gebogene Nadel mit blauem Faden durch die Wange und nähte die Wunde mit acht derben Knoten gekonnt zu. Dafür durfte Olaf mit Tränen in den Augen ein zweites Glas Cognac leeren.

      Am nächsten Morgen hatte Olaf von der Wunde und vom Cognac einen pochenden Kopf. Die Wunde klopfte auch insofern wie ein Kupferhammer, weil der Gezeichnete gestern nach dem Nähen noch den Wunsch geäußert hatte, den Schmiss mit Bier zu spülen und mit Salz zu bestreuen. Einem Gerücht unter Burschenschaftlern zufolge sollte diese Spezialbehandlung den Schmiss erst so richtig zum Blühen bringen und den Betroffenen zu allen Lebzeiten als standesgemäßen Mensur Schläger kennzeichnen.

      Professor Fuchs war das Ergebnis der Mensur Nacht nicht entgangen. Schon deshalb wählte er Olaf und Berti gern aus, ihn diese Woche in die „Sonne“ am Marktplatz zu begleiten. Denn einmal die Woche lud der streitbare Wissenschaftler zwei schleimende Studenten aus der ersten Reihe zum Mittagessen in das alte Restaurant ein, um sich in einer wissenschaftlichen „Disputation“ seine fachlichen und didaktischen Qualitäten von zwei Speichelleckern bestätigen zu lassen.

      Olaf konnte heute das Mittagessen leider nicht richtig genießen, denn er konnte nicht kauen und auch nicht ausdrucksstark sprechen. Deshalb musste er zu seinem Bedauern die sehr einseitige Konversation Berti überlassen und konzentrierte sich eine Stunde auf die Vorsuppe. Eine klare Brühe, die ihm immer wieder über das Kinn lief.

      Um kurz nach neunzehn Uhr klingelten Anton und Lutscher an der gewaltigen Doppeltür des großen Ver­bindungshauses unterhalb des Marburger Schlosses. Die pompöse Sandsteinvilla wirkte mit ihrem Turm und den zwei Fachwerkerkern selber wie ein kleines Schloss und stammte aus den seligen Zeiten, als Kaiser Wilhelm noch das Land regierte.

      Berti hatte angedeutet, man würde ein weißes Hemd und einen gedeckten Schlips erwarten. Am besten in Grün oder Blau, den Farben der Rheumania. Außerdem wäre ein blaues, graues oder schwarzes Jackett angenehm. Jeans gingen gar nicht, auch keine Turnschuhe. Aber Lederschuhe wären gern gesehen.

      All solche Sachen hatten die beiden angehenden Juristen nicht in Marburg im Schrank. Es hatte beide den ganzen Nachmittag gekostet, bis sie nach endlosen Telefonaten, Whatsapps und persönlichem Betteln bei Freunden die gewünschte Kleidung leihen konnten. Allerdings nicht ganz in der benötigten Größe.

      Bei Lutscher hörte die viel zu weite Hose fünf Zentimeter über den drückenden Schuhen auf, und das blaue Jackett hing ihm wie ein Poncho über den Schultern. In dem viel zu großen Hemd, dessen Ärmel Lutscher über die Hände rutschten, hatte sein dünner Hals noch jede Menge Spiel. Anton wiederum bekam sein weißes Hemd nicht zu und konnte die graue Jacke nicht schließen. Am bequemsten wäre es gewesen, wenn er das Jackett lässig nur über den Arm geworfen hätte. Seine schwarze Hose in Überlänge hatte er mit vier Sicherheitsnadeln unten umgesteckt, damit er mit den braunen Halbschuhen, in denen seine zu kleinen Füße kaum einen Halt fanden, halbwegs laufen konnte. Beide sahen aus, als wären sie gerade aus einer russischen Clown Schule geflüchtet.

      Über dem wuchtigen Eingangsportal des Verbindungs­hauses protzte das Motto der Rheumania tief in Sandstein eingemeißelt.

      „Nihil vocatus et non solution“

      Lutscher hatte das mal gegoogelt. Frei übersetzt hieß es: „Kein Alkohol ist auch keine Lösung“. Das versprach ja heiter zu werden. Ein „Fuchs“, ein dienender Frischling in der Verbindung, öffnete mit einem korrekten Diener und führte die beiden Gäste in die große Eingangshalle. In den Ecken waren zwei Ritterrüstungen