Thomas Niggenaber

Barbaren am Rande des Nervenzusammenbruchs


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Er sah zu der Hütte hinüber, in der Grahlum der Greise lebte und zum ersten Mal in seinem Leben stieß er einen lauten, verzweifelten Hilferuf aus. »Druideeeeeee!«

      3

      Mit einem leisen Sirren löste sich der Pfeil von der nach vorne schnellenden Bogensehne, bevor er sich seinen Weg durch den Dschungel bahnte. Er schoss zwischen hohen Farngewächsen hindurch, drang durch wild wuchernde Sträucher und durchschlug das große Blatt eines Philodendrons.

      Sein Ziel jedoch verfehlte er. Stattdessen traf er den Stamm eines gewaltigen Baumriesens, in dem er fast bis zur Hälfte verschwand. Dann blieb er kurz vibrierend dort stecken.

      Tissha – die Tochter von Khelea, Herrscherin der Amazonen – fluchte. Sie fluchte wesentlich lauter und derber, als es sich für eine Prinzessin geziemte. Glücklicherweise war niemand zugegen, dem ihre deftigen Kraftausdrücke die Schamesröte ins Gesicht hätten treiben können. Auch die Gestalt, welche sie nur schemenhaft durch das Dickicht hatte huschen sehen, war längst schon wieder verschwunden. Das plötzliche Auftauchen dieses Schattens hatte sie zu dem Schuss verleitet, den sie daraufhin reflexartig, voreilig und mit mangelnder Sorgfalt abgegeben hatte.

      Sein Misslingen war jedoch nicht der Grund für ihren Ärger. Sie ärgerte sich über ihr törichtes, unbesonnenes Handeln, das einer erfahrenen Kriegerin wie ihr ganz sicher nicht zur Ehre gereichte. Der Pfeil hätte ihre Beute schwer verletzen oder sogar töten können und das entsprach nicht ihren Absichten. Ihre Intention war es, das entlaufene Haustier möglichst wohlbehalten und weitestgehend unversehrt nach Hause zurückzubringen. Immerhin gehörte es ihrer Mutter und die wäre bestimmt nicht erfreut darüber, wenn Tissha ihrem kleinen Liebling eine ernsthafte Verletzung zufügen würde. Eine solche Fehlleistung würde ihrem Ansehen und ihrem Ruf als Jägerin vielleicht sogar nachhaltigen Schaden zufügen können.

      Sie atmete die schwere, feuchte Luft des Urwalds tief ein und spülte ihren Ärger damit hinunter, während sie sich selbst zur Ruhe gemahnte. Es gab keinen Grund zur Eile. Ihre Beute konnte ihr nicht entkommen – nicht hier, nicht in diesem dicht bewachsenen, schwer zu durchdringenden Labyrinth. Nicht mal ein Wesen mit der Geschmeidigkeit einer Schlange und der Gewitztheit einer Maus hätte sich hier fortbewegen können, ohne eine deutlich sichtbare Spur zu hinterlassen. Wie hätte dies also eine Kreatur vollbringen sollen, die so plump, grobschlächtig und zudem recht einfältig war wie jene, die sie verfolgte?

      Zügig, doch sorgsam die Umgebung im Auge behaltend, setzte Tissha deshalb die Verfolgung fort. Zerbrochene Äste, geknickte Blätter und zertretenes Moos wiesen ihr dabei den Weg durch den Dschungel, in den aufgrund des dichten, hoch über ihr wuchernden Blätterdachs nur wenig Licht drang. Dieses Zwielicht beeinträchtigte die Amazone in ihrem Bestreben jedoch wenig. Sie hatte schon unter weitaus widrigeren Umständen gejagt und vermochte es sogar in dunkelster Nacht, einer Spur zu folgen. Dagegen war diese Jagd das reinste Kinderspiel. Mitunter hatte ihre Beute einen so komfortablen Pfad durch das Dickicht gepflügt, dass sie diesem mühelos und schnellen Schrittes folgen konnte, was sie natürlich auch tat.

      Einige Zeit später fand dieses rasche Fortkommen jedoch ein jähes Ende. Noch immer konnte Tissha die Fährte eindeutig erkennen, doch nun führte sie durch eng verwachsenes Gestrüpp und über das oberirdisch wachsende, gewaltige Wurzelwerk der riesenhaften Bäume hinweg. Sie schulterte deshalb ihren Bogen, zog den Krummsäbel aus ihrem Gürtel und nahm den anstrengenden Teil der Verfolgung auf.

      Sie schlug sich durch verworrenes, oftmals dorniges Geäst, erklomm meterhohe, moosbewachsene Wurzeln und ließ sich an seildicken Kletterpflanzen wieder herab. Sie sprang, kletterte, kroch und lief über viele Kilometer hinweg, ohne ein Anzeichen der Erschöpfung zu zeigen.

      Selbst ihre Kleidung aus braunem, gehärtetem Leder geriet aufgrund dieser körperlichen Aktivitäten nicht aus der Form. Weder die hohen Stiefel noch der kurze Rock verloren ihren perfekten Sitz. Sogar das äußerst knappe Mieder, das ihre üppigen, wohlgeratenen Formen nur mit Mühe und Not zu bändigen schien, verrutschte um keinen Millimeter.

