Tobias Fischer

Veyron Swift und das Juwel des Feuers


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schon genau, wer.

      »Das ist deine Schuld, Harry! Du hast mich miserabel vorbereitet. Das war scheiße, absolute Scheiße«, zischte sie ihn an, obwohl sie am liebsten gebrüllt hätte. Immerhin besaß sie noch genug Selbstbeherrschung, um nicht in die Luft zu gehen. Am liebsten wollte sie diesen Idioten schlagen. Die armselige, zusammengekrümmte Figur, die er jetzt gerade machte, bekräftigte sie in diesem Wunsch nur noch.

      »E-e-e-es tut mir leid«, stotterte er hilflos. »Aber nach allen Informationen, die über Nagamoto verfügbaren waren, schien dies die wirkungsvollste Strategie zu sein. Optische Ablenkung plus knallharte Fakten. Aber ich hatte dich gewarnt: Er ist ein harter Brocken. Ich hatte dir gesagt, dass wir heute nicht viel ausrichten werden.«

      Jessica funkelte ihn an und schoss aus dem Sessel. Dabei nahm sie ihre Handtasche, warf sie sich über die Schulter und stolzierte auf ihren hochhackigen Stiefeln zum Ausgang. Harry packte das Notebook zusammen, steckte alles feinsäuberlich in den Aktenkoffer und schlich ihr hinterher.

      Sie atmete einmal tief durch und drehte sich zu ihm um. »Okay, vergiss Nagamoto. Er ist nur ein Vorstandsmitglied. Was ist mit den anderen Energreen-Managern? Was sind das für Typen?«, fragte sie, von neuer Entschlossenheit erfüllt.

      Harry schob sich die Brille höher auf die Nase. »Hauptsächlich ältere Männer, meist verheiratet. Sie wurden nach ihren Fähigkeiten ausgesucht und sind schon lange mit dem Unternehmen verbunden. Kein einziger internationaler Spitzenmanager ist darunter. Der Aufsichtsrat sucht all seine Manager nach strengen Kriterien sehr sorgfältig aus. Da haben schon einige wirklich erfolgreiche Leute versucht unterzukommen, doch selbst Bestnoten konnten die Anteilseigner nicht beeindrucken. Eine richtig eingeschworene, kleine Gemeinde, unmöglich, von außen reinzukommen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, diese Herausforderung anzunehmen, Jessica. Diesmal wirst du dir die Zähne ausbeißen. Ich fürchte sogar, dass sich das Ganze als Stolperstein erweisen wird. Mishkin hat dich aufs Kreuz gelegt. Soweit ich weiß, war es hauptsächlich die Idee diesen alten Tyrannen, bei Energreen einzusteigen. Du wirst Mishkin zu gefährlich, jetzt will er dich scheitern sehen. Du weißt ja, gleich nach ihm kommt die Vorstandsetage.«

      Jessica funkelte ihren Assistenten wütend an. Nur selten hatte Harry je seine Meinung vertreten. Sie fühlte sich schwach, weil er es ausgerechnet jetzt tat, im Moment ihrer ersten Niederlage. Vielleicht war er doch nicht ganz so loyal und armselig, wie sie immer angenommen hatte? »Diesen Auftrag abzulehnen, wäre ganz sicher das Ende meiner Karriere gewesen, Harry. Das weißt du! Mishkin wird noch Augen machen. Der Mann mag alt sein, aber er weiß, was er will – und ich weiß es auch. Ich werde die Schwachstelle von Energreen finden. Irgendeiner dieser feinen Pinkel hat Geheimnisse, die wir aufdecken und gegen ihn verwenden können. Andere sind käuflich. Entweder durch Geld oder mit Sex. Wäre nicht das erste Mal, stimmt’s?

      Aber Schluss jetzt damit. Sehen wir zu, dass wir diesen verdammten Flug noch erwischen. Ich hoffe nur, du hast für den Notfall einen zweiten Flug gebucht, sonst bist du gefeuert«, giftete sie.

      Harry blickte beschämt zu Boden. Er hörte seine Chefin nicht gerne so reden, doch wenn sie wütend war, nahm Jessica kein Blatt vor den Mund. Sie konnte schrecklich vulgär und grausam sein. Harry musste diese Stimmungen hilflos ausbaden. Er brachte ein schüchternes Lächeln zustande. »Ja, sicher, klar. Du bist der Boss«, stammelte er.

      Von diesen unterwürfigen Worten zufriedengestellt, wirbelte Jessica herum, verließ den Konferenzraum und Harry folgte ihr, brav wie immer. Draußen im Vorzimmer ließ sie im Vorbeigehen Nagamotos Sekretärin, Mrs. Watson, wissen, dass sie sich wieder bei ihr melden würden. Sie schnippte mit den Fingern, und Harry zückte eine Visitenkarte, die er der Sekretärin behutsam auf den Schreibtisch legte.

      Mein Gott, dachte Jessica kurz davor, die Augen zu verdrehen, er ist doch so ein erbärmlicher Wicht.

