Hans-Jürgen Kampe

Vatter - es passt schon


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sodass Lutscher, der im Nachbarzimmer hauste, der Meinung war, jede offene Bushaltestelle in Jakutsk wäre im Januar noch gemütlicher, als Antons Zimmer.

      Oft genug weigerte sich der Jurastudent, sein Zimmer halbwegs warm zu halten. Denn die einzige Heizquelle war ein steinalter Ölofen der Marke Degussa, den Anton mit einer Kanne regelmäßig befüllen musste. Entsprechend stanken seine Haare, seine Haut und seine Kleidung das gesamte Wintersemester nach Heizöl, sodass Anton nur wenig Lust hatte, die vier Stockwerke in den Keller runter und wieder hoch zu steigen. Erst wenn die Eisblumen jeden Blick nach draußen versperrten und kaum noch Tageslicht ins Zimmer drang, bequemte sich Anton, eines der drei Fässer im Keller anzuzapfen, die dort unter Missachtung jeglicher Umwelt- und Brandschutzauflagen auf dem uralten Lehmboden standen.

      Und wenn Anton den Ofen aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts doch benutzte, konnte es schnell passieren, dass eine Verstopfung in der Leitung jegliches Heizen verhinderte. Von seinem Vermieter kam dann immer nur die gleiche Antwort: „Ich schicke Ihnen einen Spezialisten vorbei“.

      In den nächsten Tagen hörte Anton dann irgendwann am frühen Abend ein heftiges Trampeln, Keuchen und Schnaufen im Treppenhaus, als käme eine Dampflok nach oben.

      Gregori, der „Spezialist“ wuchtete seine drei Zentner die alte Holztreppe bis ins Dach. In der linken Hand trug der Deutschrusse das einzige Werkzeug, das er hatte: eine ge­kürzte Dachlatte. Mit der stocherte Gregori heftig in der Brennkammer, trat zweimal mit den verstärkten Kappen seiner Arbeitsschuhe roh an den scheppernden Ofen, bis das Öl vor lauter Erschütterungen wieder floss.

      Der einzige Satz, den der Dicke nach dem dritten Deutschkurs relativ flüssig in Deutsch sprechen konnte, lautete: „Host`n Schnops?“ Letzten Endes war das keine Frage, sondern eine Aufforderung, denn Gregori hatte sein Leben bereits vor langer Zeit dem Alkohol geweiht.

      Deshalb hatte sich Anton auch für die Besuche des gewichtigen „Spezialisten“ in einem Billigdiscounter eine Literflasche des billigsten Korns zugelegt, von dem Gregori nach jedem Besuch ein Wasserglas runterstürzte, bevor er mit Getöse die zitternde Holztreppe wieder nach unten stapfte.

      Nur - es konnte passieren, dass nach einer Behandlung durch den „Spezialisten“ viel zu viel und zu schnell Öl in die Brennkammer floss, sodass die gusseisernen Platten rot glühten und sich Anton ängstlich überlegte, auf welchem Fluchtweg er die vier Stockwerke nach unten kommen könnte. Also blieb der Ofen lieber aus.

      Seit Anton eine feste Freundin hatte, versuchte er noch weiter zu sparen, denn er wollte Frida, der Politik- und Pädagogikstudentin aus dem Norddeutschen, ja ab und zu auch etwas bieten.

      Also änderte Anton zwangsweise seine Essgewohnheiten. Er gönnte sich nur noch dreimal die Woche das billigste Stammessen in der Mensa. Zum Beispiel durchgekochte, rosa Labskaus mit Gurke, Linsensuppe oder auch mal ein Spiegelei mit Bratkartoffeln. Ansonsten bestand sein Mittagessen aus einem der großen Mohnstriezel in der Mensa, die nur die Hälfte des Stammessens kosteten, dafür aber den Blutzuckerspiegel schön nach oben trieben.

      All das reichte aber nicht, um seine Freundin, die selber auch knapsen musste, ab und zu mal ins Kino oder zum Billardspielen einschließlich Getränk einzuladen.

      Also suchte Anton krampfhaft nach weiteren Quellen, um zu sparen. Nicht nur, dass er festgestellt hatte, wie er bei Konzerten in der Marburger Stadthalle durch den Be­diensteten Eingang ohne zu zahlen zu einem Kulturerlebnis kam. Wobei ihn ja meistens die Konzerte, in die er sich einschleichen konnte, noch nicht mal sonderlich interes­sierten. Aber egal - es war kostenlos, und da nahm Anton auch schon mal eine Schlagerparade von abgehalfterten „Stars“ aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Kauf.

      Lutscher hatte ihm zudem vorgeschwärmt, dass man durch Blutspenden auch zu einer monatlichen Mehreinnahme ohne großen Aufwand kommen konnte. „Man könne ja auch noch ganz andere Sachen in der Uni Klinik von sich spenden, was sogar sehr angenehm sein kann“, war Lutschers Überlegung, sein selbstloses Angebot an Körper­säften noch zu diversifizieren.