      Das Dasein als Amazone hatte halt so seine Vorteile. Wie für alle Angehörigen ihres Volkes galten nämlich für Tissha ganz eigene physikalische Gesetze. Aus diesem Grund saß ihre Garderobe immer einwandfrei und die Schminke in ihrem makellosen Gesicht wurde niemals von Schweiß oder anderen Einflüssen verunstaltet. Auch ihr volles, blauschwarz schimmerndes Haar sah deshalb immer so aus, als hätte sie es gerade eben erst gekämmt – außer natürlich der Wind zerzauste es ihr in einer Art und Weise, die sie romantisch wild und überaus gut aussehen ließ.

      Im Dschungel war es jedoch windstill, weshalb Tissha bald auch tadellos frisiert eine kleine Lichtung erreichte. Auf deren gegenüberliegenden Seite erspähte sie endlich das entlaufene Haustier. Erstaunlicherweise stand selbiges seelenruhig und mit dem Rücken zu ihr da, während es seine Notdurft in einen weiß blühenden Holunderbusch verrichtete. Von dieser Tätigkeit gänzlich vereinnahmt, hatte es die Ankunft der Amazone überhaupt nicht bemerkt.

      Tissha grinste und schüttelte den Kopf – auf die Idee, während einer Flucht eine Pinkelpause einzulegen, konnte auch nur ein Mann kommen. Während sie einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens legte, näherte sie sich ihrer Beute behutsam. Noch einmal würde ihr dieser Kerl nicht entkommen. Ein wohlgezielter Schuss ins Bein sollte dies notfalls verhindern und stellte ja auch keine nennenswerte Beschädigung dar.

      »Hab dich!«, rief sie, als sie sich ihrem Ziel bis auf wenige Meter genähert hatte. Der Schreck ließ den blonden, hageren Burschen heftig zusammenzucken und seine bislang sprudelnde Quelle schlagartig versiegen.

      »Pack dein Gehänge ein, wir gehen heim.«

      Hektisch verstaute der Mann seine Preziosen wieder in seinem Lendenschurz. Dann wendete er sich mit erhobenen Händen der Amazone zu. Bestürzt stellte diese fest, wie sehr ihm die Flucht durch den Dschungel geschadet hatte. Neben unzähligen kleinen Verletzungen und Abschürfungen, die seinen verschwitzten, ausgemergelten Körper zierten, war es natürlich der viele Schmutz, der das ausgeprägt ästhetische Empfinden der Amazone störte.

      »Nun sieh dich doch nur mal an«, sagte sie weiterhin auf ihre Beute zielend. »Meine Mutter wird stinksauer sein, wenn ich dich so zurückbringe. Deine Tage als ihr Lieblingsgespiele sind wohl vorüber. Den Rest deines Lebens wirst du wahrscheinlich mit dem Verrichten niederer Arbeiten verbringen müssen. Für einen Mann ist das immer noch mehr als angemessen, wenn du mich fragst.«

      Tisshas Worte schienen ihr Gegenüber gar nicht zu erreichen. Resigniert und mit leerem Blick starrte der dürre Knabe, der vielleicht gerade mal zwanzig Jahreswechsel erlebt hatte, sie an. Offensichtlich wurde ihm die Sinnlosigkeit seines Handelns nun bewusst und er erkannte, dass es für ihn kein Entkommen gab.

      »Ist mir egal«, stellte er mit kraftloser Stimme fest. »Töte mich einfach, wenn du willst, denn zurückgehen werde ich auf gar keinen Fall. Ich möchte lieber tot als weiterhin ein Sklave sein.«

      Etwas verblüfft musterte die Amazone das Häufchen Elend. Dessen Erschöpfung beeinträchtigte ganz offensichtlich auch sein Denkvermögen.

      »Nun übertreib mal nicht«, bat sie, ihrer Stimme eine gewisse Sanftmut verleihend. »Warum solltest du sterben wollen? Euch geht es doch gut bei uns! Eure Käfige sind sauber und geräumig, ihr bekommt ausreichend Nahrung und gezüchtigt werdet ihr auch nur, wenn ihr es verdient habt. Vor dir ist deshalb auch noch nie eines unserer Haustiere auf die dumme Idee gekommen, solch ein behütetes Leben gegen die Gefahren und Mühseligkeiten der Freiheit tauschen zu wollen.«

      »Ich bin ja auch kein Haustier!« Der Tonfall ihrer Beute wurde forscher, fast schon aufmüpfig, was Tissha überhaupt nicht gefiel. Scheinbar mit neuer Kraft erfüllt richtete sich der Bursche auf. »Ich bin ein freier Mann! Ich besitze einen eigenen Willen und habe als Individuum das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen! Habe ich denn keinen Anspruch auf eigene Wünsche, Träume und Ziele im Leben? Soll es mir denn auf ewig verwehrt bleiben, mich selbst zu verwirklichen?« Er drückte seinen eingefallenen Brustkorb nach vorn, so als würde er ihn Tissha anbieten wollen. »Also los, Amazone, jage deinen Pfeil in mich! Dann sterbe ich zumindest als freies Wesen und für meine Überzeugung. Du jedoch wirst damit weiterleben müssen, dass du einer aufgeklärten, emanzipierten Existenz