      Tom Packard konnte es einfach nicht fassen. Da kam er einmal im Leben nach New York, in diese fantastische Stadt, und es schüttete aus vollen Eimern. Wenigstens habe ich neue Klamotten, dachte er, als er die Kapuze seiner neuen, obercoolen Jacke über den Kopf zog. Er folgte Veyron zum nächsten Taxi. Während des Fluges hatten die beiden nicht viel miteinander gesprochen. Veyron war damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Nachrichten zu lesen oder sich Notizen auf seinem Smartphone zu machen. Tom hatte die vielen Stunden Flug dagegen mit Videospielen totgeschlagen. Kaum waren sie gelandet, hatten sie sich über die Shops des Flughafens hergemacht, sich Ersatzkleidung, Waschzeug und ein paar Snacks besorgt. Veyron war in Spendierlaune gewesen. Tom hatte sich mehr oder weniger komplett neu einkleiden können – und zwar mit lauter teurem Zeug. Die Zeit bei meinem Patenonkel wird noch richtig großartig, wenn das so weitergeht, dachte er fröhlich. Veyron ist vielleicht ein Spinner, aber sein Geldbeutel sitzt echt locker.

      Tom wollte am liebsten alles besichtigen, den Central Park, danach auf das Empire State Building, zur Brooklyn Bridge und zum Times Square. Veyron war jedoch zu seinem Leidwesen an keiner Sightseeingtour quer durch die Stadt interessiert. Er erläuterte Tom immer wieder die Notwendigkeit zur Disziplin. Nur so ließe sich höchste Effizienz erreichen. Sie waren schließlich nicht zum Vergnügen hierhergekommen, auf sie wartete Arbeit. Im Nu hatte Veyron die Adresse der Energreen Corporation ausfindig gemacht und rief ein Taxi.

      Energreen erwies sich jedoch als Fehlschlag. Zuerst ließ man sie über eine halbe Stunde im Foyer warten, dann kam die Nachricht, das Mr. Nagamoto bedauerlicherweise heute niemanden mehr empfangen wurde. Auch der Dringlichkeitshinweis brachte sie nicht weiter. Veyron führte deshalb eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem Sicherheitschef der Firmenzentrale. Der Mann ließ sich jedoch von keinem Argument beeindrucken und bestand darauf, dass sie nur mit einer schriftlichen Einladung hinauf in die Vorstandsetage durften. Dann komplimentierte er die beiden zum Ausgang. Veyron tat Tom fast ein bisschen leid. Natürlich konnten sie dem Sicherheitsmann nicht verraten, dass Nagamoto in großer Gefahr schwebte. Der Kerl hätte sie ansonsten als Verrückte oder potenzielle Attentäter gleich wieder hinausgeworfen.

      »Da sieht man mal wieder, wie viele bornierte Idioten es auf Erden gibt. In der Tat: 99 % der Menschheit zählt zu diesem Schlag, einige mehr, einige weniger. Es ist überhaupt ein Wunder, dass wir das Mittelalter je hinter uns lassen konnten. Hast du dir diesen Wachmann angesehen, Tom? Ein fetter, schlampiger Typ. Hat die ganze Zeit nicht ein einziges Mal auf die Eingangstür gesehen. Seinen Hosenreißverschluss hat er nach dem letzten Toilettengang nicht mehr verschlossen, seine Schuhe waren abgetragen und ausgelatscht, sein Hemd nicht gebügelt. Auf dem Tisch lagen drei halb aufgegessene Pizzabrötchen. Diesen Typ interessiert nur das Fressen – und das trotz seines schlechten Magens. Darum muss er auch so oft auf die Toilette – dreimal während unseres Aufenthalts. Eine Nebenwirkung der Tabletten, die er schlucken muss. Energreen wird eines Tages wirkliche Probleme bekommen, wenn dieser Mann dort noch länger Wache schiebt«, schimpfte Veyron auf dem Weg nach draußen.

      Tom war verblüfft, was Veyron während seiner Auseinandersetzung mit dem Sicherheitschef alles aufgefallen war und sagte ihm das auch. »Diesen Trick müssen Sie mir unbedingt mal beibringen. Damit könnte ich in der Schule echt groß angeben«, meinte er.

      Veyron lächelte selbstgefällig. »In diesem Fall war es lediglich genaue Beobachtung. Ich bin sicher, meine Analyse würde noch weitaus detaillierter und präziser ausfallen, wenn ich seine Zeugnisse in die Finger bekäme und ihn einmal zu Hause besuchen dürfte. Aber diese ekelhaften Pizzabrötchen waren unübersehbar, und die Tabletten lagen in seiner Schreibtischschublade. Ich konnte sie sehen, als er sie kurz öffnete. Mir ist außerdem noch etwas Weiteres aufgefallen: Nagamoto ist nicht mehr im Haus.«

      Jetzt war Tom noch um ein paar Grad verblüffter. »Woher wollen Sie das wissen? Dieser Kerl hat Nagamoto doch mit keinem Wort erwähnt.«

      »Stimmt. Aber während man uns klarzumachen versuchte, dass wir keinesfalls ohne schriftliche Einladung bis zu Nagamoto vorgelassen würden, habe ich mit einem Ohr alle anderen Gespräche in der Lobby mitgehört. Interessant war nur das eine am hinteren Lift, der, für den man einen Schlüssel braucht. Der Liftboy hat mit einer Sekretärin gesprochen. Sie ließ ihn wissen, dass der Boss schon losgezogen sei. Mit ›der Boss‹ kann nur Nagamoto gemeint sein. Deswegen sind wir auch gegangen, anstatt uns noch länger mit Mr.