      Zu beiden Möglichkeiten, sich kurzzeitig zu schwächen, hatte Anton aber keine Lust, denn er hatte noch eine weitere Möglichkeit entdeckt, wie er beim Essen weiter sparen konnte.

      In Marburg gibt es, wie in allen anderen Universitätsstädten auch, zahlreiche studentische Verbindungen. Und die hatten laufend Nachwuchssorgen. Also wurden die „Frischlinge“ an der Uni mit Handzetteln, Mailings und durch persönliche Ansprachen von „Füchsen“, den Einsteigern bei Ver­bindungen, eingeladen, das gesellige Leben der Korps­studenten kennenzulernen. Und dann möglichst auch Mitglied zu werden.

      Aber vorher durften sich die neuen Studenten als Gäste abends in den großen Verbindungshäusern so richtig den Bauch vollschlagen. Und damit die Leber nicht ver­trocknete, gab es Bier bis zum Abwinken.

      Auf diese Weise hatten Anton und Lutscher schon diverse Abendessen kostenlos genossen, teilweise sogar mit Be­dienung. Aber beide hatten immer dem wachsenden Druck standgehalten, in eine der Verbindungen einzutreten. Wenn die Erwartung an eine Mitgliedschaft zu groß wurde, wechselten die beiden schnellsten als nicht zahlende, aber anfangs willkommene Gäste in ein anderes Verbindungs­haus.

      Heute Morgen hatte Anton auf seiner dreiteiligen Matratze verschlafen. Gestern Abend war es bei der „Fidelia“, einer schlagenden Verbindung, wieder hoch her gegangen und sehr spät geworden. Der Jurastudent sprang aus dem Bett, wusch sich sehr flüchtig an dem Fünf Liter Boiler auf dem Gang, sparte sich den Gang auf die nur achtzig Zentimeter breite Toilette, schnappte sich zuerst hektisch seine Unter­lagen und dann den alten grünen Parka, der schon in der Ecke stehen konnte und rannte die Barfüßerstraße zwischen den restaurierten Fachwerkhäusern runter. Sein Ziel war das „Landgrafenhaus“, in dem seit über hundert Jahren tausende Studenten mit öffentlichen und zivilen Rechts­fragen gelangweilt wurden.

      Als er keuchend vor der Tür des großen Vorlesungssaals L 100 angekommen war, hörte Anton schon, wie von innen ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde. Hastig riss Anton die Tür auf und stand Auge um Auge Professor Fuchs gegenüber. Grauer Anzug mit Weste, Fliege auf weißem Hemd mit verblichenem Kragen, graue Haare und bereits jetzt schon ein hochrotes Gesicht, das auf eine gewisse Reizbarkeit schließen ließ.

      Professor Fuchs las Strafrecht, dessen Auswirkungen er durch Überschreitungen der Gesetze regelmäßig bei Selbst­versuchen zu spüren bekam.

      Denn Wotan Ignaz Egon Fuchs war ein ausgemachter Choleriker vor dem Herrn. Der Pate des kleinen Egon hatte auf dem zusätzlichen Namen Wotan bestanden, weil das Baby bereits in seinen ersten Lebenstagen extreme Schrei­krämpfe und plötzlich auftretende, nicht zu bremsende Wutanfälle zeigte. Egons Mutter hatte zwar immer be­schwichtigt: „das sind nur Blähungen“, oder „das verwächst sich noch“. Aber als der erste Zahn kam und das Kleinkind aus purer Bosheit seine Mutter heftig beim Stillen gebissen hatte, stimmte sie resigniert dem Namen des germanischen Kriegsgottes zu.

      Der Kleine blieb hochcholerisch.

      Aus Sicht der meisten Studenten war der Professor, der kurz vor der Emeritierung stand, ein Fall für die „Klapsmühle“. Und ein klassisches Beispiel für die Anwendung des Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches.

      „Schuldunfähigkeit aufgrund Unzurechnungsfähigkeit wegen Alkoholgenuss“.

      Fast wöchentlich stürmte der Professor ins Foyer des Landgrafen- oder des Savigny Hauses und riss wutentbrannt die Büchertische der Studenten um. Am Anfang waren die Tische der Marxisten, Leninisten, Spartakisten, oder der Maoisten das Ziel seiner Attacken. Auf die Farbe Rot reagierte der Professor wie ein spanischer Kampfstier in der Arena. Später hatte sich der Choleriker auch auf Grün eingeschossen und rammte die Tische der strickenden Vertreter der Umweltbewegung. Seit Neuesten verschmähte er noch nicht einmal die Farbe Gelb, der liberalen Gattung, und sogar der Tisch der Schwarzen, des Rings Christlich Demokratischer Studenten, flog in seltener Einigkeit mit den anderen Fraktionen durch den Flur.

      Weitere, bei den Studenten immer wieder gern erzählte Beispiele seines Jähzorns, waren das Eintreten einer Tür des Stadtbusses, weil der Fahrer nicht da hielt, wo der Herr Professor gerade mal aussteigen wollte. Oder das hilflose Zusammensacken