Thomas Niggenaber

Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs


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Ausdruck. Das Mannsbild hatte vermutlich soeben mehr Worte von sich gegeben als in seinem gesamten bisherigen Leben. Üblicherweise beschränkten sich die Äußerungen der Haustiere auf rudimentäre Satzgebilde wie »Habe Hunger!«, »Will schlafen!« oder »Nicht hauen!«. Zudem hatte sie noch nicht einmal die Hälfte dieser komplizierten und in ihren Ohren frei erfunden klingenden Wortgebilde verstanden.

      All das ließ sie schlussfolgern, dass dieses Männchen krank war und sie es vielleicht doch besser von seinen Qualen erlösen sollte. Vorher wollte sie aber noch mal nachschauen, ob es auch äußerliche Anzeichen einer Erkrankung an ihm gab.

      Vorsichtig, allzeit bereit, den Pfeil auf ihrem Bogen seiner tödlichen Bestimmung zuzuführen, trat sie nahe an den vermeintlich Kranken heran. Mit dessen Dreistigkeit und Respektlosigkeit hatte sie jedoch nicht gerechnet.

      Sein rechtes Bein schoss empor und traf ihre linke Schulter, sodass ihr Bogen zur Seite gedrückt wurde. Aufgrund der Erschütterung entwand sich die Sehne ihrem Griff und ihr Schuss löste sich. Nur um wenige Zentimeter verfehlte der Pfeil den blonden Burschen, der daraufhin mit einem Hechtsprung im Gebüsch verschwand.

      Wieder stieß Tissha ein paar Flüche aus, die selbst eine Hafendirne in Schockstarre versetzt hätten. Dabei rieb sie sich ihre schmerzende Schulter. Krank hin, krank her – dieser Kerl malträtierte ihren zarten Geduldsfaden weit mehr, als es seiner Gesundheit zuträglich war. Ihn für sein ungebührliches Verhalten büßen zu lassen und seinen Kadaver als abschreckendes Beispiel vor den anderen Haustieren zu präsentieren, dieser Gedanke gewann für sie zunehmend an Attraktivität.

      Sie nahm einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher und sondierte die Umgebung. Dieser Urwald war ihr wohlbekannt, weshalb es ihr auch schnell bewusst wurde, wohin der weitere Verlauf dieser Jagd sie beide führen würde. Das kopflos fliehende Männchen würde schon sehr bald einen Teil des Dschungels erreichen, der zu einem großen Teil überschwemmt und dessen Boden morastig, instabil und überaus tückisch war. Darüber hinaus beherbergte dieses Sumpfgebiet einige recht unfreundliche Kreaturen, auf deren Speiseplan auch Zweibeiner ihren Platz hatten. Wenn die Amazone also noch irgendwas von ihrer Beute mit nach Hause nehmen wollte, würde sie sich sputen müssen. Ohne noch länger zu zögern, folgte sie deshalb dem Flüchtenden weiter.

      Noch nicht mal hundert Meter war sie seiner Spur gefolgt, als seine verzweifelt klingenden Hilferufe an ihr Ohr drangen. Trotz des zunehmend feuchter und schlammiger werdenden Untergrunds beschleunigte sie ihre Schritte, die sie dennoch geschickt und mit viel Bedacht setzte. Einen Fehltritt wollte sie natürlich vermeiden, denn sollte sie im Morast stecken bleiben, würden Jägerin und Gejagter nur noch im Duett um Hilfe schreien können.

      Dank ihrer Erfahrung erreichte sie jedoch ohne Zwischenfälle das ausgedehnte Sumpfloch, welches schon fast einem kleinen See glich und in dessen trübem Wasser der blonde Bursche hilflos herumpaddelte. Der irrigen Annahme folgend, sie durchschwimmen zu können, war der Idiot einfach in die schmutzig braune Brühe gesprungen. Nun steckte er wahrscheinlich in dem schlammigen Boden fest, der sich unter der Wasseroberfläche verbarg. Selbige reichte ihm bereits bis zur Unterlippe.

      »Na du Individuum?«, rief Tissha ihm hämisch grinsend zu. »Wie lebt es sich denn so frei und selbstbestimmt?«

      »Bitte hilf mir!«, jammerte ihre Beute, anstatt auf ihre Frage zu antworten. »Meine Füße stecken im Schlamm fest und ich weiß nicht, wie lange ich meinen Kopf noch über Wasser halten kann!«

      Die Amazone stieß einen schweren Seufzer aus. »Siehst du, Männeken, das ist der Grund, warum wir euch nicht frei herumlaufen lassen. Es ist noch nicht mal einen halben Tag her, dass du aus deinem Käfig geflohen bist und schon steckst du in einer aussichtslosen Lage. Ihr Männer seid einfach zu blöd – zu blöd sogar, um durch einen Wald zu rennen.«

      »Bitte!«, flehte der Blondschopf erneut. Obwohl er versuchte, sich mit Schwimmbewegungen über Wasser zu halten, drang immer wieder etwas davon in seinen Mund. Seine Worte wurden deshalb immer wieder von Husten und Spucken unterbrochen. »Wenn du mir hilfst, werde ich mit dir zurückgehen, ohne Widerstand zu leisten.«

      Tissha dachte über sein Angebot nach. Die Versuchung in ihr, ihn einfach absaufen zu lassen, war angesichts seiner unverschämten Taten natürlich groß. Andererseits wollte sie nur ungern mit leeren Händen vor ihre Mutter treten und ein lebendiger Mann war wesentlich leichter aus einem Sumpfloch zu bergen als eine Leiche. Zudem würde sie ein lebendiges Haustier nicht schleppen müssen. Was sie mit dem impertinenten Knaben anstellen würde, wenn sie erst mal wieder zu Hause waren, diese Frage ließ sie für den Moment offen.

