Angela Zimmermann

Erlös mich, wenn du kannst


Скачать книгу

      Mit 14 Jahren änderte sich die Lage. Ich hatte in der Nacht eine Vision von einem Busunglück, wobei viele Kinder in Gefahr waren. So ging ich an diesem Morgen nicht in die Schule, sondern zu meiner Therapeutin. Ich hatte zu viel Angst um die Kinder und wollte unbedingt, dass ihnen jemand hilft.

      Sie nahm sich Zeit für mich, aber sie schenkte mir auch diesmal keinen Glauben. Sie gab mir etwas zur Beruhigung und forderte mich auf, sofort wieder nach Hause zu gehen. Dort kam ich gerade noch bis zu meinem Bett, fiel ohne mir die Sachen auszuziehen hinein und schlief im selben Moment tief ein. Es war ein richtig gutes Gefühl, alles einfach hinter mir zu lassen. Ich vergaß sogar die Kinder, die sich in großer Gefahr befanden.

      Stunden später schüttelte mich meine Mutter unsanft wach. Total verschlafen wusste ich erst gar nicht, wo ich bin. Sie zerrte mich, egal ob ich über meine eigenen Füße stolpere, hinunter in das Wohnzimmer. Dort saß die Therapeutin und ich war augenblicklich putzmunter. Mit Tränen in den Augen erzählte sie mir, dass vor drei Stunden ein Bus, voll besetzt mit Kindern zwischen acht und zehn Jahren, einen Unfall hatte. Zwei Kinder sind dabei gestorben. Sie verlangte von mir, dass ich genau erzähle, was ich in der Vision gesehen habe. Mit etwas Unmut tat ich was sie von mir verlangte und es stellte sich heraus, dass das, was ich in den Bildern wahrgenommen habe, wirklich so passiert ist. Bei einzelnen Details zuckte sie zusammen, weil sie kaum zu ertragen waren. Ich habe es aber so gesehen. Und ich hoffte, dass sie es endlich einsahen und mich verstanden, was ich jedes Mal durchlebte.

      Die Therapeutin sprach offen mit mir und sagte, dass sie mit dieser Situation nicht umgehen könnte. Sie unterbreitete mir einen Vorschlag, mit dem ich mich zunächst anfreunden musste. Sie kannte eine Frau, die über solche Dinge anders denkt und mir wahrscheinlich helfen konnte. Alles sträubte sich in mir und ich war zuerst dagegen, noch jemanden einzuweihen, aber es war der richtige Weg. Es war ab da mein Weg, den ich auch notfalls allein gehen wollte. Meine Mutter war wie von mir erwartet skeptisch, weil sie nicht hören wollte, was die Leute am Ende über uns tuscheln. Mir war das egal, ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte entschieden, mit dieser Frau zu reden und ich ließ mich nicht davon abhalten. Hier ging es schließlich allein um mich, um mein Leben und nicht das meiner Eltern. Ich wollte nicht mehr für irre oder gestört gehalten werden.

      Amara war eine Frau Mitte vierzig. Rotes, leuchtendes Haar fiel ihr leicht über die Schultern und ein paar Sommersprossen zierten ihre feinen Gesichtszüge. Schon bei der ersten Begegnung mit ihr, spürte ich, wie sich alle Anspannungen in mir lösten und sich ein sanftes Band zwischen uns spannte, was mir die Sicherheit gab, ihr vollkommen vertrauen zu können. So eine Erfahrung hatte ich noch nie gemacht, nicht einmal bei meinen Eltern.

      Als ich das erste Mal bei ihr war, begriff ich sofort, dass sie anders war, ja ganz anders, als all die Menschen, Ärzte und Therapeuten, die ich kennengelernt habe und die mit meiner Situation betraut waren. Ihr Haus sah von außen wie jedes normale aus, aber sowie ich über die Schwelle trat, kam ich in eine komplett andere Welt.

      Es war von Wärme und seichtem Kerzenlicht erfüllt und in ihrem Arbeitszimmer gab es so viele Dinge, die auf eine oder gar mehrere Gaben hinwiesen. Ich sah mich um und entdeckte die verschiedensten Sachen. Tarotkarten, verschiedene Pendel, eine Glaskugel, Astrologiekarten und Bilder aller Mondphasen. Viele Leute haben mir gegenüber mit vorgehaltener Hand erwähnt, dass sie eine Hexe wäre, aber ich wusste es sofort besser. Das hat nichts mit Hexerei zu tun, sondern eher mit einem freien Geist, der für alles offen ist. Dass sie sehr spirituell ist, kann ich nicht leugnen, aber ich habe sie als Beraterin in meinem durcheinander gekommenen Leben gelassen.

      Sie hörte mir zu und verstand alle meine Probleme. Wir erarbeiteten zusammen einen Plan, wie ich mit den Visionen, was sie mir als meine ganz persönliche Gabe erklärte, umgehen muss. Dass ich mit dieser Gabe selbst spirituell bin, brachte mich schließlich zum Lächeln.

      So sollte ich sie immer informieren, wenn ich eine Vision hatte, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Gemeinsam versuchten wir dann, die Unfälle zu verhindern, zumindest deren Ablauf zu beeinflussen war unser Ziel. Letztendlich lernte ich so viel, dass mein Leben dadurch immer besser wurde. Der Nachteil war jedoch, je mehr Menschen wir geholfen haben, umso intensiver schlugen die Visionen ein und die Anzahl der Leute, die davon wussten, stieg unaufhörlich an.