      »Also gut«, entschied sie deshalb. »Ich hol dich da raus, obwohl du es nicht verdient hast. Solltest du diesen Akt der Barmherzigkeit nicht zu schätzen wissen, werde ich die Bäume ringsum mit deinen Innereien schmücken.«

      Mit kleinen, vorsichtigen Schritten arbeitete sich Tissha an das Sumpfloch heran. Dieses war begrenzt von einem etwa drei Meter breiten Streifen aus zähem Schlamm, der unter ihren Füßen sofort nachgab. Sie trat deshalb wieder zurück und schätzte die Entfernung zu dem im Wasser planschenden Burschen sorgsam ab. Dessen Sprung hatte ihn über den Schlammstreifen hinweg noch ungefähr zwei Meter weiter ins Wasser befördert. Die Amazone nahm dies mit einer gewissen Achtung zur Kenntnis. Die Leistungsfähigkeit seiner Beine überstieg die seines Gehirns scheinbar erheblich.

      Dies gereichte ihm allerdings nun zum Nachteil, denn ohne Hilfsmittel würde ihn Tissha nicht aus seiner Notlage befreien können. Sie sah sich nach einem geeigneten Gegenstand um, fand jedoch nur einen dicken, etwa zweieinhalb Meter langen Ast. Wenn sie ihn damit aus dem Wasser ziehen wollte, würde sie den Rest der Distanz mittels Körpereinsatz überwinden müssen.

      »Ich fasse es nicht«, knurrte sie leise, während sie ihre Waffen ablegte. Dann ließ sie sich bäuchlings in den Matsch nieder, um ihr Gewicht darauf möglichst gleichmäßig zu verteilen. »Alles nur wegen einem dämlichen, ungehorsamen Haustier.«

      Den Ast in ihrer Linken haltend und begleitet von einem schmatzenden, schlürfenden Geräusch schob sie sich langsam vorwärts, dem Wasser entgegen. Ein Versinken in der breiigen Masse verhinderte sie so, doch als sehr angenehm empfand sie diese Art der Fortbewegung nicht. Der nasse, kühle Schlamm heftete sich an ihre Haut und drang in den Ausschnitt ihres Mieders. Dann schob er sich zwischen ihre Brüste, wo er als dicker, feuchter Klumpen hängen blieb. Diese Methode der Brustvergrößerung sagte Tissha überhaupt nicht zu, zumal sie so etwas ganz und gar nicht nötig hatte.

      Kurz bevor sie das Wasser erreichte, hielt sie erschrocken inne. Ein paar Luftblasen waren einige Meter hinter dem blonden Burschen aufgestiegen. Die Amazone glaubte, dort auch eine Bewegung unter der Wasseroberfläche gesehen zu haben. Soweit es ihr möglich war, richtete sie ihren Oberkörper auf, um besser und weiter sehen zu können. Ein großer Schatten, der nahe der Oberfläche durch das Wasser glitt, bestätigte ihren Verdacht: Eine unangenehme und höchstwahrscheinlich hungrige Überraschung näherte sich von dort. Das kurz darauf auftauchende, gelbgrüne Paar Reptilienaugen überzeugte sie vollends von der Notwendigkeit, sich von dem Männchen verabschieden zu müssen. Da sie unbewaffnet und nicht sicher war, ob ein so mageres Kerlchen einem Krokodil als Hauptspeise genügen würde, trat sie den Rückzug an.

      »Ist wohl nicht dein Tag heute!«, rief sie derweil dem ahnungslosen Blondschopf zu.

      Dieser sah sie nur verständnislos und aufgrund ihres Rückzugs äußerst beunruhigt an. Von der eigentlichen Gefahr hatte er noch gar nichts mitbekommen. Tissha ersparte es sich, ihn über diese zu informieren. In wenigen Augenblicken würde er ohnehin darüber Bescheid wissen. Sie konzentrierte ihre Bemühungen lieber darauf, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, was ihr auch recht schnell gelang.

      Während sie sich abseits des Schlammes wieder erhob und ihre Waffen anlegte, fiel jeglicher Schmutz von ihr ab wie welkes Laub von einem Baum. Die ganz speziellen Naturgesetze ihrer Rasse sorgten dafür, dass sie innerhalb von Sekunden wieder so aussah, als wäre sie soeben einem duftenden Schaumbad entstiegen. Wieder einmal verspürte Tissha in sich diese tiefe Dankbarkeit dafür, dass sie als Amazone auf die Welt gekommen war.

      Ein lauter, doch sehr kurzer Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Sumpfloch. Dort,