      Zum Beispiel habe ich in einem Kindergarten die Kleinen beschützt, die sonst von einem Klettergerüst gefallen wären, wie auch einen Familienvater, der übermüdet ins Auto steigen wollte.

      Am Anfang war es schwierig, die Feuerwehr und Polizei einzuweihen und zum Einsatz zu bewegen. Aber die Feuerwehrleute wunderten sich mit der Zeit immer weniger darüber, dass ich anrief und sie irgendwohin schickte, obwohl sie gar keinen Alarm bekommen hatten. Ich war stolz auf mich selbst und den Menschen zu helfen, erfüllte endlich den Sinn meines Lebens. Ich wurde immer bekannter und viele schauten mich nicht mehr skeptisch und als Sonderling an, sondern waren sehr oft nur noch dankbar. Dass ich mit Amara zusammenarbeitete, störte plötzlich niemanden mehr. Auch ihr Ansehen ist seitdem gestiegen, was sie natürlich ebenso genoss.

      Meine Eltern bewunderten mich ebenfalls, konnten mir aber nicht sagen, warum ich diese Gabe habe und woher sie gekommen ist. In ihrer Familie ist so etwas jedenfalls noch nie passiert.

      Ich forschte auch nicht weiter nach und war froh darüber, dass meine Eltern ab jetzt immer hinter mir standen. Sie werden wahrscheinlich nie richtig begreifen, was ich da tu, aber ihre Liebe zu mir ist ungebrochen und der Stolz auf das, was ich bewirken konnte, überwog.

      Also lebte ich mit diesen Visionen, beendete die Schule und aus der Liebe zu Gold und Schmuck wurde mein Beruf. So wurde ich Schmuckdesignerin. Vor fünf Jahren lernte ich dann Manuel kennen und lieben. Kurz nach unserer Hochzeit und der Zeit, in der wir angefangen haben die Zukunft zu planen, kam dieser Traum in mein Leben. Die Visionen wurden immer weniger und die letzten Jahre hatte ich gar keine mehr, der Traum von diesem Haus jedoch wurde umso intensiver. Er war so lebendig und ich streifte in ihm durch den Garten und dem Gebäude, als würde ich es schon ewig kennen und darin wohnen. Ich machte es praktisch zu meinen, ohne zu wissen, ob es das Haus überhaupt gibt.

      Nun habe ich die erste Nacht hier verbracht und hoffe, dass die Visionen nicht wieder zunehmen. Sollte es so kommen, habe ich eine noch schwerere Aufgabe, nämlich den Leuten hier beizubringen, was mit mir los ist. Ich bin die fremde und neu Zugezogene und die Aufklärung über meine Gabe stelle ich mir als sehr schwierig vor. Ich kann aber nur abwarten, was auf mich zukommt, denn verhindern werde ich es nicht können.

      Nur ein Gedanke kommt mir noch. Was würde Amara dazu sagen, dass wir jetzt hier wohnen? Ich habe über drei Jahre nur wenig mit ihr gesprochen und wenn, dann auch nur telefonisch. Also sollte ich sie anrufen, denn sie ist eine sehr gute Freundin für mich geworden. Warum der Kontakt fast abgebrochen ist, weiß ich nicht so recht. Anscheinend lag es daran, dass ich mein Leben mit Manuel gefunden habe sowie keine Visionen mehr hatte. Aber wie ich erfahren sollte, hat sie stets über mich Bescheid gewusst und meine Wege unsichtbar verfolgt. Ich brauchte mir also deswegen keine Vorwürfe zu machen.

      Jetzt schiebe ich all diese Gedanken erst einmal beiseite, schwenke meine Beine endlich aus dem Bett und stehe auf. Nur mit dem Morgenmantel bekleidet gehe ich in die Küche hinunter und bleibe erstaunt in der Tür stehen. Der Tisch ist schon gedeckt und es liegt der Duft von frischem Kaffee in der Luft. Aber wo ist Manuel? Ich schaue ins Wohnzimmer und da kommt er gerade zur Terrassentür herein. Mit einem bunten Strauß von Wiesenblumen schwebt er an mir vorbei. Lächelnd sehe ich ihm nach und weiß, dass nur diese Blumen unseren Garten hinterm Haus schmücken, etwas anderes hat momentan noch keine Chance zu blühen. Aber so schlecht sind sie gar nicht, ganz im Gegenteil, so ein wilder Garten hat auch was für sich. Kurz darauf stellt er sie, in einer passenden Vase, auf den Frühstückstisch und es ist wirklich ein schöner Anblick. Ich setze mich aber noch nicht, sondern suche nach meinem Handy. Ich finde es auf dem Couchtisch und wähle sofort die Nummer von Amara.

      „Hallo, Stella, alles in Ordnung?“, fragt sie so schnell, dass einen schwindelig werden kann.

      „Hallo, Amara. Es ist alles Okay. Ich wollte dir nur sagen, dass wir jetzt in unserem neuen Haus wohnen“, sage ich und lächele Manuel verlegen an, der neben mir steht und aufmunternd